Shigeto Kikuchi untersucht ein zentrales Element karolingischer Herrschaftsordnung, nämlich das der Missi dominici. Zu diesem Zweck hat er sämtliche aus den Quellen bekannte Missi in einem zweiten Band in alphabetischer Ordnung zusammengestellt und jeweils mit ihrem Aufgabenbereich und einer Diskussion der prosopographischen Angaben versehen. Dieser zweite Band ist, um es vorwegzunehmen, ein gelungenes Hilfsmittel für jede Forschung zu den Missi der gesamten Karolingerzeit. Bedauerlich ist allenfalls, dass die Tübinger Datenbank des Projekts "Nomen et Gens" keine Berücksichtigung findet, was aber wohl auch daran liegen mag, dass sie in der Phase der Entstehung der Arbeit, mit der der Autor 2012/13 in München promoviert wurde, einer umfangreichen Revision unterzogen wurde.1
Unter anderem auf diesen prosopographischen Zugängen beruht die Monographie, die den ersten Band ausmacht. Der Autor geht in jeder Hinsicht ausgesprochen systematisch vor, nicht nur in seinen prosopographischen Zugängen, sondern auch in seinen methodischen Annäherungen an den Gegenstand.
Die Arbeit ist gegliedert nach Personal und Funktion, kommunikativen Aspekten, also der Funktion der Missi im Reichsgefüge, und herrscherabhängigen Unterschieden. Dabei liegt ein Hauptschwerpunkt auf den „Missi dominici in der Befehlsstruktur: Bekanntmachung des herrscherlichen Willens in den Regionen“ (Kapitel 2.2, S. 66–227). Shigeto Kikuchi geht dabei die Reichsversammlungen und die dazugehörigen, für seine Frage relevanten Kapitularien im Hinblick auf die Funktion der Missi von 789 bis 877 durch, was er jeweils ausführlich diskutiert.
Shigeto Kikuchis methodische Ausgangsüberlegung orientiert sich am Zugang von Roman Deutinger (S. 2), der seine Untersuchung der ostfränkischen Staatlichkeit unter die Maßgabe der Pragmatik stellte2, was keine schlechte Wahl ist, da Deutingers Arbeit so einen angemessenen Zugang zur Frage nach der Staatlichkeit einer mittelalterlichen Gesellschaft finden konnte. Der Autor betont folglich ausdrücklich, „keine Rechts-, Verfassungs- oder Institutionengeschichte“ zu schreiben (S. 11).
Unabhängig von einem pragmatischen Zugang aber geht Shigeto Kikuchi von einer engen inneren Verbindung von Kapitularien und Missi aus, was zunächst auch naheliegt, weil eben dort die Missi in der Regel auch angesprochen sind. Zahlreiche Kapitularien sind ausdrücklich für den Gebrauch der Missi konzipiert, aber eben nicht alle. In der Annahme, dass diese beiden Momente karolingischer Herrschaftsordnung umfassend miteinander verwoben seien, begreift der Autor die Missi als zentralen Teil der Kommunikation, die mit den Kapitularien verbunden ist.
Bei der Deutung des Begriffes des missus geht Shigeto Kikuchi von einer Übersetzung als „Bote“ aus (S. 185). Das führt dazu, dass er nicht grundsätzlich differenziert zwischen einfachen Boten, Gesandten an fremde Höfe bzw. an den Papst und den Missi dominici als Funktionsträger karolingischer Staatlichkeit. Das ist aus Gründen eines systematischen Zugangs zunächst auch nicht unsinnig, führt dann aber dazu, etwa anzunehmen, es handele sich bei ihnen grundsätzlich um die Boten, mit denen Kapitularien verbreitet wurden. Und es führt zu einer Diskussion um die Botschaften, ihre Formulierungen und mögliche Übersetzungen in die Volkssprache (S. 199–203), die davon ausgeht, dass die Missi regulär an einen konkreten Wortlaut der Kapitel gebunden gewesen seien und gegebenenfalls „die Gesamtheit dieser Dokumente mit sich führen“ mussten (S. 152). Das kann man aber nur annehmen, wenn man einzelne Bestimmungen aus Kapitularien, in denen der Wortlaut tatsächlich von Bedeutung ist, allzu grundsätzlich auffasst und die Missi als die eigentlichen Boten der Kapitularien sieht. Kikuchis prosopographische Erkenntnisse zu der sozialen Stellung der Missi legen hingegen in der Tat nahe, dass es sich bei ihnen um Akteure recht unterschiedlicher Positionen handelt. Es sind keine Boten in einem allgemeinen Sinn, sondern Sonderboten mit konkreten Aufgaben, die auch in der Veröffentlichung von Kapitularien liegen können.
Auch die Diskussion der Begriffe missus discurrens und missus maior (S. 41–51) erweckt den Eindruck einer normativen Systematik, die ja der Autor unbedingt vermeiden wollte. In den konkreten Bezügen ist diese Differenzierung sinnvoll, etwa zu dem diskutierten Kapitular Karls des Kahlen von 860, in dem die missi discurrentes aufgefordert werden, die Bestimmungen reichsweit bekannt zu machen und die missi maiores gegebenenfalls um Rat zu fragen. Hier scheinen die Missi im Sinne des Gegenstandes der Untersuchung allein die missi maiores zu sein, während die missi discurrentes tatsächlich eben „herumeilende Boten“ sind. Manchmal empfiehlt es sich tatsächlich, die Begriffe nicht als feststehende termini technici zu nehmen, sondern als der Sache aktuell angemessene Bezeichnungen.
Die Legitimation der Missi ist zwar immer wieder in den Kapitularien verankert und damit oft dem Konsens der Großen unterworfen, aber letztlich eine herrscherliche. Sie gehören nicht in die Kategorie der regulären Herrschaftsträger. Dass es vor allem in der späteren Karolingerzeit immer wieder dazu kommt, dass regionale Große per se als Missi angesehen werden können, ist nach Ansicht des Rezensenten sehr wohl Ausdruck von Dysfunktionalität, weil ihre eigentliche Aufgabe der Kontrolle so nur bedingt zu erfüllen gewesen sein dürfte. Da aber die Missi nicht in erster Linie als Kontrollorgane gesehen werden, sondern über weite Teile der Arbeit als Boten der Kapitularien, gerät dies aus dem Blick.
Es gibt in der vorliegenden Arbeit eine gewisse Übersystematisierung, wenn zwar der Begriff des Instituts für die Missi dominici abgelehnt wird, aber dennoch von einem „Missatswesen“ (S. 7) die Rede ist und dann auch von missatica (durchaus auch als Raumbegriff S. 35–40, S. 132) sowie von einem „Missustitel“ (S. 212, s. auch S. 215 dazu, dass dieser „Titel“ in der Regel nicht genannt wird), weil tatsächlich es gewisse räumliche Zuständigkeiten gab und auch eine gewisse Institutionalisierung der jeweiligen Aufgaben bestimmter Missi. Aber was unterscheidet sie dann von regulären Amtsträgern, wie den Grafen, zu deren Kontrolle sie ja wohl eigentlich eingesetzt waren?
Es zeichnet sich auch in der vorliegenden Arbeit ab, dass es unter Ludwig dem Frommen zu einer Verdichtung von Verwaltungsschriftlichkeit kam (s. etwa S. 164 zur Ausführlichkeit der Kapitel der Kapitularien) und dieses auch bezweckt war (vgl. dazu die Bonner Dissertationen von Sarah Patt und Susanne Zwierlein3). Eine andere Frage wäre, ob diese Abkehr von einer gewissen Pragmatik nicht auch eine gewisse Dysfunktionalität nach sich gezogen haben wird. Eine Institutionalisierung des Instrumentes der Missi dominici mit dauerhaften Aufgabenbereichen (so etwa nach einem Kapitular aus dem Westfrankenreich von 876, Ponthion, zur Einsetzung der Bischöfe als feste Missi in ihren Diözesen, S. 61) und einer prinzipiellen regionalen Verankerung jedenfalls kann nur verstanden werden als ein Verlust herrscherlicher Kontrolle, die gerade in der situativen Bestellung von vertrauenswürdigen Personen der herrscherlichen Umgebung gelegen hatte. Die Beobachtung dagegen, dass in Bayern eher regionale Große die Funktion der Missi wahrnahmen, während in Italien die Missi meist Gesandte aus dem nordalpinen Raum waren (S. 19f.), wird wohl eher auf die Einschätzung der Situation in der herrscherlichen Zentrale zurückzuführen sein.
Shigeto Kikuchi hat mit seiner nun veröffentlichten Dissertation neben einem grundlegenden Band zu den prosopographischen Voraussetzungen eine anregende Arbeit zum Verständnis der Missi dominici vorgelegt, die in ihrem Resümee sehr deutlich macht, dass die Aufgabe der Missi eben in der Sorge um Gerechtigkeit und der Durchsetzung der in den Kapitularien publizierten Regeln liegt. Und das ist eine zentrale staatliche Aufgabe, nämlich die Kontrolle der Institutionen.
Anmerkungen:
1http://www.neg.uni-tuebingen.de/?q=de (04.11.2022).
2 Roman Deutinger, Königsherrschaft im Ostfränkischen Reich. Eine pragmatische Verfassungsgeschichte der späten Karolingerzeit, Ostfildern 2006.
3 Sarah Patt, Studien zu den ‚Formulae imperiales‘. Urkundenkonzeption und Formulargebrauch in der Kanzlei Ludwigs des Frommen (814–840) (Monumenta Germaniae Historica, Studien und Texte 59), Wiesbaden 2016; Susanne Zwierlein, Studien zu den Arengen in den Urkunden Kaiser Ludwigs des Frommen (814–840) (Monumenta Germaniae Historica 60), Wiesbaden 2016.