Cover
Titel
Pierre Bourdieu und die Fotografie. Visuelle Formen soziologischer Erkenntnis. Eine Rekonstruktion


Herausgeber
Schultheis, Franz; Egger, Stephan
Anzahl Seiten
131 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Axel Philipps, Institut für Soziologie, Leibniz Universität Hannover

Das Werk von Pierre Bourdieu und seine Konzepte wie der soziale Raum, das soziale Feld oder der Habitus nehmen einen zentralen Stellenwert in gegenwärtigen soziologischen Analysen ein. Ebenso sind seine Theorie und seine Untersuchungen Bestandteil des soziologischen Kanons. Seine Bücher und Beiträge werden in Vorlesungen und Seminaren zur Sozialstrukturanalyse, politischen Soziologie, Wissenschaftsforschung, Methoden der empirischen Sozialforschung und in anderen Forschungsfeldern vermittelt. In dieser Fülle bleibt jedoch der Fotograf Pierre Bourdieu zumeist unterbelichtet. Obwohl seine Aufnahmen in vielen seiner Bücher und Artikel zu finden sind, beschäftigen sich nur wenige mit seiner fotografischen Praxis. Neue Einblicke bietet nun das Büchlein Pierre Bourdieu und die Fotografie, welches sich als Einstiegsband zu einer fünfteiligen Buchreihe ganz den Fotografien aus Bourdieus Zeit in Algerien und ihrer Bedeutung für seine Art des soziologischen Arbeitens widmet.

Die Autorinnen und Autoren des Einführungsbandes stellen in ihren Beiträgen verschiedene Facetten zu Bourdieus fotografischer Praxis und den erhalten gebliebenen Negativen wie auch zu Abzügen aus seiner frühen ethnografischen Forschung im Algerien der 1950er- und 1960er-Jahre vor. Während dieser Zeit entstanden ungefähr 3.000 fotografische Abbildungen, auf welche Bourdieu für seine Veröffentlichungen bis kurz vor seinem Tod im Jahr 2002 zurückgriff (S. 31). Von diesen Aufnahmen werden im Archiv der Camera Austria 1.200 Fotografien kuratiert. Der Sammelband präsentiert daraus eine breite Auswahl an Fotografien, welche neben den Texten zumeist in einem relativ kleinen Format (ungefähr in der Größe von Kontaktabzügen) Einblicke in die Bildinhalte geben. Diese Vorgehensweise erlaubt, eine große Fülle zu zeigen, erschwert jedoch den unkundigen Leserinnen und Lesern eine Einordnung, da sich die Autorinnen und Autoren auch nur in wenigen Ausnahmen auf einzelne Fotografien beziehen. Dieser Umstand ist schade, da der Band kein unkommentierter Fotokatalog ist, sondern den Fotografen Bourdieu im Kontext des Algerienkrieges vorstellt. Letzteres gelingt den Beiträgen wiederum herausragend, wenn sie plastisch in die sozialen und politischen Umstände der Zeit einführen, in der Bourdieu seine Feldforschung in Algerien betrieb, oder wenn sie seine Motive offenlegen, warum er eine Kamera mit sich führte.

Ein besonderer Anspruch des Bandes ist, über Bourdieu die Fotografie wieder zur Methode in der Soziologie zu machen. Tatsächlich fehlen in den meisten soziologischen Arbeiten der Gegenwart fotografische Darstellungen der untersuchten sozialen Phänomene. Bourdieus Zusammenstellung von Haupttext, Tabellen, Diagrammen, Plots, Interviewauszügen und fotografischen Abbildungen von Wohnzimmerausstattungen und getragener Kleidung in seinem Buch Die feinen Unterschiede1 sticht bis heute heraus. Dabei steht er, wie Christine Frisinghelli im Band (S. 71) exemplarisch herausstellt, unzweifelhaft in der Tradition einer engagierten humanistischen Fotografie. Tatsächlich war diese frühe Form der Dokumentation aus dem soziologischen Diskurs seit den 1930er-Jahren verschwunden2 und fand mit Bourdieu kurzzeitig erneut Einzug. Dies gilt aber nur, wenn wir uns auf die Soziologie beschränken. In der Anthropologie und Ethnografie wird die fotografische und filmische Dokumentation bis heute ungebrochen praktiziert. Es bleibt unklar, wie den Autorinnen und Autoren des Bandes gelingen will, Fotografieren wieder zum methodischen Handwerkszeug in der Soziologie zu machen. Das im Band vorgestellte Konzept der „dichten“ Repräsentation (S. 38) scheint ein Ansatzpunkt zu sein, jedoch fehlt eine nähere Bestimmung. Was ist damit gemeint und wie ist es umzusetzen? Besonders wichtig erscheint mir, das Verhältnis zum Konzept Dichte Beschreibung nach Clifford Geertz zu klären, da „dichte Beschreibungen mit dichten Repräsentationen zu ergänzen“ (S. 39) seien. Sollen fotografische Dokumente weitere Details liefern? Wie tragfähig ist der Ansatz? Insbesondere bei der Analyse von Praktiken käme eine dichte Repräsentation beispielsweise an ihre Grenze, da sich, laut Geertz, solche Praktiken „nicht photographisch festhalten“3 lassen.

Insgesamt sind die Fotografien im Buch selbst zu wenig Gegenstand der Analysen und Betrachtungen. Der Schwerpunkt der Ausführungen liegt auf Kontextbeschreibungen der gesellschaftlich-politischen Umstände und darauf, was Bourdieu motivierte, Fotografien anzufertigen. Die vielen Abbildungen im Band bleiben zumeist nur Beiwerk. Sie geben zwar Einblicke in Bourdieus fotografische Themen. Die Abbildungen kommen jedoch ohne Bildunterschriften daher und es gibt in den geschriebenen Beiträgen keine direkten Verweise zu den Bildern. Nur an wenigen Stellen wird indirekt auf das Abgebildete Bezug genommen, wobei es Aufgabe der Leserinnen und Leser bleibt, die passende Fotografie auf den Buchseiten zu identifizieren.

Damit verschenken die Autorinnen und Autoren des Einführungsbandes die Gelegenheit, an Bourdieus Fotografien selbst den Mehrwert der Analyse visueller Daten zu demonstrieren. Was würden wir über den Fotografen Bourdieu lernen, wenn wir durch den Sucher seiner Kamera auf die Welt schauen? Denkbar wäre gewesen, beispielsweise das Thema körperliche Hexis, zentral für Bourdieus Verständnis von Habitus, an seinen Fotografien zu veranschaulichen. Oder die Praxis des Fotografierens, wie Bourdieu und andere im Buch Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Fotografie,4 selbst zum Gegenstand zu machen und daran zu zeigen, wie sich bestimmte Praktiken aus verinnerlichten Haltungen erklären lassen. So findet sich etwa Bourdieus Anspruch, das Leiden der algerischen Bevölkerung in besonderer Weise sichtbar zu machen, in seiner eigenen Fotopraxis wieder. Zieht man zum Beispiel seine im Band auf den Seiten 70 bis 73 reproduzierte Fotoserie heran, wird deutlich, dass „die Blickebene seiner Fotografien immer sehr tief [liegt]“ (S. 71). Natürlich hängt dies pragmatisch mit der Art der von ihm verwendeten Kamera zusammen, deren Sucher oben angebracht ist. Zugleich wählt er für seine eigenen Publikationen Aufnahmen aus, auf denen die Abgebildeten von leicht unten aufgenommen wurden, so etwa in dem Buch Travail et travailleurs en Algérie.5 Vorsichtig formuliert, dokumentiert sich in dieser Darstellungspraxis seine Haltung, „liebevoll“ (S. 59) die Abgebildeten überhöht zu zeigen.

Eine genaue Betrachtung der fotografischen Abbildungen und ihrer Bildformate im Band wirft schließlich die Frage auf, auf wen die Bilder im 3:4-Format zurückgehen. Bourdieu verwendete in Algerien eine Zeiss Ikoflex mit einem 6:6-Format. Sind die Abbildungen im 3:4-Hoch- bzw. -Querformat daher überhaupt von Bourdieu? Oder gehen sie auf Abdelmalek Sayad zurück? Für letzteres sprechen einerseits das Kürzel A im Bildnachweis ab Seite 123 und der Umstand, dass er Bourdieu im Aln Aghbel-Gebiet begleitete. Andererseits finden sich in Sayads eigenen Aufsätzen Fotografien im Format 3:4.6 Wenn jedoch dieses Bildformat auf Sayad zurückgeht, kann dann davon gesprochen werden, dass sich die Abgebildeten Bourdieu zugewendet haben und er eine Nähe aufbauen konnte? Viele Aufnahmen im Buch, in denen sich die Abgelichteten dem Fotografen direkt zuwenden, sind im 3:4-Format.

Im Fazit leisten die Autorinnen und Autoren des Bandes einen wichtigen Beitrag, eine kaum thematisierte Seite des Soziologen Pierre Bourdieu zu präsentieren. Sie bringen uns Bourdieu als Fotografen in den Anfängen seiner soziologischen Arbeit näher und geben Einblicke in sein fotografisches Vermächtnis.

Anmerkungen:
1 Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede, Frankfurt am Main 1987.
2 Felix Keller, Die Darstellbarkeit von Ordnung: Soziologischer Ikonoklasmus im 20. Jahrhundert, in: Christiane Reinecke / Thomas Mergel (Hrsg.), Das Soziale ordnen. Sozialwissenschaften und gesellschaftliche Ungleichheit im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2012, S. 53–89.
3 Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt am Main 1987, S. 11.
4 Pierre Bourdieu / Luc Boltanski / Robert Castel / Jean-Claude Chamboredon / Gerard Lagneau / Dominique Schnapper, Eine illegitime Kunst: Die sozialen Gebrauchsweisen der Fotografie, Hamburg 2014.
5 Vgl. Pierre Bourdieu / Alain Darbel / Jean-Pail Rivet / Claude Seibel, Travail et travailleurs en Algérie, Paris 1963.
6 Vgl. Abdelmalek Sayad, Qu’est-ce que l’intégration?, in: Hommes & Migrations 1182 (1994), S. 8–14.

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