In den letzten Jahren widmeten sich deutsche Historikerinnen und Historiker wieder verstärkt den vermeintlichen Grauzonen der Gesellschaft: Verbrechen und Verbrecher ebenso wie Strafanstalten wurden zum Gegenstand zahlreicher Untersuchungen. 1 Dabei waren und sind jedoch die theoretischen und methodischen Herangehensweisen höchst unterschiedlich. Setzen manche Historiker nach wie vor sehr stark auf die Überlegungen von Michel Foucault, der mit seiner grundlegenden Studie „Surveiller et punir“ 2 in der Tat unzählige Anstöße zum Nachdenken gegeben hat, sind andere eher traditionellen Zugängen verhaftet. Genau in diesem Punkt setzt die Studie von Falk Bretschneider neue Maßstäbe. Mit Sachsen macht er einen in der Strafvollzugsgeschichte eher unbeachteten deutschen Staat zum Gegenstand seiner Studie. Und mit einer besonderen Kombination makro- und mikrohistorischer Instrumentarien betritt er Neuland.
Drei Untersuchungsstränge verfolgt Bretschneider, um das sächsische Gefängniswesen im 18. und 19. Jahrhundert analytisch erfassen zu können (S. 29f.). Zum Ersten geht es ihm um die Einsperrung als „Phänomen der longue durée“, das eben nicht als „Symptom eines raschen Modernisierungsprozesses“ (S. 29) erklärt werden kann. Vor allem ältere Studien gehen bisweilen davon aus, dass um 1800 die Freiheitsstrafe vor dem Hintergrund aufklärerischer Ideale recht abrupt und reibungslos die älteren Leibesstrafen ablöste. Zum Zweiten treibt Falk Bretschneider die Frage nach der „ominösen Disziplinarmacht“ (so der Text auf der Rückseite des Buches) um, die von Foucault beschrieben worden ist und sich vermeintlich überall in den Strafanstalten nahezu widerstandslos ausbreitete. Unter Verwendung der maßgeblich von Alf Lüdtke erdachten Konzepte des „Eigen-Sinns“ und der „Herrschaft als soziale Praxis“ will Bretschneider Disziplinierung vielmehr als soziale Praxis untersuchen, die in einem „alltäglichen Miteinander“ (S. 30) erst von den Menschen im Gefängnis in die Tat umgesetzt wurde, während obrigkeitlich gesetzte Normen und Gesetze „nur“ einen gewissen Rahmen vorgaben. Drittens und letztens möchte der Verfasser die Orte der Einsperrung und die dort stattfindende „alltägliche Disziplinierungspraxis“ (S. 30) plastisch werden lassen. Auch unter Zuhilfenahme figurationssoziologischer Elemente aus der Theorie von Norbert Elias möchte Bretschneider die in einer Anstalt herrschenden „spezifischen sozialen Beziehungsgeflechte“ (S. 30) untersuchen, die letztlich Alltag in der Anstalt konstituierten.
Aufgrund der Materiallage konzentriert sich die Untersuchung vorrangig auf die Strafanstalten Waldheim und Zwickau. Im Wesentlichen wurden Verwaltungsakten, das Waldheimer Insassenregister und auch Selbstzeugnisse ausgewertet, die einleitend einer überzeugenden und reflektierten Quellenkritik unterzogen werden. So spiegeln die Überlieferungen der Anstalten oft nur das wider, was schlecht lief, sodass das rekonstruierte Bild zusätzlich verzerrt wird. Aufbauend auf dieser Grundlage, vermag Falk Bretschneider in seinem ersten Kapitel „Armut, Zucht und Arbeit“ die Entstehung der Strafanstalten im Sachsen des 18. Jahrhunderts nachzuzeichnen. Jene waren vornehmlich noch als „gemeinsame Häuser“ konzipiert, die nicht nur Kriminelle im heutigen Verständnis, sondern auch Arme, Alte und Kranke aufnahmen und versorgten. Dabei fiel bereits damals die Auswahl der Gebäude nicht auf solche, die einfach gerade verfügbar waren. Vielmehr wurden die Orte der Einsperrung sorgfältig ausgewählt, allerdings immer auch vor dem Hintergrund finanzieller Erwägungen. In den Anstalten sollten „Eigenraum“, „Eigenkategorien“ und „Eigenzeit“ den Lebensalltag der Insassen formen und gleichermaßen begrenzen. Raum versteht Bretschneider mit Martina Löw 3 als soziale Konstruktion und Form von Vergesellschaftung (S. 75f.). Raum existiert also nicht einfach, sondern wird erst durch alltägliches Handeln konstituiert, erschaffen. Das Zuchthaus-Schloss als Haftort, die tägliche Bestätigung dieses oft nach dem Vorbild von Klöstern geschaffenen Raumes durch soziale Praktiken vermag die Studie eindrücklich aufzuzeigen. Gleichermaßen sollten die Kategorisierung der Häftlinge „Ordnung in der Unordnung“ schaffen (S. 70ff.) und zeitliche Rahmensetzungen den Alltag strukturieren, der vornehmlich durch Arbeit und Gebet bestimmt war. Überwachung und Bestrafung dienten vor diesem Hintergrund der Durchsetzung von Handlungsroutinen. Letztlich war die Anstalt dennoch aber alles andere als eine „totale Institution“ im Goffmanschen Sinne. Einflüsse der Außenwelt und Austauschprozesse mit ihr weisen eher auf die Porosität der Mauern denn auf ihre Abgeschlossenheit hin. Der Ort der Einsperrung war Teil der ihn umgebenden Gesellschaft.
Insbesondere in gesamtgesellschaftlichen Krisenphasen wie während des sächsischen „Rétablissement“ nach dem Siebenjährigen Krieg waren es die Insassen der Anstalten, die am untersten Ende der sozialen Hierarchie wahrscheinlich am meisten zu leiden hatten. Dennoch überrascht Falk Bretschneider im zweiten Kapitel („Verdienen und Strafen“) mit dem Hinweis, dass Ende des 18. Jahrhunderts das Leben im Zuchthaus nicht unbedingt härter war als in anderen gesellschaftlichen Bereichen. Vielmehr wussten einige soziale Gruppierungen das Zuchthaus geradezu als „Zufluchtsort“ in Zeiten der Krise auszunutzen, weil es dort wenigstens ein Dach über dem Kopf und etwas zum Essen gab.
Im Folgenden beschreibt Falk Bretschneider die „schwierige Geburt der Strafanstalt“ (Kapitel IV). Um die Jahrhundertwende setzte der Niedergang dieses „Gemeinsamen Hauses“ ein, die Trennung von Strafvollzug und Arbeitshäusern etablierte sich in Sachsen. Ebenso verschwanden die Alten und Kranken aus den Strafanstalten, weil nun besondere Einrichtungen für diese Gruppen installiert wurden. Die Anstaltslandschaft differenzierte sich aus, ohne ältere Strafformen obsolet werden zu lassen. Im Sinne der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ (Koselleck) bestanden in Sachsen vielmehr schwere Körperstrafen bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts fort. Mitnichten ersetzte um 1800 innerhalb kürzester Zeit die Freiheitsstrafe ältere Formen der Maßregelung.
Ebenso kann Falk Bretschneider in diesem Kapitel eindrucksvoll zeigen, dass Gesellschaft im Zuchthaus in alltäglichen Aushandlungsprozessen gemacht wurde: Eine Konstellation, die er am Ende seiner Arbeit als „Doing Prison“ bezeichnet (S. 535ff.). Es gab Frei-Räume für die Gefangenen, die sie eigenwillig besetzen konnten. Die Möglichkeiten, die Normen der Anstaltsleitung durchzusetzen, wurden quasi ständig neu verhandelt. So waren die Insassen der Anstalten zu keiner Zeit einer versuchten Disziplinierung chancenlos ausgeliefert. Häftlinge entzogen sich durch Flucht oder Selbstmord, revoltierten in gemeinsamer Kraftanstrengung oder entwichen den Versuchen der Normierung durch eigensinniges Verhalten. Auch die zahlreichen Verflechtungen zwischen Anstaltspersonal und Insassen lassen deutliche Zweifel am schlichten „Ausgeliefertsein“ der Inhaftierten aufkommen. Freilich waren sie oft grausamen Strafen ausgesetzt, aber sie waren ebenso Teil einer Figuration, in der Machtchancen asymmetrisch verteilt waren, was wiederum für alle Teile dieses Interdependenzgeflechtes Handlungschancen eröffnete. Schließlich war ferner das Anstaltspersonal unterschiedlich befähigt und verfolgte nicht selten eigensinnige Interessen, die wiederum Spielräume für die Häftlinge eröffneten.
In einem abschließenden Kapitel („Im Takt von Reform und Reaktion“) kann Falk Bretschneider darstellen, wie die sächsische Anstaltsverwaltung erst im Laufe des 19. Jahrhunderts an die international vernetzte Gefängniswissenschaft und deren Diskurse Anschluss suchte und fand. Diese vermeintliche Rückständigkeit des sächsischen Gefängniswesens muss allerdings immer auch vor dem Hintergrund finanzieller Einschränkungen gesehen werden, die etwa aufwändige Gefängnisneubauten kaum zuließen. Grundsätzlich überwogen bis weit in das 19. Jahrhundert in sächsischen Strafanstalten die Kontinuitäten gegenüber fundamentalen Innovationen.
Bretschneiders Studie und ihre Ergebnisse dürften für die Erforschung der Geschichte der Einsperrung hierzulande Modellcharakter haben. An ihr wird bei der Beschäftigung mit dem Thema niemand mehr vorbeikommen. Innovativ wie fundiert vermag es der Verfasser, ein doch grundlegend anderes Bild von der Einsperrung im 18. und 19. Jahrhundert als das bisher vorherrschende zu zeichnen. Gewissermaßen en passant wird man zudem informiert über die Einbettung der Strafanstalten in die allgemeine sächsische Geschichte. Insgesamt sind nicht nur seine Ergebnisse neu, sondern auch sein methodisch-theoretisches Instrumentarium kann zur Nachahmung empfohlen werden, etwa auch für die Betrachtung jüngerer Vollzugssysteme. Die Kombination aus Struktur- und Diskursanalyse sowie Untersuchung von sozialer Praxis wird stringent durchgehalten und ist durchweg überzeugend.
Dem Leser werden die Untersuchungsergebnisse zudem in einem Schreibstil und mit einer sprachlichen Ausdruckskraft offeriert, die an keiner Stelle Langeweile aufkommen oder gar die nötige Präzision vermissen lassen. Darüber hinaus ist ein reichhaltiger Anhang vorhanden: Karten, Übersichten und Grafiken, Bildtafeln, ein umfangreiches Literaturverzeichnis sowie ein Sachregister runden den überaus positiven Gesamteindruck ab. Einziger Wermutstropfen ist der Preis, der zahlreiche Leser, die dem Buch nur zu wünschen wären, doch abschrecken dürfte: 59 € für ein Paperback sind entschieden zu teuer.
Anmerkungen:
1 Stellvertretend für viele andere seien genannt Désirée Schauz, Strafen als moralische Besserung. Eine Geschichte der Straffälligenfürsorge 1777-1933, München 2008; Martina Henze, Strafvollzugsreformen im 19. Jahrhundert. Gefängniskundlicher Diskurs und staatliche Praxis in Bayern und Hessen-Darmstadt, Darmstadt, Marburg 2003; Jens Jäger, Verfolgung durch Verwaltung. Internationales Verbrechen und internationale Polizeikooperation, 1880-1933, Konstanz 2006; Lars Hendrik Riemer (Hrsg.), Das Netzwerk der „Gefängnisfreunde“ (1830-1872). Karl Josef Anton Mittermaiers Briefwechsel mit europäischen Strafvollzugsexperten, 2 Bände, Frankfurt am Main 2005.
2 Michel Foucault, Surveiller et punir. naissance de la prison, Paris 1975.
3 Martina Löw, Raumsoziologie, Frankfurt am Main 2001.