Im letzten Jahrzehnt wurde das österreichische Herrschaftssystem 1933–1938 – nicht zuletzt auch aufgrund neuer Quellen und Ausstellungen – zum gefragten Gegenstand wissenschaftlicher Forschung. Niederschlag fand dies auch in Untersuchungen zu einzelnen Themen, denen bislang keine angemessene Beachtung geschenkt wurde. Die Wiener Zeithistorikerin Linda Erker hat nunmehr mit ihrer Veröffentlichung erstmals eine umfassende Analyse der Entwicklung der größten österreichischen Universität in diesem Zeitraum vorgelegt. Ihre Ausführungen stützen sich neben einschlägiger Literatur zur Thematik des austrofaschistischen Herrschaftssystems auf eine äußerst umfangreiche Quellenbasis. Diese reicht u.a. von Beständen des österreichischen Staatsarchivs, des Archivs der Universität Wien und der österreichischen Akademie der Wissenschaften, der Bundes- und Landespolizeidirektion bis hin zu Nachlässen, Zeitungen, Bundesgesetzblättern und Ministerratsprotokollen.
Wie aus dem Titel ersichtlich verwendet Erker für das Regime 1933–1938 die Bezeichnung „Austrofaschismus“. Ihre Begründung: Die Analyse der universitätspolitischen Eingriffe und Maßnahmen in den Jahren 1933–1938 bestätige, „dass Österreich anderen faschistischen Regimen wie Italien, Spanien aber auch Deutschland streckenweise um wenig bis nichts nachstand und als eine Variante faschistischer Herrschaft einzuordnen ist“ (S. 25). Das Faktum von Gemeinsamkeiten schließe allerdings Besonderheiten des österreichischen Herrschaftssystems keineswegs aus.
Im Blickpunkt von Erkers Analyse stehen die Wechselbeziehungen zwischen der politischen Ebene und der Universität Wien mit ihren Funktionären, Lehrenden und Studierenden. Wie im ersten Kapitel belegt, hatte die Universität Wien bereits vor 1933 eine enorme Politisierung erfahren – ablesbar an der Verbreitung antisemitischer und antidemokratischer Positionen und am zunehmenden Terror gegen jüdische und linke Studierende. Die Universitätsverwaltung war teilweise bereits nationalsozialistisch unterwandert.
Den Kernthemen der Untersuchung sind weitere fünf Kapitel gewidmet: dem NS-Studententerror, den austrofaschistischen Gegenmaßnahmen, den Veränderungen im Lehrkörper, den Gestaltungsansprüchen des Regimes, den Sanktionen gegen Lehrende und Studierende. Nicht zuletzt der Universitätsentwicklung in der Phase des austrofaschistischen Abstiegs in der Zeit nach dem Juliabkommen 1936. Die nach dem „Anschluss“ 1938 erfolgten Änderungen an der Universität Wien und die Entwicklung nach 1945 sind Gegenstand des letzten Kapitels.
Von Linda Erker wird äußerst differenziert und gut lesbar herausgearbeitet, welche Kontrollinstrumente der Austrofaschismus einsetzte, um seine Ziele, nämlich die Umgestaltung, Durchdringung und Mobilisierung der Universität Wien, auf Ebene der Verwaltung, der Lehrenden und Studierenden zu realisieren. Die Universitätsmitarbeiter:innen mussten den Diensteid auf das Regime leisten und hatten diesem treu und gehorsam zu dienen. Ein eigener Bundeskommissar wurde für Säuberungen bestellt. Sanktionen gegen illegal tätige Studierende beinhalteten Sperren des Studiums wegen NS-Betätigung und Engagement für linke Gruppierungen. Ein breites Spektrum von Sanktionen mit dem Ziel der Säuberung betraf auch Lehrende wie die Versetzung in den zeitlichen Ruhestand, die Außerdienststellung auf unbestimmte Zeit, Enthebungen bis hin zur Aberkennung der Lehrbefugnis, zum Verlust aller Rechte und Ansprüche und Inhaftierung in sogenannte Anhaltelager. Disziplinarkommissionen wurden eingerichtet, Lehrkanzeln aufgelöst. Betroffen waren fast ausschließlich nationalsozialistisch orientierte Lehrende, da es ab 1933 kaum noch linke Lehrende an der Universität Wien gab. Die Habilitationsnorm wurde dahingehend geändert, dass die Lehrbefugnis nur noch österreichische Bundesbürger:innen erhielten – womit die wissenschaftliche Provinzialisierung befördert wurde. Frauen waren im Austrofaschismus insgesamt diskriminiert und wurden auf Universitätsebene mittels der sog. Doppelverdienerverordnung systematisch zurückgedrängt.
Die weitreichendsten politischen Eingriffe in die österreichischen Universitäten ermöglichten die 1935 verabschiedeten Gesetze: das „Hochschulermächtigungsgesetz“ und das „Hochschulerziehungsgesetz“. Ersteres räumte u.a. dem Unterrichtsminister mehr Kompetenzen ein und setzte der Autonomie der Universitäten ein Ende. Zweiteres ermöglichte weitgehende Eingriffe in den Universitätsalltag der Studierenden. Erziehung wurde neben Lehre und Forschung als dritte Säule der austrofaschistischen Hochschule etabliert. Neue Vorlesungen (zur weltanschaulichen und staatsbürgerlichen Erziehung sowie über die ideellen Grundlagen Österreichs) wurden eingeführt; die verpflichtende Teilnahme männlicher Studierender an vormilitärischen Übungen und Hochschullager verordnet. Das Ziel insgesamt war eine gleichgeschaltete Universität mit katholischer Grundausrichtung.
Der Ausschluss nationalsozialistischer Studierender sollte die Basis dafür schaffen, eine eigene akademische und politisch klar ausgerichtete Führungsschicht hervorzubringen. Zugangsbeschränkungen wurden zudem bereits für angehende Studierende geschaffen; z.B. im Fall parteipolitischer Betätigung. Allerdings erwiesen sich die Versuche, die Universitäten auf Ebene der Lehrenden inhaltlich wie politisch gleichzuschalten, als nur wenig konsequent durchgeführt bzw. insbesondere ab 1936 überhaupt als Fehlschlag. Das Juliabkommen 1936 hatte zur Folge, dass auch auf Ebene der Universitäten der nationalsozialistischen Unterwanderung Tür und Tor geöffnet wurde. Die im Juliabkommen verordnete Amnestie kam auch nationalsozialistisch orientierten Studierenden zu Gute. Gleiches galt für die Amnestie im Rahmen des Berchtesgadener Abkommens vom Februar 1938.
Der Antisemitismus spielte schon vor 1938 an der Universität Wien direkt oder indirekt eine große Rolle. 1935 gab es auf Professorenebene im Bereich der Geisteswissenschaften kaum mehr Juden/Jüdinnen, die Diskriminierung jüdischer Studierenden bestand fort. Einschneidender noch waren diesbezüglich die Folgen des „Anschlusses“ 1938. Bemerkenswert ist Erkers Beleg dafür, dass die Nationalsozialisten bei den durchgeführten Änderungen im Hochschulbereich auf Vorarbeiten und gesetzliche Bestimmungen aus der Zeit des Austrofaschismus zurückgreifen konnten.
Abschließend zeigt die Untersuchung auf, dass in Österreich nach 1945 auf Ebene der Universität und der Akademie der Wissenschaften statt einer „Stunde Null“ eine Restauration erfolgte. Viele nationalsozialistisch belastete Professoren konnten ihre Karriere fortsetzen. Dabei erwies sich vor allem die Akademie der Wissenschaften als ein Auffangbecken. Die Reintegration der Ehemaligen in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre nahm – wie Linda Erker eindrücklich belegt – auch an den Universitäten noch einmal merklich zu.
Mit den Änderungen der Universitätspolitik in den Jahren 1933–1938 stand Österreich in der Zwischenkriegszeit nicht allein. Der Vergleich der Ergebnisse der Analyse von Linda Erker mit den bisherigen Erkenntnissen von Fallstudien zu den Auswirkungen von Diktaturen auf den Hochschulbereich zeigt, dass die in der bisherigen Forschung festgestellten idealtypischen Eingriffe sich auch in der Entwicklung der Universität Wien von 1933 bis 1938 erkennen lassen: Eingriffe in Forschung und Lehre mit neuen ideologischen Schwerpunkten, Säuberung des Lehrkörpers und der Gruppe der Studierenden, Zugangsbeschränkungen als Garantie der Auslese, Einschränkung bzw. Beseitigung der Selbstverwaltung der Hochschulen und Konzentration auf nationale Forschung.
Linda Erker hat mit ihrer ausgezeichneten, kenntnisreichen Untersuchung nicht nur einen erstmals umfassenden Beitrag zur Entwicklung der Universität Wien im gegenständlichen Zeitraum geleistet. Sie hat damit wesentlich auch zur Einsicht in den Austrofaschismus, dessen Gestaltungsansprüche, politische Maßnahmen und Deutung beigetragen. Nur knapp gehalten ist die Darstellung der politischen Entscheidungsprozesse. Breiter ausgeführte Vergleiche mit der Universitätsentwicklung in anderen faschistischen Herrschaftssystemen wären von Interesse und wünschenswert.