Cover
Titel
The Taliban at War. 2001–2018


Autor(en)
Giustozzi, Antonio
Erschienen
London 2019: Hurst & Co.
Anzahl Seiten
380 S.
Preis
£ 50.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Clemens Six, Department of History, University of Groningen

Der Aufstieg, Fall, und erneute Aufstieg der Taliban ist – wenig überraschend – ein noch kaum erforschter Aspekt der Geschichte Süd- und Zentralasiens.1 Der katastrophale Abzug der Vereinigten Staaten, Frankreichs, Deutschlands und anderer Verbündeter aus Afghanistan im letzten Sommer hatte in den internationalen Medien eine breite Diskussion zur Folge, wie es denn zu diesen scheinbar überraschenden Ereignissen und der offensichtlich ebenso unerwartet raschen Einnahme Kabuls durch die Taliban kommen konnte. Da ich selbst kein Historiker Afghanistans bin, sondern lediglich die Entwicklungen Südasiens im 20. und 21. Jahrhundert etwas besser kenne, war meine Absicht mit der Lektüre des Buches von Antonio Giustozzi, den Dingen hinter dem Zusammenbruch der westlichen Allianz in Afghanistan etwas detaillierter auf den Grund zu gehen. Das Ergebnis ist ein gemischtes Gefühl. Giustozzis Buch ist eine erhellende Studie der militärischen, politischen, und organisatorischen Geschichte der Taliban seit dem Einmarsch der westlichen Truppen nach den Terroranschlägen im September 2001. Gleichzeitig werde ich als Beobachter von außen den Eindruck nicht los, dass das Buch in seinem spezifischen Zugang das eigentliche Problem der Okkupation widerspiegelt: die Interpretation der Taliban (und anderer islamistischer Gruppierungen auf afghanischem Territorium) losgelöst von sozialen, ökonomischen, und kulturellen Prozessen der afghanischen Gesellschaft und der Veränderungen von Staatlichkeit in den Jahren der Okkupation.

Zunächst zum Stand des historischen Wissens über die Taliban. Zum Zeitpunkt des Beginns der Besetzung Afghanistans 2001 war durch journalistisch-historische Arbeiten bereits relativ gut bekannt, woher die Taliban kamen, welche theologische und politische Sozialisation sie einte, und welche gesellschaftspolitischen Absichten sie verfolgten.2 Zu Beginn der 1990er-Jahre waren sie mit ihrer konservativen islamischen Theologie der Deobandi-Schule in Pakistan angetreten, den Bürgerkrieg in Afghanistan zu beenden, die Milizen zu entwaffnen und die afghanische Gesellschaft nach den Prinzipien der Scharia neu zu organisieren.3 Nach dem Beginn der Besatzung 2001 haben gut informierte Kenner Afghanistans in ihren Recherchen und Kommentaren darauf hingewiesen, dass (a) das US-amerikanisch geführte Okkupationsregime das militärische Problem der Taliban lediglich geographisch nach Pakistan verschoben, aber keinesfalls gelöst hatte4 und der Kriegsverlauf deutlich anders verlief als öffentlich dargestellt5; (b) die Pläne für den zivilen Wiederaufbau Afghanistans nicht nur viel zu lange überhaupt nicht vorhanden, sondern so gut wie die ganze Besatzungsperiode unkoordiniert und fahrlässig unterfinanziert blieben6; (c) insbesondere die Finanzmittel für landwirtschaftlichen Wiederaufbau und Infrastruktur wie Straßen, Brücken, und Schulen völlig inadäquat waren7; (d) die USA und ihre Verbündeten die afghanische Gesellschaft in ihren sozialen, kulturellen und politischen Dynamiken praktisch komplett verkannten8; (e) die Bevölkerung bereits seit vielen Jahren desillusioniert war und zu befürchten war, dass der Abzug der ausländischen Truppen, wann immer er genau stattfinden würde, einen Zusammenbruch so gut wie aller Fortschritte wie etwa im Bereich der Bildung bedeuten würde.9

Der Beitrag, den Giustozzi mit seinem Buch zu dieser Diskussion leistet, ist auch für Nichtspezialisten ersichtlich. Ziel des Buches ist es, die militärische Organisation der Taliban seit 2001 besser zu verstehen und den Umbau der Taliban von einem Netzwerk zu einer teilinstitutionalisierten Organisation zu analysieren. In dieser Entwicklung, so die These Giustozzis, reagierten die Taliban keineswegs nur auf äußere Anreize wie etwa die Finanzierung durch Pakistan, den Iran und andere Kreise im Nahen Osten, oder Zwangslagen, die sich aus der Okkupation ergaben. Interne ideologische und strategische Debatten über die Ausrichtung und das praktische Vorgehen spielten eine ebenso entscheidende Rolle in dieser Geschichte der Adaption und Neuausrichtung der Taliban.

In dem chronologisch aufgebauten Buch erfährt man unter anderem, dass die Taliban ihr Überleben nach 2001 vor allem ihrer polyzentrischen Organisationsform verdankten, die die unterschiedlichen Gruppen in ihrem Inneren nur lose miteinander verband (Kapitel 4). Lokale charismatische Anführer (mullahs) organisierten den lokalen Widerstand entsprechend der jeweils spezifischen militärischen Möglichkeiten und Erfordernissen und schlossen sich erst im Laufe der Jahre (wieder) zu einem etwas kohärenterem Ganzen zusammen. Nach und nach passten die Taliban ihre eigene Organisationsstruktur an, in dem sie die Bewegung mit einer festeren, regelbasierten Struktur ausstatteten und sich selbst eine quasi-staatliche Form gaben (Kapitel 6). Diese Form dürfte nun nach der Machtübernahme in Kabul eine wichtige Rolle spielen, auch wenn noch nicht absehbar ist, inwiefern sie die Administration und Koordination großer Teile der afghanischen Gesellschaft zu bewältigen vermag.

Auch in taktischer Hinsicht vollzogen die Taliban (im Nachhinein gesehen) entscheidende Anpassungen, um den Besatzungstruppen schwere Verluste zuzufügen. Dazu gehörte der Einsatz von Minen (S. 138) oder die Einführung der Selbstmordattentate (S. 144–147), die innerhalb der Taliban lange Zeit umstritten waren. Der Autor legt großen Wert auf die detailreiche Rekonstruktion der militärischen Taktiken der Taliban und ihrer Waffensysteme, die sich im Laufe der Jahre ebenfalls stark verändert haben.

Relativ wenig Aufmerksamkeit widmet das Buch nicht-militärischen und nicht-organisatorischen Aspekten der Taliban seit 2001. An unterschiedlichen Stellen wird ersichtlich, dass die Strategie der Taliban auch Investitionen in ihre bevorzugten Formen von Bildung, Propaganda und andere Formen der Kommunikation und Indoktrination beinhaltete. Auch bürokratisch-administrative Experimente auf lokaler Ebene gehörten zu diesen Investitionen. Aber das Hauptaugenmerk des Buches bleibt in allen Teilen auf der militärischen und organisatorischen Geschichte der Taliban, die auf eine relativ hermetische Art und Weise, das heißt unabhängig von sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Veränderungen abgehandelt wird.

Der wohl beeindruckendste Aspekt des Buches ist die Forschungsmethode. Aufgrund der schwierigen Lage in Afghanistan und der Unzugänglichkeit weiter Teile der Taliban für ausländische Wissenschafter:innen griff der Autor auf ein breites Netzwerk lokaler Unterstützer:innen in Afghanistan und auch in Pakistan zurück. Die Zusammenarbeit mit den meisten dieser Unterstützer:innen bestand bereits aus früheren Kooperationen, sodass die Arbeit an den dutzenden Interviews mit ausgewählten Taliban und ihren Helfer:innen im In- und Ausland rasch aufgenommen werden konnte. Das Ergebnis sind wichtige Einblicke in bislang unbekannte Abläufe, Organisationsstrukturen, Debatten und auch interne gewalttätige Auseinandersetzungen der letzten 20 Jahre. Diese Einblicke ermöglichen es dem Autor, die Entwicklung der Taliban in erstaunlichem Detailreichtum zu rekonstruieren.

Insgesamt bleibt wie erwähnt ein gemischtes Bild zu dieser Publikation. Einerseits liefert das Buch unbestreitbar einen wichtigen Beitrag zum militärisch-organisatorischen Verständnis der Taliban, der durch seine Genauigkeit und seinen methodischen Aufwand überzeugt. Andererseits bleibt der Eindruck, dass die Wissenschaft in Zukunft noch wesentlich ganzheitlichere Befunde wird liefern müssen, um besser verständlich zu machen, was sich in den letzten 20 Jahren und insbesondere im Sommer dieses Jahres in Afghanistan ereignet hat. Dieses Wissen ist umso dringlicher, als vor allem die Gesellschaften der NATO-Mitgliedsstaaten rasch zu einem Urteil über den Sinn und Wahnsinn derartiger Kriege und Langzeitbesatzungen kommen sollten.

Anmerkungen:
1 Mein Dank geht an Arthur ten Cate, der mich auf Giustozzis Buch hingewiesen hat.
2 Ahmed Rashid, Taliban. Islam, Oil and the New Great Game in Central Asia, London 2000.
3 Hassan Abbas, The Taliban Revival. Violence and Extremism on the Pakistan-Afghanistan Frontier, New Haven 2014, Kapitel 3.
4 Ahmed Rashid, Afghanistan. Progress since the Taliban, in: Asian Affairs 37/1 (2006), S. 33–35.
5 Wikileaks, Afghan War Diary, 2010.
6 Susanne Koelbl im Interview mit Ahmed Rashid, Töten oder fangen, in: Der Spiegel, Heft 22/2007, S. 22.
7 Ahmed Rashid, Prospects for Peace in Afghanistan, in: Asian Affairs 41/3 (2010), S. 355–366.
8 Barnett R. Rubin, Afghanistan from the Cold War through the War on Terror, Oxford 2013.
9 Ahmed Rashid, Letter from Afghanistan. Are the Taliban Winning? in: Current History, 106/696 (2007), S. 17–20.

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