I. Kowalczuk (Hrsg.): (Ost)Deutschlands Weg

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Titel
(Ost)Deutschlands Weg. 45 Studien & Essays zur Lage des Landes (Teil I: 1989 bis heute & Teil II: Gegenwart und Zukunft)


Herausgeber
Kowalczuk, Ilko-Sascha; Kulick, Holger; Ebert, Frank
Anzahl Seiten
1.344 S.
Preis
€ 7,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Lorke, LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte, Münster

„Weniger schubladisieren“ – so lautet die Forderung auf einem Plakat, zu sehen auf einer Fotografie, die im Rahmen einer Demonstration gegen die Gewalt von Neonazis in Chemnitz im September 2018 entstanden ist. Das Bild begegnet zu Beginn des zweiten Teils dieses umfassenden zweibändigen Werkes und spiegelt durchaus dessen Ziel: Ostdeutschland in homogener Weise zu betrachten und damit einem homogenisierenden Blick Vorschub zu leisten, wäre wenig hilfreich, so formulieren die Herausgeber in der Einleitung, da „Ostdeutsche“ keine Einheit bilden. Folglich wäre eigentlich das im Titel verschämt in Klammern stehende „Ost“ nicht mehr nötig. Dieses Zusatzes indes bedarf es offenbar – zumindest aus Sicht der Verfasser – weiterhin, was wiederum ausschlaggebender Anlass für die Veröffentlichung dieses dickleibigen Doppelbandes ist. Hintergrund der Publikation war ein ebenso ausgiebiges Kolloquium, das kurz vor dem „Lockdown“ im März 2020 neben Wissenschaftler:innen aus unterschiedlichen Disziplinen auch zahlreiche Persönlichkeiten aus Politik und Praktiker:innen aus der „Aufarbeitung“ versammelte. Forscher:innen, Zeitgenoss:innen, Intellektuelle und Journalist:innen erörterten seinerzeit (Ost-)Deutschlands Weg vom „annus mirabilis“ 1989 bis in die heutige Zeit.

Ergebnis ist eine Veröffentlichung, die „möglichst breit gefächerte Erfahrungen, Einblicke, Thesen und Denkanstöße“ (S. 22) offerieren und auf diese Weise Generationen, aber auch verschiedene Wissenschaftsdisziplinen miteinander ins Gespräch bringen möchte, denn nach wie vor bestehen sozialwissenschaftliche und zeithistorische Forschungen und Befunde eher nebeneinanderher, als dass sie wirklich von ihren Einsichten und Ergebnissen profitieren würden. Der Band möchte den historischen Entwicklungen und den unterschiedlichen Facetten des Einheitsprozesses mit großer Offenheit begegnen, dem durch die konzeptionell wie stilistisch hoch verschiedenen Aufsätze und Essays Rechnung getragen wird. So steht wissenschaftliche Forschung neben selbsterlebten Erinnerungen und teils sehr persönlichen, eher essayistischen Eindrücken, was zugleich auf die damit verbundenen Spannungen hindeutet und das Ziel der Herausgeber spiegelt: all jene Stimmen ernstzunehmen, die als „Puzzleteile für ein großes Ganzes, das doch nie gelingen wird“ (S. 24), fungieren, wodurch allenfalls eine Annäherung, Anregung zum Diskutieren und – so der hehre Anspruch – Anstoß und Ermunterung für Fragen um die Gestaltung der Zukunft erwachsen sollen. Insofern verstehen sich beide Bände weder als Kompendien noch Nachschlagewerke, sondern vielmehr als „Rundblick über ein sehr komplexes Thema“ (S. 24). Im Ergebnis resultiert daraus ein durchaus widerspruchsvolles Gesamtbild; und ein solches habe eine diverse, heterogene, ambivalente Gesellschaft eben auszuhalten. Einerseits unvollständiges Panorama und Mosaik zu sein, andererseits „Geschichte noch einmal wachrufen, Bilanz ziehen und zu neuen Aufbrüchen anregen“ (S. 24) – an dieser ambitionierten Zielsetzung ist das in Kooperation aus Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft entstandene Potpourri letztlich zu messen. Immerhin besteht es aus 80 Beiträgen von 90 Beitragenden und umfasst etwa 1.300 Seiten.

Im Auftaktbeitrag erörtert der Mitherausgeber Ilko-Sascha Kowalczuk zunächst die Auswirkungen der Transformation auf die Gesellschaft in Ostdeutschland und kontrastiert die damaligen neuen Erfahrungen, Hoffnungen und Anpassungserfordernisse mit den Folgen mangelnder Repräsentation heute. Dabei beobachtet er einen „bis heute … vergeblichen Kampf um Selbstanerkennung“ Ostdeutschlands (S. 36). „Ostdeutsch“ ist für ihn, durchaus treffend, Selbst- wie Fremdbeschreibung, „eine Herkunft, ein sozialer Ort, eine Erfahrung, für manche sogar ‚Heimat‘, jedenfalls eine Abgrenzung, „die ausgrenzt“ (S. 38) – und trotz aller Beteuerungen, dass eine Unterscheidung in Ost und West obsolet sei, werden solche Bekenntnisse in der Regel nicht von Ostdeutschen artikuliert. Mit Blick auf künftige Forschungserfordernisse wünscht sich der Autor eine Auflösung jener Konstruktion und stattdessen mehr Regionalisierung der Erfahrungsräume, eine Weitung des Blicks auf das Übernationale wie Globale, wodurch die zentrale Wegmarke 1989 relativiert werden könnte, daneben vergleichende Perspektiven und neue methodische Aufbrüche. Dass inzwischen viel stärker als zuvor die kulturellen Folgen der Vereinigung im Visier der wissenschaftlichen Auseinandersetzung stehen, bewertet er als Gewinn, und dies sei auch folgerichtig, wenngleich dadurch wiederum die unauflösbar scheinenden Diskrepanzen zwischen „harten“ Fakten und „weichen“ Deutungen berührt wird.

Große Hoffnung setzt Kowalczuk in eine neue Forscher:innengeneration, die im Band auch gleich vielfach zu Wort kommt. Deren Beiträge stehen neben solchen von ehemaligen „Aufarbeitern“ sowie Zeitzeugen, wie Gerd Poppe mit einem flammenden Plädoyer zur aus seiner Sicht nachlassenden Wertschätzung von Demokratie und Rechtstaatlichkeit, die er nicht zuletzt mit der weitgehend ausgebliebenen Aufarbeitung der NS-Verbrechen, Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit im SED-Staat begründet. Mit dem Erbe der Montagsdemonstrationen und ihrem heutigen Missbrauch (Achim Beier) oder den Erfahrungen der ersten Ausländerbeauftragten im Osten (Almuth Berger) finden sich weitere hochaktuelle Themen, während alte Bekannte der Transformationstopographie persönliche Erfahrungen schildern (Hans Modrow), diese mit bildungspolitischen Entwicklungen abgleichen (Marianne Birthler) oder aus damaligen Erlebnissen und Eindrücken Vorschläge zu Wegen aus der „Missmutsgemeinschaft Ost“ formulieren (Wolfgang Thierse).

Die Beiträge enthalten Lokales, Regionales, Nationales, aber auch Supranationales sowie Globales und gehen diesen Zusammenhängen – mal mehr, mal weniger explizit – durch die Linse „Ostdeutschland“ nach. Mehrere Aufsätze betten die DDR-Geschehnisse in Entwicklungen des „Ostblocks“ sowie internationale diplomatische Geschehnisse ein. So beispielsweise Philipp Ther, der eine solche „Ostmitteleuropäisiserung“ der Perspektive in bekannter Manier vornimmt, während auch andere Autorinnen und Autoren, deren Thesen in der Vergangenheit größere Aufmerksamkeit erfahren haben (Naika Foroutan, Steffen Mau oder Philipp Manow), diese hier in jeweils verknappter Form aktualisieren oder (selbst-)kritisch rekapitulieren. Daraus werden sodann Hoffnungen abgeleitet, wie etwa von Mau, dessen soziologische Überlegungen zu Entwertungsgefühlen, Ohnmachtserleben und Veränderungserschöpfung in einer Fürsprache für einen demokratischen Aufbruch und neue politische Beteiligungs- und Artikulationsmöglichkeiten als Abgrenzung zu einer puren „Erregungsdemokratie“ münden. Neben (reflektiert) Bewährt-Bekanntes tritt immer wieder Erfrischendes, etwa spielerisch-kontrafaktisch aus der Feder von Hélène Camarade, die die Erschließung verloren gegangener, nicht mehr erinnerter Alternativen vergegenwärtigt. Geschichte ist zwar nicht umkehrbar, doch scheint es uns geboten, so wie Hans-J. Misselwitz fordert, diese immer kritisch zu lesen, „um die Kosten bestimmter, auch nachvollziehbarer, zu einem Zeitpunkt vielleicht sogar alternativloser Entscheidungen zu erkennen“ (S. 231).

Ansonsten wird jede Leserin und jeder Leser Themenstränge und Schlaglichter finden, mit denen sie oder er Anknüpfungspunkte und Vertiefungsmöglichkeiten erhält: Parteiengeschichte, Wahlverhalten, Erinnerungskulturelles in verschiedenen Dimensionen und Generationen (bis in die Sozialen Medien hinein), mannigfache Austausch- und Transferprozesse, verschiedene Felder des „Aufbau Ost“, wie nebst anderen der Aufbau von Strukturen politisch-historischer Bildung; ferner Umwelt und Literatur, Kunst und Kultur; einiges zu Wirtschaft, Betriebsgeschichte(n), Eigentumsstrukturen, Eliten und Elitentransfers sowie Repräsentationslücken; daneben Kirche, Umbrüche in der Medienlandschaften wie im Familienleben oder auch im Profisport; neben weniger Bekanntem (Landwirtschaft, Gesundheitswesen) aber auch sehr bekannte Debattenstränge („Unrechtsstaat“, „Aufarbeitung“). Prominent vertreten sind Aspekte von Migration, Rechtsextremismus, (Rechts-)Populismus, Fremdenfeindlichkeit sowie Alltagsrassismus, wobei mehrere Beiträge dezidiert davor warnen, solche Erscheinungen allein auf Ostdeutschland zu beziehen. Dies diene allenfalls einer Entlastung des Westens, jedoch sei es angesichts der Dringlichkeit des Problems gerade hier am wenigstens angebracht, in West-/Ost-Containern zu denken. Zu diesem Komplex gehören auch die eindrücklichen Impressionen aus der vietnamesisch-deutschen Community (Angelika Nguyen). Damit werden migrantische Perspektiven auf den Mauerfall in die Geschichte inkludiert, die sich grundsätzlich von den Meistererzählungen unterscheiden und bis heute massive „blinde Flecken“ der Transformationsgeschichtsschreibung aufzeigen.

Im zweiten Teil der „vielseitigen deutsch-deutsche[n] Zeitreise“ (II, S. 12) von Mauerfall bis heute werden dann – nicht zuletzt unter dem Eindruck der Pandemie zu verstehend – noch einmal deutlich direkter Visionen eines gemeinsamen Deutschland formuliert. Hier geht es um Fragen, Folgen und Nebeneffekte des Zusammenwachsens: Reibungen, das Entstehen neuer Missverständnisse, Konflikthaftes, Bruchlinien, Verwerfungen, Akzeptanzprobleme demokratischer Institutionen und Abwertungsgefühle, Frustpotential sowie Reflexionen über deren Genese. Hilfreich sind hierbei dekonstruktivistische Überlegungen zum Mythos 1989 ebenso wie die immer aufscheinende Frage nach einer angemessenen historisch-politischen Vermittlung jener Ereignisse. Weil im zweiten, ungleich stärker sozialwissenschaftlich daherkommenden Teil noch mehr der Gegenwartsbezug und die Gestaltung eines gemeinsamen „Heute“ behandelt wird, stehen die „Nachwendekinder“, Fragen um Identität, Identitätskrisen und Heimat sowie abweichende Deutungen durch unterschiedliche Generationen (und ihr Kommunizieren) ebenso im Mittelpunkt wie Aushandlungen solcher – jeweils überaus „großer“ – Themen in der eigenen Familie. Ebenso werden der Umgang mit Erfahrungen von „Othering“ oder das Erleben relativer Abwertung reflektiert, aber auch bis heute andauernde Prozesse wie demographischer Wandel, Vergreisung, Verarmung, Vereinzelung bei gleichzeitigem Erstarken politischer Randlagen und der Blick auf einzelne, gemeinhin als „abgehängt“ geltende Regionen geschärft. Festgehalten werden in diesen Beiträgen diverse (Teil-)Erfolge mit zahlreichen offenen Fragen, neben der Bildung neuer Trennlinien, die quer zu „Ost“ und „West“ verlaufen. Zugleich scheint sich, wie von Jérémie Gagné und Laura-Kristina Krause beschrieben, zumindest in weiten Teilen der Wissenschaft allmählich die Erkenntnis immer weiter Bahn zu brechen, der Osten könne ein „besondere[s] Sensorium für gesellschaftliche Problemlagen“ haben und sei eben kein „pathologischer Sonderfall“ (Teil II, S. 146).

Dieses „Allerlei“ bietet viel Lesens- und Nachdenkenswertes, es offeriert Denkanstöße über die Folgen eines ungleichen Machtgewichtes und tradierte Asymmetrien, sinniert über deren Aneignungen und Bewältigungsmuster, erkennt und problematisiert Ängste und Unsicherheiten und fordert zu Gespräch und Differenzierung auf. Das ist erfreulich und hält einige überraschende und unbekannte Einblicke bereit. Zugleich kann kritisch bemerkt werden, dass vieles hiervon nach wie vor recht unverbunden nebeneinandersteht; vielleicht aber auch, nimmt man den eingangs formulierten Anspruch der Herausgeber ernst, nebeneinanderstehen „darf“ und in einer hochgradig plural-diversen, in jüngster Zeit von immensen Fördergeldern flankierten Wissenschaftslandschaft letztlich auch unbedingt soll. Ob das hierbei zu Recht als Nachteil empfundene Nebeneinander von Sozialwissenschaften und (Zeit-)Historie mit einem solchen Großpublikationsprojekt wirklich aufgelöst und mit diesem Werk ein produktiver Dialog zwischen den Disziplinen und Generationen, zwischen Wissenschaft, Politik und „Aufarbeitung“ sowie letztendlich zwischen „West“ und „Ost“ wirklich angestoßen und produktiv fortgeführt werden kann, bleibt allerdings ebenso wünschenswert wie offen – ebenso und insbesondere die aus Sicht des Rezensenten nach wie vor bestehende Crux, welche Rolle „der Westen“ nun eigentlich in diesem Setting einzunehmen vermag, einnehmen könnte oder sollte.