Die schweren kommunalen Ausschreitungen in Indien – 1992 in Ayodhya (und in den Folgemonaten in ganz Nordindien) sowie 2002 in Gujarat – haben Interpretationen Vorschub geleistet, die den Hindunationalismus als Spielart des Faschismus begreifen. Die Verwendung des Faschismus-Begriffes in diesem Zusammenhang von indischer, aber auch von europäischer Seite geschah und erscheint dabei jedoch oftmals polemisch und unreflektiert. Bislang haben sich nur wenige Historiker ernsthaft mit der Frage, inwieweit es Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede zwischen Hindunationalismus und Faschismus gibt, auseinandergesetzt. Wir wissen daher nicht viel darüber, welche konkreten historischen Berührungspunkte zwischen beiden vorliegen.1 Das mag unter anderem daran liegen, dass der Faschismus – insbesondere in der westlichen Geschichtswissenschaft – lange Zeit als ausschließlich europäisches Phänomen betrachtet wurde, das zudem zeitlich auf die Jahre 1922 bis 1945 begrenzt war.2
Tobias Delfs Monografie „Hindu-Nationalismus und europäischer Faschismus: Vergleich, Transfer- und Beziehungsgeschichte“ geht den aufgeworfenen Fragen in fünf Kapiteln nach. In der Einleitung gibt der Autor nicht nur einen Überblick zur gewählten Methodik und Quellenlage, sondern vermittelt ebenfalls die Aktualität der Forschungsfrage, indem er in einem längeren Abriss die Vorkommnisse in Gujarat 2002 schildert. Im zweiten Kapitel klärt Delfs die für seine Arbeit zentralen Begrifflichkeiten Nationalismus, Kommunalismus, Hindunationalismus und -fundamentalismus sowie Faschismus und zeigt deren begriffsspezifische Problematiken auf. Der sich anschließende dritte Teil behandelt die Vorläufer und die Entstehung des radikalen Hindu-Nationalismus und wirft dabei einen Blick auf die Genese, Spielarten und Entwicklung des indischen Nationalismus. Im vierten und letzten Hauptkapitel untersucht Delfs zuerst die Beziehungs- und Transfergeschichte zwischen Hindu-Nationalismus und europäischem Faschismus und geht dabei auf vier ausgewählte Akteure – V.D. Savarkar, B. S. Moonje, K. B. Hedgewar und M. S. Golwalkar – und deren Ideologie näher ein. Anschließend werden direkte Vergleiche zwischen beiden Phänomenen hinsichtlich verschiedener Aspekte, wie Rasse, Feindbilder und Gewalt oder Frauenbild und Maskulinität gezogen. Die Schlussfolgerungen des Autors, das Literatur- und Quellenverzeichnis, der Anhang, der die erste Auflage von M.S.Golwalkar’s „We and Our Nationahood Defined“ aus dem Jahre 1939 enthält, sowie ein Namensregister komplementieren das Buch.
Delfs Studie kommt zu dem aufschlussreichen Ergebnis, dass „die wichtigsten Protagonisten des militanten Hindu-Nationalismus […] in den 1920er und 1930er Jahren deutlich auf die als Erfolgsmodell wahrgenommenen Faschismen in Italien und Deutschland“ zurückgriffen (S. 143). Dabei seien sie aber selektiv vorgegangen. „Diejenigen Aspekte, die ihnen für die indische Situation am Nützlichsten erschienen, wurden transferiert, andere Gesichtspunkte wiederum beiseite gelassen, variiert, aufgefrischt oder an indische Verhältnisse angepasst.“ (ebd.) Diese Schlussfolgerungen Delfs sind nicht nur interessant, sondern verweisen auch auf die eigentliche Bedeutung dieser Monografie. Sie zeichnet sich vor allem durch das Aufzeigen bisher kaum wahrgenommener globaler Zusammenhänge und die Analyse transkultureller Prozesse aus. Sie liefert damit nicht nur einen wichtigen Beitrag zu einem weniger eurozentrischen Verständnis von Faschismus, sondern gibt auch der Beschäftigung mit der indischen Faschismusrezeption bzw. Faschismusnähe neue Impulse.
Gleichzeitig lassen Delfs Schlussfolgerungen (ebenso wie seine Ausführungen in den Kapiteln) aber auch auffallende Lücken erkennen. Die Tatsache, dass es sich bei dem vorliegenden Buch nicht um eine Dissertation sondern um eine überarbeitete Magisterarbeit handelt, könnte erklären, warum der Autor sich auf die vier genannten Persönlichkeiten beschränkt hat. Die Fragestellung, ob der militante Hindu-Nationalismus auch als faschistisch bezeichnet werden kann, hätte aber ebenfalls einer Untersuchung, inwieweit es andere Stimmen im hindunationalistischen Feld gab, die das „Erfolgsmodell“ Faschismus ablehnten, bedurft. Delfs Reduktion und Personalisierung des Hindunationalismus führt somit nahezu zwangsläufig zu unzulässigen Verallgemeinerungen. So wird beispielsweise mit keinem Wort erwähnt, dass sich bedeutende Akteure aus dem hindunationalistischen Spektrum wie Nirmal Chandra Chatterjee, Präsident der Bengalischen Hindu Mahasabha und Vizepräsident der Allindischen Hindu Mahasabha, oft und deutlich gegen den Faschismus aussprachen.3
Neben diesem Defizit fällt ein weiteres Manko auf. So behauptet der Autor, dass „es überhaupt ausschließlich der militante Hindu-Nationalismus war, der sich vom Faschismus mehr als positiv beeindruckt zeigte, weniger der säkularistische.“ (S. 66) Es mag stimmen, dass die säkularistischen indischen Nationalisten in Gänze eine eher ablehnende Haltung gegenüber dem europäischen Faschismus einnahmen, aber auch sie sollten keineswegs als monolithischer Block mit einer klar definierten ideologischen Basis begriffen werden. Persönlichkeiten wie der Wirtschaftsprofessor und Vater der indischen Soziologie Benoy Kumar Sarkar oder der Sozialist Brij Narain, aber auch eine Reihe bengalischer Intellektueller zeigten sich von einzelnen Aspekten, vor allem von der wirtschaftlichen Entwicklung Italiens und Deutschlands sowie von der Bildungs- und Jugendpolitik stark beeindruckt. Darüber hinaus gab es unter den indischen Muslimen eifrige Bewunderer Hitlers und Mussolinis.4 Eine solche Kontextualisierung hätte Delfs Ausführungen wesentlich fruchtbarer gemacht.
Trotz dieser kritischen Anmerkungen muss festgehalten werden, dass Delfs Studie insgesamt einen recht aufschlussreichen Einstieg in ein Kapitel der europäisch-indischen Beziehungen, das ohne Frage noch weiterer Bearbeitung bedarf, liefert. Diese gut lesbare und klar strukturierte Untersuchung kann insbesondere Lesern empfohlen werden, die an einer Überwindung eines rein eurozentrischen Blickes auf den Faschismus interessiert sind.
Anmerkungen:
1 Eine Ausnahme bildet: Marzia Casolari, Nazionalismo indiano, Italia e fascismo, Dissertation, Pisa 1997.
2 Vgl. Roger Eatwell, Universal fascism? Approaches and Definitions, in: Stein Ugelvik Larsen (Hrsg.), Fascism outside Europe. The European impulse against domestic conditions in the diffusion of global Fascism, New York 2001, S. 15-45; Arnd Bauerkämper, Der Faschismus in Europa 1918-1945, Stuttgart 2006.
3 Vgl. Nirmal Chandra Chatterjee, Hindu Politics. The Message of the Mahasabha, Collection of Speeches and Addresses by Sj. N. C. Chatterjee, Calcutta 1945, S. 23, 26, 68 und 78.
4 Vgl. unter anderem Markus Daechsel, Scienticism and its Discontents: the Indo-Muslim ‘Fascism‘ of Inayatullah Khan al-Mashriqi, in: Modern Intellectual History 3 (2006) 3, S. 443-472; Benoy Kumar Sarkar, The Hitler-State. A Landmark in the Political Economic and Social Remaking of the German People, Neudruck von: The Insurance and Finance Review, Oct.-Nov. (1933), Calcutta 1933; Brij Narain, India before and after crisis, Bd. 2, Allahabad 1939, S. 390-401.