Während Thomas Pikettys Welterfolg Das Kapital im 21. Jahrhundert auch unter Historiker:innen breites Interesse gefunden hat und beispielsweise bei H-Soz-Kult in einem Review-Symposium umfangreich besprochen wurde, ist seinem darauffolgenden Buch Kapital und Ideologie in den Besprechungsplattformen und Zeitschriften der Geschichtswissenschaft weit weniger Aufmerksamkeit zuteilgeworden. Die Ausnahmen bildeten im Jahr 2021 Besprechungen der Wirtschaftshistoriker Harold James und Jochen Streb, die neben der Bewunderung für die Datenfülle aber auch Skepsis gegenüber der nun stärkeren Einbeziehung ideologischer Motive äußerten.1
Dies wird Kapital und Ideologie aber aus meiner Sicht nicht ausreichend gerecht. Während Piketty in Das Kapital im 21. Jahrhundert fast ausschließlich auf quantifizierende ökonomische Studien zurückgegriffen hat, zeugt sein neueres Buch von einer umfangreichen Auseinandersetzung mit historischen Arbeiten. Diese Einbeziehung hat seine Argumentation grundsätzlich verändert. Während sein früheres Werk einem starken ökonomischen Determinismus verhaftet war, hat er diesen jetzt weitgehend ad acta gelegt. So spielt auch seine Großthese, dass der Verlauf der Ungleichheit sich allein aus dem Verhältnis der Höhe von Zinsen und Wirtschaftswachstum ableiten lasse, im neueren Band keine Rolle mehr. Auch hat er sich von seiner vorherigen These verabschiedet, dass die Verringerung der Ungleichheit im 20. Jahrhundert fast ausschließlich durch die beiden Weltkriege und die durch sie ausgelösten Veränderungen zu erklären wäre. Vielmehr hebt er jetzt die Rolle sozialer Kämpfe im 19. Jahrhundert und deren Einfluss auf die Veränderung der Wahrnehmung von sozialer Ungleichheit hervor.
Insgesamt entwirft Piketty im neueren Buch eine lange Geschichte der Verhältnisse und Wahrnehmungen von sozialer Ungleichheit, die für Historiker:innen von höchstem Interesse sein sollte. Es ist von daher begrüßenswert, dass mit dem History Compass im Frühjahr 2022 endlich eine historische Zeitschrift ein Symposium zum Buch publiziert hat, das deutlich macht, dass es Historiker:innen gibt, die Pikettys Angebot für eine engere Zusammenarbeit von Wirtschafts- und Geschichtswissenschaft aufzugreifen bereit sind.2 Es bleibt zu hoffen, dass nun auch unter deutschen Historiker:innen eine vertiefte Auseinandersetzung einsetzt.3
Ein guter Anlass könnte das Erscheinen des hier zu besprechenden Buches sein, das viele Argumente von Kapital und Ideologie in kondensierter Form zusammenfasst, um sie einem breiteren Lesekreis zugänglich zu machen. Auch in diesem bezieht Piketty sich in umfangreicher Weise auf historische Forschung. So werden in der Einleitung im Fließtext eine beachtliche Zahl von Historiker:innen aufgerufen, darunter u.a.: Kenneth Pomeranz, Fernand Braudel, Sven Beckert, Prasannan Parthasarathi, Frederick Cooper, Catherine Hall, Or Rosenboim, Emmanuelle Saada, Pierre Singaravelou, Alessandro Stanziani, Sanjay Subrahmanyam, Ernest Labrousse, Jean Bouvier, Marc Bloch, Adeline Daumard, François Simiand und Emmanuel Le Roy Ladurie. Bei einer Einleitung von fünfzehn Seiten ist dies eine beachtliche Menge. Dem Buch von Kenneth Pomeranz zur „Great Divergence“ wird dabei sogar attestiert, „the most important and influential book on the history of the world economy“ (S. 3) zu sein. Aus der Namensliste geht auch deutlich hervor, auf welche Historiker:innen sich Piketty vor allem bezieht: zum einen auf die Annales-Schule, zum anderen auf jene, die sich kritisch mit der Geschichte des europäischen Imperialismus und Kolonialismus auseinandergesetzt haben. Piketty spricht der Geschichtswissenschaft zudem eine zentrale Rolle zu, um die Probleme der Gegenwart zu lösen (S. 13).
Der Hauptteil des Buches ist in zehn kurze Kapitel unterteilt. Im ersten Kapitel betont Piketty, dass sein Buch kein pessimistisches sei, sondern der Kampf für mehr Gleichheit gewonnen werden könne. So sei etwa die Gesundheit oder die Bildung der Weltbevölkerung besser entwickelt als jemals zuvor in der Weltgeschichte. Allerdings seien sowohl das gegenwärtige Bevölkerungs- wie Wirtschaftswachstum für den Planeten nicht verträglich. Dazu trage auch das Ausmaß an Ungleichheit bei. Der Verbrauch von Rohstoffen und die Erderwärmung seien maßgeblich von den Wohlhabenden zu verantworten, weswegen ihr Verbrauch einzuschränken und ihr Wohlstand umverteilt werden müsse. Im zweiten Kapitel skizziert Piketty die Entwicklung sozialer Ungleichheit seit dem 18. Jahrhundert. Er interpretiert die Französische Revolution zwar auch als eine der Gleichheit, weil sie Adelsprivilegien einschränkte. Gleichzeitig habe sie jedoch durch die Sakralisierung des Privateigentums dazu beigetragen, dass die Ungleichheit im 19. Jahrhundert weiter anstieg.
Das dritte Kapitel, in dem Piketty sich mit der Rolle von Sklaverei und Kolonialismus bei der Durchsetzung der europäischen Vorherrschaft beschäftigt, dürfte unter Geschichtswissenschaftler:innen wohl am umstrittensten sein. Piketty unterstützt hierbei vehement die Thesen von Kenneth Pomeranz und behauptet, dass die Forschung diese durchweg bestätigt habe (S. 55). Dabei geht Piketty erstens im Anschluss an Pomeranz davon aus, dass Europa Mitte des 18. Jahrhunderts in ökonomischer Hinsicht noch keinen Vorsprung vor China, Japan oder Indien gehabt habe und China den Idealen von Adam Smith nähergekommen sei als Großbritannien. Der ökonomische Siegeszug sei so nicht vorrangig ökonomischer Stärke, sondern militärischer Überlegenheit zu verdanken, die die Möglichkeit geschaffen habe, die Konkurrenz zu unterdrücken und kolonisieren. Doch diese Thesen sind in der Forschung alles andere als unumstritten. Neuere Forschungen haben gezeigt, dass das Bruttoinlandsprodukt in Europa schon weit vor dem 18. Jahrhundert stärker als in Asien gewachsen war, so dass es pro Kopf bereits um 1700 in Großbritannien doppelt und in den Niederlanden dreimal so hoch war wie in China, welches wiederum deutlich vor Indien und Japan lag. Des Weiteren wird von Pomeranz‘ Kritiker:innen argumentiert, dass es seit der Aufklärung in Europa zu einer Sammlung von anwendungsrelevantem Wissen gekommen sei, die es in ähnlicher Form in Asien nicht gegeben habe. Dies gelte auch für Wirtschaftsstatistiken, die in Europa umfangreich angelegt wurden, während sie in China in deutlich geringerem Umfang vorhanden waren, weswegen auch die Datengrundlage für einige Aussagen von Pomeranz bezüglich China äußerst dünn sei.4
Das zweite Argument von Pomeranz, für das sich Piketty stark macht, lautet, dass die Industrielle Revolution ohne die Zufuhr von Rohstoffen aus den Kolonien und den Sklavenhaltergesellschaften nicht möglich gewesen wäre. Belegt wird dies mit Pomeranz Kalkulation, dass allein für die Herstellung der eingeführten Menge an Holz, Baumwolle und Zucker die anderthalbfache bis doppelte Menge an nutzbarem Land benötigt worden wäre, die es in Großbritannien überhaupt gab. Für Piketty spricht dies dafür, dass ein autarkes Europa im 19. Jahrhundert nicht das Maß an Wohlstand hätte erreichen können, welches es durch die Ausbeutung von Kolonien und Sklavenarbeiter:innen errang. Doch auch dieses Argument ist keineswegs unumstritten.5 So entsteht der Eindruck, dass Piketty sich so vehement auf die Seite Pomeranz‘ schlägt, um seiner folgenden Forderung nach Reparationen für Kolonialismus und Sklaverei (Kapitel 4) stärkere Argumentationskraft zu verleihen, obwohl sich beispielsweise seine Forderung nach einer Rückzahlung der der Republik Haiti von Frankreich abgetrotzten Reparationszahlungen auch ohne die Herausstreichung der Bedeutung von Sklaverei und Kolonialismus für die Durchsetzung der Industriellen Revolution rechtfertigen lässt.
Überzeugender fällt Pikettys Durchgang durch die Entwicklung sozialer Ungleichheit seit der Französischen Revolution aus (Kapitel 5 und 6). Hier zeigt er, dass in der Revolution zwar Adelsprivilegien abgeschafft wurden, der Adel aber im 19. Jahrhundert durch seine ökonomische Macht weiterhin über erheblichen Einfluss verfügte. In Paris stellten Adelige im 19. Jahrhundert beispielsweise fast die Hälfte des obersten Prozents der Vermögenden. Auch durch das Zensuswahlrecht, das häufig an die Summe der gezahlten direkten Steuern gekoppelt war, dominierten die Wohlhabenden die Politik und die Ungleichheit stieg auf neue Höhen. Erst zur Jahrhundertwende begann sich dies zu wandeln. Piketty bezeichnet den Zeitabschnitt von 1914 bis 1980 als Phase der „großen Umverteilung“. Diese ist dadurch gekennzeichnet, dass nun auch die Mittelschicht über Vermögen verfügten und die Unter- und Mittelschichten einen größeren Teil vom Gesamteinkommen für sich beanspruchen konnten. Hierfür sind für Piketty zwei Veränderungen maßgeblich: erstens der Ausbau des Sozialstaats und zweitens die zunehmend progressivere Gestaltung des Steuersystems.
In den folgenden vier Kapiteln skizziert Piketty vor allem seine Vorstellungen für eine zukünftige Politik, wenn auch zum Teil basierend auf historischen Exkursen. Ohne Einschränkungen lehnt Piketty sowohl die sowjetische wie die chinesische Form des Kommunismus ab. Er fordert stattdessen einen dezentralen und demokratischen Sozialismus. Im Zentrum seiner Vorschläge stehen dabei der weitere Ausbau des Wohlfahrtsstaates und die Nutzung des Steuersystems für eine weitreichendere Umverteilung. Darüber hinaus werden aber auch Vorschläge zur Geschlechtergerechtigkeit, zur Bekämpfung des Rassismus und des Klimawandels sowie zu einer Umverteilung zwischen armen und reichen Ländern gemacht. Man könnte diesen Teil ein aktualisiertes sozialdemokratisches Reformprogramm nennen, das in seiner Reichweite jedoch deutlich über das hinausgeht, was sich in den Wahlprogrammen heutiger sozialdemokratischer Parteien finden lässt.
Anmerkungen:
1 Harold James, in: Journal of Interdisciplinary History, 51 (2021) 4, S. 623–625; Jochen Streb, in: VSWG 108 (2021) 3, S. 421–423.
2 Symposium on Thomas Piketty’s Capital and Ideology, in: History Compass 20 (2022) 4. Daneben ist auch noch hinzuweisen auf die Beiträge der Historiker David Motadel und Pedro Ramos Pinto in einem ansonsten soziologisch geprägten Review-Symposium: Special Issue on Thomas Piketty, Capital and Ideology, in: British Journal of Sociology 72 (2021) 2.
3 Hier sei auf die inzwischen erschienene deutsche Fassung verwiesen: Thomas Piketty, Eine kurze Geschichte der Gleichheit, übers. v. Stefan Lorenzer, München 2022.
4 Stephen Broadberry u.a., British Economic Growth 1270–1870, Cambridge 2015, insb. S. 375; Kent Deng / Patrick O'Brien, Establishing Statistical Foundations of a Chronology for the Great Divergence. A Survey and Critique of the Primary Sources for the Construction of Relative Wage Levels for Ming-Qing China, in: Economic History Review 69 (2016), S. 1057–1082; Peter Kramper, Warum Europa? Konturen einer globalgeschichtlichen Forschungskontroverse, in: Neue Politische Literatur 54 (2009), S. 9–46; Bozhong Li / Jan Luiten van Zanden, Before the Great Divergence? Comparing the Yangzi Delta and the Netherlands at the Beginning of the Nineteenth Century, in: The Journal of Economic History 72 (2012), S. 956–989.
5 Siehe z.B. Werner Plumpe, Das kalte Herz. Kapitalismus. Die Geschichte einer andauernden Revolution, Berlin 2019, S. 131f.