Kurz nach der Zusage für diese Besprechung bekam ich wie erwartet einen „Europavisionen“-Band zugeschickt – erst nachdem ich, wie ich zu meiner Schande gestehen muss, bereits mit dessen Lektüre begonnen hatte, fiel mir auf, dass es sich dabei um das falsche Buch handelte, nämlich eine andere Neuerscheinung mit ähnlichem Titel.1 Prägnanter als mit dieser Episode vom vertauschten Rezensionsexemplar könnte man den aktuellen Boom des Themas wohl kaum untermalen. Angesichts der gesellschafts-, sicherheits- und klimapolitischen Herausforderungen unserer Tage ist Europa in der Forschung, aber auch in der historisch-politischen Bildungsarbeit als eine zentrale Herausforderung erkannt worden. So geht der – nun korrekt (!) – vorliegende Band auf eine Veranstaltungsreihe der Stiftung Topographie des Terrors zurück. Insbesondere die gegenwärtige „Zunahme von Nationalismus, Rassismus und Demokratiefeindlichkeit“ (S. 8) lasse das Thema, wie deren Direktorin Andrea Riedle in ihrem Vorwort betont, für das Dokumentationszentrum so zentral werden.
Analytisch strebt der Band an, die Europaideen des 20. Jahrhunderts stärker als üblich politisch zu kontextualisieren, diese eben nicht als Etappen auf dem Weg zur europäischen Integration, sondern in ihrer ganzen historischen Vielfalt zu interpretieren. Auf den ersten Blick mag irritieren, dass infolgedessen unter dem Titel „Visionen“ zahlreiche genuin antidemokratische Europaideen firmieren, die sich historisch als wenig zukunftsträchtig und zudem überaus destruktiv erwiesen haben: Darunter fallen die von Michael Wildt völlig zu Recht als reine „Camouflage“ (S. 101) entlarvten Pläne für ein „Neues Europa“ des NS-Regimes, das im Vergleich dazu ordnungspolitisch deutlich elaboriertere und öffentlichkeitswirksamer verhandelte Europakonzept des italienischen Faschismus (Monica Fioravanzo) oder die am Grundsatz internationaler Klassensolidarität orientierten Europavorstellungen des Kommunismus, der laut Francesco di Palma historisch bei allen grenzübergreifenden Ansprüchen jedoch stets in engen nationalen Kontexten verhaftet blieb. Auch aktuelle Desintegrationstendenzen finden in Form eines Beitrags von N. Piers Ludlow Beachtung, der souverän die Hintergründe des Brexit erklärt und der Frage nach möglichen Lehren daraus nachspürt. Derartige Perspektiven sind selbstredend völlig im Einklang mit der neueren Europaforschung und zeigen die historische Deutungsoffenheit und Fragilität Europas. Gleichwohl bleibt so gerade bezüglich der einleitenden, konzeptionellen Abgrenzungen zu Rechtspopulismus, Rassismus und Nationalismus doch ein Stück weit offen, was das vereinte Europa denn als eine spezifisch demokratische Vision attraktiv macht.
Damit einhergehend fällt auf, dass im Unterschied zum weiten ideengeschichtlichen Europabegriff die Europapraxis in dem Band sehr viel enger gefasst wird. So diagnostizieren die Herausgeber historisch wie gegenwärtig ein Spannungsverhältnis von visionären, aber mit Blick auf die konkrete Umsetzung oft unrealistischen Europaideen und einer Praxis der europäischen Integration, die „bürokratisiert, intransparent und bürgerfern“ sei (S. 9). Offenkundig ist letztere also deckungsgleich mit dem institutionellen Integrationsprozess. Die Frage ist, ob mit einem weiteren Verständnis nicht auch andere Praktiken einer Vernetzung Europas eingefangen werden könnten, die den Menschen lebensweltlich deutlich näher sind als die Brüsseler Bürokratie – man denke nur an das vor einigen Jahren von Timothy Garton Ash begrifflich so prägnant gefasste „easyJet Europa“ in Gestalt einer alltäglich erfahrenen Reisefreiheit, deren Infragestellung und partielle Einschränkung etwa im Zuge des Brexit, der Terrorbekämpfung oder der Corona-Pandemie ja nicht zufällig Proteste einer dann plötzlich durchaus präsenten europäischen Zivilgesellschaft provozierte. Zumindest der Beitrag von Jochen Oltmer zum Schengener Abkommen und dem europäischen Migrationsregime deutet in diese Richtung. Insgesamt erfährt man in dem Band indes fast mehr über den – wiederum oft stark kritischen – Blick von außen auf Europa denn über Binnenperspektiven. Insbesondere die instruktiven Beiträge von Dominic Sachsenmaier und Stefan Rinke zu Europaperspektiven in China bzw. Lateinamerika, wo Europa weniger als tagespolitischer, sondern mehr als kultureller – und fußballerischer – Bezugspunkt bedeutsam war und ist, thematisieren dabei erfreulicherweise Regionen, die in der Europaforschung sonst unterbelichtet bleiben.
Ohnehin ist das Feld der Autorinnen und Autoren hochkarätig besetzt und die einzelnen Themen werden durchweg auf ausgezeichnetem Niveau präsentiert. Jürgen Kocka liefert einen ideengeschichtlichen Parforceritt durch die bis in die Antike zurückreichende Geschichte der europäischen Identitätsbildung mittels Abgrenzung von den „Anderen“, im Zuge derer Rassismus und Selbstüberheblichkeit einen festen Platz hatten. Hélène Miard-Delacroix historisiert sachkundig die französischen Reforminitiativen der Macron-Ära, die sie bei aller realpolitischen Grundierung im wirtschaftlichen Bereich letztlich in einer größeren, im optimistischen Fortschrittsglauben der Jahre nach 1950 wurzelnden Kontinuitätslinie verortet. Anhand biografischer Tiefenbohrungen illustriert Kiran Klaus Patel eindrucksvoll sowohl die Relevanz parlamentarischer Netzwerke für die Übersetzung von Europaideen in die politische Praxis als auch den Bedeutungsgewinn des Parlaments als einem Organ im europäischen Integrationsprozess: Unabhängig von konkreten europapolitischen Positionen hat sich das lange gültige Bonmot „Haste einen Opa, schick ihn nach Europa“ (S. 66) längst überlebt.
Auffällig ist, dass die Länge und empirische Dichte der Beiträge doch erheblich variiert. Zu den kürzeren zählt derjenige von Jan Claas Behrends über das wechselhafte Verhältnis von Russland und Europa – von den Versuchen einer „autoritären Europäisierung“ des Landes unter Zar Peter I. über die ambivalenten sowjetischen Europapositionen zwischen antagonistischer Abgrenzung und Sehnsucht nach dem von Gorbatschow proklamierten „gemeinsamen Haus Europa“ bis hin zur sich nach 1991 rasch ausbildenden russischen Sonderwegsideologie, im Zuge derer vermeintliche Werteunterschiede mit Kampfbegriffen wie „GEJropa“ propagiert werden – der abschließende Befund, dass heute die „Herrschenden jede Annäherung an Europa“ (S. 153) ablehnen, hat durch die jüngsten Ereignisse seit Drucklegung des Bandes Ende 2021 eine ungewollte Zuspitzung erfahren. Kaum mehr als eine Miszelle ist Jessica Gienow-Hechts Überblick über US-amerikanische Europavorstellungen seit 1865: Während die These, dass die USA 150 Jahre gebraucht hätten, um einen kohärenten Blick auf die „alte Welt“ zu gewinnen, nur um diesen dann in den letzten Jahrzehnten wieder zu verlieren, grundsätzlich sicher fruchtbar ist, hätte es mehr als siebeneinhalb Seiten gebraucht, um die These auch empirisch zu unterfüttern und auszudifferenzieren. Insbesondere die identitätsstiftende Wirkung abgrenzender Europakonzeptionen im frühen 20. Jahrhundert bleibt bei allen Verweisen auf gleichzeitige Kulturtransfers, eine punktuelle europäische Vorbildfunktion im sozialpolitischen Bereich, transatlantische Reisen und Eheschließungen doch sehr im Dunkeln.2
Insgesamt aber liegt eine gehaltvolle Publikation vor, die gut als thematische Einführung funktioniert, aber auch durchaus innovative Akzente zu setzen vermag: Diesbezüglich sind besonders die Beiträge der beiden Herausgeber hervorzuheben: Entgegen der landläufigen Annahme vom bürgerfernen Brüssel zeigt Hartmut Kaelble, wie die Bürgerinnen und Bürger im Zuge des europäischen Integrationsprozesses sukzessive immer mehr Handlungsmacht anstrebten – und auch erlangen konnten. Obschon diese häufig zur Artikulation von Protest genutzt und von einem schwindenden Vertrauen in die EU begleitet wird, macht dies doch unter demokratiehistorischen Gesichtspunkten Hoffnung. Arnd Bauerkämper schließlich stellt im historischen Längsschnitt Überlegungen zu niederschwelligen europäischen Austauschprozessen „von unten“ an, die etwa in Form des sozialen Engagements von grenzüberschreitend agierenden Nichtregierungsorganisationen zwar selten direkt zu einem „Mehr“ an Europa führten, aber doch die Genese eines europäischen Bewusstseins begünstigten und im Zuge ihrer Beschleunigung seit dem Zweiten Weltkrieg auch den Integrationsprozess flankierten. Mit einem zumeist reduzierten Anmerkungsapparat, einer weitgehenden Ausblendung kleinteiliger Forschungskontroversen und seinem angenehm erschwinglichen Preis richtet sich der Band offenkundig auch und gerade an eine breitere Öffentlichkeit – und es bleibt zu hoffen, dass er eine entsprechende Rezeption finden wird.
Anmerkungen:
1 Martin Kirschner / Richard Nate (Hrsg.), Europa: Krisen, Vergewisserungen, Visionen. Interdisziplinäre Annäherungen, Bielefeld 2020.
2 Adelheid von Saldern, Amerikanismus. Kulturelle Abgrenzung von Europa und US-Nationalismus im frühen 20. Jahrhundert, Stuttgart 2013.