Das chinesische Reich, neben der katholischen Kirche immerhin die älteste noch fortdauernde Institution der Erde, hat stets auf der Basis von Geschäftsordnungen funktioniert. Keine Magna Charta, keine Ständeversammlung, kein Immerwährender Reichstag oder gar eine Verfassung garantierten Freiheiten des Individuums und Beschränkungen herrscherlicher Willkür. Das Zusammenwirken der Institutionen unterlag ebenso wechselnden Geschäftsordnungen, und einen Begriff von Gesellschaft hat das traditionelle China nicht hervorgebracht. Dementsprechend hat die chinesische politische Philosophie sich auf die Kultivierung moralischer Werte konzentriert, die dem Herrscher und späterhin auch den herrschenden Beamten als Fürstenspiegel dienen sollten. Wenn die Regierenden nur tugendhaft genug sind, ist für das Wohlergehen des Volkes genügend gesorgt. Selbst konservative Neokonfuzianer des 20. Jahrhunderts wie Mou Zongsan (1909-1992) und Tang Junyi (1909-1978) haben dies als Defizit erkannt: Das traditionelle China habe wohl die ethische Perfektion einer „nach innen gewandten Heiligkeit“ (neisheng) erreicht, doch die Modalitäten eines „nach außen gewandten Herrschens“ (waiwang) ließen sehr zu wünschen übrig.
Das Buch von Qinglian HE gilt dem moralischen Verfall, den China im Gefolge der wirtschaftlichen Öffnungspolitik (etwas missverständlich auch als „Modernisierung“ bezeichnet) seit Beginn der 80er Jahre erlebt. Es steht somit in der langen chinesischen Tradition der Kritik an der Korruption der Regierenden; ein im besten Sinne kritisches Buch also, das freilich – außer dem vagen und auf den letzten Seiten noch massiv relativierten Appell zur Demokratisierung und zu „politischen Reformen“ – nur wenig Vorschläge zur Lösung der Krise enthält. Frau Hes Buch erschien 1998 in chinesischer Sprache, wurde rasch zum Bestseller, bis seine weitere Verbreitung untersagt und die Verfasserin lebensgefährlichen Verfolgungen ausgesetzt war, die sie ins Exil in New Jersey trieben. Die vorliegende deutsche Ausgabe ist um zwei Vorworte, eine (ebenfalls als „Vorwort“ bezeichnete) Einleitung sowie die Einarbeitung zahlreicher neuer Daten bis etwa 2005 erweitert. Die Verfasserin, das muß vorangeschickt werden, ist keine Soziologin, ihr Hintergrund ist ein Studium von Volkswirtschaft und neuerer Geschichte. Dennoch ist ihre Arbeit für Soziologie und Sozialwissenschaften generell relevant, weil sie Vergleiche auch für Forschungen außerhalb Chinas ermöglicht. Ohne dass die Verfasserin es wohl beabsichtigt hat, ist das Buch in vieler Hinsicht zu einer Art von Dokumentensammlung für kultursoziologische Untersuchungen geworden, und Max Webers Gedanken zum Einfluß der Ethik auf das Wirtschaftsverhalten durchdringen gewissermaßen jede Seite des Buches.
„China in der Modernisierungsfalle“ erzwingt den Abschied von der von vielen Politikern, Geschäftsleuten und anderen an einem apeasement mit China interessierten Kreisen vertretenen Vorstellung, mehr wirtschaftliche Liberalisierung müsse auch in China zwangsläufig zu mehr politischer Liberalisierung führen. Die Verfasserin führt vier gewichtige Gründe an, die das gern gehegte rosige Bild von Chinas zukünftiger Entwicklung in Frage stellen. Zum einen beobachtet sie eine zunehmende Ungleichheit in der Einkommensverteilung. Die „versteckte Privatisierung“ zahlreicher Staatsunternehmen hat zu einer enormen Bereicherung der Kader geführt, die in den Statistiken nicht auftaucht. Die von den Kadern häufig erwirkte Unterbewertung der Staatsbetriebe und Bodennutzungsrechte bei der lukrativen Bildung von neuen joint ventures, die Veruntreuung von Ressourcen und der Transfer öffentlicher Gelder auf (häufig ausländische) Privatkonten sowie die Steuerflucht – letztlich alles unter „Korruption“ zu subsumieren – haben für Staatsbedienstete genauso wie für Unternehmer Einkommensquellen geschaffen, die die Schere in der Verteilung des Vermögens stetig öffnen. Das gerne gebrauchte Argument, demzufolge der Einfluß politischer Macht auf die Einkommensverteilung mit der Vertiefung marktwirtschaftlicher Strukturen schwindet, wird entkräftet durch die Feststellung, dass gerade auf lokaler Ebene die Kader politische mit wirtschaftlicher Macht zu verbinden wissen, zumal Zwang und Motivation zu rechtschaffenem Verhalten abnehmen. Damit sind wir beim zweiten Punkt, dem Niedergang der Macht der Zentralregierung. Wie konnte es zu dem Verfall des Einflusses einer Regierung, die noch vor kurzer Zeit totalitär herrschte, kommen? In diesem Zusammenhang wird die Notwendigkeit politischer Reformen, eines rechtlichen Rahmens für das Zusammenwirken von Institutionen sowie vor allem eine wirkliche Unabhängigkeit der Rechtsprechung von den politischen Machthabern besonders deutlich, obwohl die Verfasserin keine überzeugende Erklärung für die Gründe geben kann, warum Dezentralisierung zu einem solch hohem Ausmaß einer Mißachtung öffentlicher zugunsten von privaten Belangen und einer in der chinesischen Geschichte wohl einmaligen Verschwendung führen konnte.
Organisationssoziologen betrachten das Interesse von Beamten auf der einen und Managern auf der anderen Seite als jeweils mit den Interessen ihrer jeweiligen Organisationen kongruent, doch das chinesische Beispiel zeigt, dass das öffentliche Wohl bei der Vergabe von wirtschaftlichen Privilegien durch Beamte an Unternehmer beinahe durchweg das Nachsehen hat. Denn keine Marktwirtschaft, so die Verfasserin drittens, kann funktionieren ohne relativ stabile, von einer Mehrheit geteilte Normen. Doch eben die sind in rapidem Verfall begriffen. Den Vorstellungen von einer regulativen Kraft von partikulären Netzwerken des Tauschs, (bekannt als guanxi, „Beziehungen“) hält sie entgegen, dass die immer weiter verbreitete Sucht nach schneller Bereicherung dazu führt, dass in der systemischen Untergrundwirtschaft häufig die Goldene Gans geschlachtet wird, Vertragsbrüche und der Abbau der traditionellen Reziprozität an der Tagesordnung sind. Hinzu kommt viertens, dass im Zuge der Wiederbelebung traditioneller Formen von Klan-Organisationen in ländlichen Gebieten Personen mit geringer Bildung und noch geringeren moralischen Standards an die Macht kamen. Daher hält Qinglian He auch die unlängst eingeführten Dorfwahlen für Augenwischerei. Dorfdespoten schaffen Nepotismus und benachteiligen diejenigen, die nicht Mitglieder des gerade herrschenden Klans sind. Auf dem Land, aber auch in den Städten, nimmt die Anzahl der Verlierer der Reformen zu. China ist im Begriff, das Land mit der größten Ungleichheit und der spektakulärsten Kapitalflucht zu werden. Öffentliche Macht, auf welcher Ebene auch immer, ist „Kapital zur Erzielung privater Gewinne“.
Nun unternimmt die chinesische Zentralregierung trotz der zunehmenden Dezentralisierung in der Tat zahlreiche Versuche, mehr Rechtssicherheit und rational-legale Verhältnisse zwischen Institutionen zu schaffen; in Gestalt der Wahlen für Einwohnerkomitees hat sie zumindest in den Städten einen „Kommunitarismus von oben“ (Thomas Heberer) angestrebt; dergleichen Bemühungen soll man nicht unbedingt in Bausch und Bogen abfertigen, wie die Verfasserin das tut; allerdings zeigt bereits der Blick auf die Umweltpolitik, dass partikulare Interessen und kurzsichtiges Gewinnstreben viele dieser Initiativen schnell zunichte machen.
Die überwältigende Menge erschütternder Beispiele von Korruption, Kriminalität und Ausbeutung macht das Buch zu einer bedrückenden Lektüre. Noch bedrückender ist allerdings die Aussage, China sei auf dem Weg in eine „Sudanisierung“, es sei beinahe schon ein „gescheitertes Land.“ Das Buch ist als Menetekel konzipiert; das Vorwort verweist darauf, dass die schlimmsten Befürchtungen der chinesischen Originalausgabe sich mittlerweile bestätigt hätten.
Etliche Kritiker und Rezensenten haben den „altmodischen“ Ton des Buches vermerkt. Der konservative amerikanische Kolumnist John Derbyshire schlägt Qinglian He zwar für die Auszeichnung „Women Who Make the World Better“ vor, zeiht sie jedoch gleichzeitig eines starken und uneinsichtigen Nationalismus und gewisser Nostalgie für das egalitäre China ihrer Kindheit. Solche Charakterisierungen mögen unmittelbar einleuchten; sie verfehlen jedoch zum Teil den geistigen Hintergrund, vor dem diejenigen Akademiker und Journalisten im China der Gegenwart, die sich nicht von den durchaus attraktiven Angeboten des Staates vereinnahmen lassen wollen, denken: als „Intellektuelle“, als Erben eines idealisierten Beamtentums wollen sie im Sinne eines Mentorats, ja eines Zensorats tätig sein. Konfuzianisch gesinnte Konservative, Weberianer, „Kulturchristen“, Vertreter der „Neuen Linken“, der Falungong-Sekte, selbst die offiziellen Stellungnahmen der Parteileitung – alle sind sich darin einig, dass China, um wirklich „reich und mächtig“ zu sein, dem Werteverfall Einhalt gebieten muß, weil sonst die Staatsführung, traditionell gesprochen, Gefahr läuft, „das Mandat des Himmels“ zu verlieren. He Qinglian spricht von der im Volk und auch bei den „Intellektuellen“ verbreiteten Illusion vom „heiligen Herrscher und tugendhaften Minister“. Sie spricht den derzeitigen Machthabern zwar diese Qualitäten ab; doch nichts deutet darauf hin, dass auch sie sich im Grunde lediglich den moralischer agierenden Herrscher wünscht. Angesichts der longue durée des über Geschäftsordnungen arbeitenden chinesischen Staates spricht manches für diesen Wunsch. Doch auch ein mittlerweile wieder als Imperium agierendes China bleibt Mitglied der Weltgesellschaft. Ob für die erfolgreiche Erhaltung und Verbesserung dieses Status nur eine Rückkehr zur konfuzianischen Tugend ausreichen wird, kann bezweifelt werden.