B. Niven: Jud Süß – das lange Leben eines Propagandafilms

Cover
Titel
Jud Süß. Das lange Leben eines Propagandafilms


Autor(en)
Niven, Bill
Erschienen
Halle (Saale) 2022: Mitteldeutscher Verlag
Anzahl Seiten
240 S.
Preis
€ 18,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Johanne Hoppe, Filmmuseum Potsdam

Ein weiteres Buch ist zu Veit Harlans Jud Süss erschienen – dem einen Propagandafilm des Nationalsozialismus (NS), über den schon mehr als ausgiebig geschrieben wurde. Verstellt nicht die Fokussierung auf einen einzelnen Film als Repräsentant für das NS-Propagandakino den Blick auf alle anderen Filme mit ähnlicher oderweniger offensichtlicherer Propaganda? Bedarf es hier tatsächlich noch weiterer Forschung?

Bill Niven stellt seine Arbeit in den Kontext zahlreicher Forschungsergebnisse, konstatiert jedoch Lücken für die Nachkriegsrezeption und den Umgang mit dem Film in der Bundesrepublik Deutschland (BRD). Von einem komparatistischen Ansatz ausgehend untersucht er zunächst Quellen zur Figur des historischen „Jud Süß“, eigentlich Joseph Süß Oppenheimer. Dieser wurde 1732 Hoffaktor des Herzogs Karl Alexander von Württemberg und 1738 durch ein auf antisemitischen Verleumdungen beruhendes Todesurteil von der württembergischen Justiz ermordet. Anhand dieser Quellen sowie unterschiedlicher Romanvorlagen und Filme, die den historischen Stoff verarbeiten, arbeitet Niven die antisemitische Zuspitzung und Geschichtsverfälschung des NS-Films heraus und belegt darüber hinaus anhand von Fassungsvergleichen, dass durch Harlans Zutun das Drehbuch an antisemitischer Aufladung gewann. Daneben stellt er die erfolgreiche Kinoauswertung in Deutschland und Europa dar und beschreibt die antisemitischen Ausschreitungen nach den Kinovorführungen sowie die verpflichtenden Sichtungen für Personal der Konzentrationslager (KZ) und Mitglieder der Schutzstaffel (SS), welche die antisemitischen Absichten des Films belegen.

In der Folge geht der Autor auf den Umgang mit Veit Harlan und seinem propagandistischen Werk nach 1945 ein. In seinem Entnazifizierungsverfahren wurde Harlan als unbelastet eingestuft. Harlan beteuerte öffentlich seine Unschuld und behauptete, Juden bei der Flucht geholfen zu haben. 1949 wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit für die Regie von Jud Süss angeklagt, wurde er 1950 nach einem Revisionsverfahren vom Hamburger Landgericht freigesprochen, was zu einem öffentlichen Skandal führte. Das Gericht erkannte weder Harlans Täterschaft noch eine Mitursächlichkeit zwischen NS-Propagandafilmen und Pogromen an. Das Urteil war wegweisend für alle Filmschaffenden, die sich von nun an mit der Aussage, „unter Zwang“ (S. 88f.) gehandelt zu haben, entlasten konnten.

Anschließend führt Niven die Proteste gegen Harlans Filme Unsterbliche Geliebte (BRD 1950/51) und Hanna Amon (BRD 1951) an, bei denen es Anfang der 1950er-Jahre zu Angriffen auf Jüd:innen kam und die Polizei gewaltsam gegen Demonstrierende vorging. Währenddessen inszenierte sich Harlan als Opfer des NS-Regimes wie der Boykottaufrufe gegen seine Filme, ohne vor antisemitischen Äußerungen zurückzuschrecken: So schrieb er Mitte der 1950er-Jahre über „die Unmenschlichkeiten der Juden“ (S. 109). Niven legt die daraus entstandenen Debatten um das Grundverständnis von Demokratie und das in die Rechtsgeschichte eingegangene „Lüth-Urteil“ dar, in dem das Bundesverfassungsgericht den öffentlichen Aufruf zum Boykott von Filmen Harlans durch den Hamburger Senatsdirektor Erich Lüth als im Rahmen der Meinungsfreiheit für rechtmäßig erklärte. Dieser Diskurs verhalf Harlans Filmen unbeabsichtigt zu Aufmerksamkeit und Publikumserfolg.

Ein bisher in der Forschung wenig berücksichtigter Aspekt ist die Aufarbeitung der internationalen Auswertung von Jud Süss. Niven weist die Kino-Auswertung des Films mit eindeutig antisemitischen Absichten im arabischen Raum und dem Nahen Osten für die 1950er- und 1960er-Jahre nach, sowie die Zurückhaltung der bundesdeutschen Regierung, die von den Vorführungen Kenntnis hatte. Diese Vorgänge illustriert er anhand zweier Beispiele, in denen deutsche Geschäftsleute die Kopien des Films im Ausland vertrieben und Letztere beispielsweise von Jassir Arafat, damals Anführer der palästinensischen Fatah, als anti-israelisches Instrument genutzt wurden. Erst als dem Zoll eine Kopie des Films auffiel, die ein Steuerschuldner als Pfand hinterlassen hatte, wurde diese Kopie – nach langem politischem Zögern – in einem Staatsschutzverfahren eingezogen und im Bundesarchiv eingelagert. Niven zeigt hier sowohl die Problematik der Zurückhaltung der Bundesregierung als auch die juristische Unsicherheit in Bezug auf den Umgang mit historischer NS-Propaganda auf.

Das letzte Kapitel untersucht Harlans Verortung in der zeitgenössischen Kinolandschaft und seine aktuelleren Spielfilme Anders als Du und Ich (BRD 1957) sowie Verrat an Deutschland (DE 1955), mit denen dieser vorgeblich versuchte, sich von NS-Ideologemen wie Homophobie bzw. Antikommunismus zu distanzieren. Niven kommt zu dem Schluss, dass beide Filme diesen Sichtweisen letztlich verhaftet bleiben. An dieser Stelle erfolgt ein Seitenblick in die Deutsche Demokratische Republik (DDR), wo Filme von Harlan generell nicht gespielt werden durften, unabhängig davon, ob sie vor oder nach 1945 entstanden waren. Die DDR-Regierung nutzte den nachlässigen Umgang mit Harlan, um die BRD harsch zu kritisieren.

Abschließend wird die aktuelle Situation des Films Jud Süss als Vorbehaltsfilm geschildert, der ausschließlich bei nicht-kommerziellen Veranstaltungen im Kino mit wissenschaftlicher Einführung und anschließender moderierter Diskussion gezeigt werden darf. Aufgezeigt wird hier die Komplexität der Situation, in der einerseits der Zugang zum NS-Filmerbe einem demokratischen Verständnis entspricht, wo es aber andererseits auch zu Vorführungen kommt, bei denen die Einführungen durch Rechtsradikale gestört werden und Teile des Publikums den Saal vor der Diskussion verlassen. Unterdessen kann der Film im Internet ohne Hürden angeschaut und im Ausland als DVD bestellt werden. Der Autor kommt zu dem Schluss, dass es dringend einer kommentierten Fassung des Films bedarf und sieht hier die Bundesregierung und die Rechteinhaberin – die Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung – in der moralischen Pflicht, sich für eine kommentierte Edition einzusetzen, die eine genaue Beschreibung der Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte enthält.

Zusammenfassend stellt Niven klar, dass die Persönlichkeit Veit Harlan historisch viele unterschiedliche Rollen eingenommen hat, die sämtlich auf politische Strukturen verweisen, die kaum von staatlicher Verantwortungsübernahme für historische wie aktuelle Begebenheiten gekennzeichnet waren. Harlan hat einerseits nie Verantwortung für seine Täterschaft in der NS-Zeit übernommen, andererseits diente er in der Folgezeit als Sündenbock, der anderen Filmschaffenden dazu verhalf, aus der Schusslinie zu treten. Durch die Harlan entgegengebrachte Aufmerksamkeit konnten diese ihre Arbeit mehr oder weniger ungestört fortsetzen oder anderweitig unbehelligt Karriere machen. Die Problematik dieser politischen Prozesse benennt Niven deutlich. Kritik übt er an der Zurückhaltung der BRD-Regierungen in Bezug auf die Vorführungen mit antisemitischer Absicht im Nahen Osten in den 1950er- und 1960er-Jahren. Er betont, dass NS-Filme – nicht nur Jud Süss – nach wie vor von Rechtsextremen genutzt werden, was regelmäßige Funde bei Durchsuchungen belegen.

Eine filmhistorische Arbeit zu lesen, die nicht nur ausgezeichnet und detailreich recherchiert ist, sondern deren Autor darüber hinaus auch eine klare Haltung zu politischen Vorgängen bezieht, ist eine erfreuliche Seltenheit. Die genaue Recherche und transparente Darstellung von größtenteils Primärquellen führt zu einer sehr differenzierten und nachvollziehbaren Beschreibung der historischen Vorgänge. Die trotz der Komplexität gut lesbare und konkrete Schreibweise macht das Werk auch für Nicht-Expert:innen gut zugänglich. Niven gelingt es darüber hinaus, den Ambivalenzen des Themas gerecht zu werden. Einziger Kritikpunkt sind die an wenigen Stellen mangelnden sprachlichen Distanzierungen. Formulierungen wie „Unzucht“ (S. 21) oder „rassisch“ (S. 36) übernimmt Niven in seinen Text, obwohl sie der Einordnung bedurft hätten. Die klare Position des Autors zum Umgang mit Regisseur und Film nach 1945 lässt diese Mängel jedoch in den Hintergrund treten.

Bill Niven zeigt mit seinem Buch die aktuelle Relevanz des Films, aber auch die nach wie vor existierenden Forschungslücken und blinden Flecken in der NS-Aufarbeitung überzeugend auf. Er erwähnt an zahlreichen Stellen zudem weitere NS-Propaganda-Werke Harlans, deren Kenntnis zur Einordnung von dessen Gesamtwerk notwendig ist und die deutlich machen, dass der Fall Jud Süss nur die sprichwörtliche Spitze des Eisbergs in einem komplexen Geflecht von Täterschaft und dem Umgang damit, von mangelnder politischer Verantwortungsübernahme, NS-Kontinuitäten und wirtschaftlichen Interessen ist.