Titel
American Families. A Multicultural Reader


Herausgeber
Coontz, Stephanie
Erschienen
London 2008: Routledge
Anzahl Seiten
475 S.
Preis
$45.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Isabel Heinemann, Historisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau

Bereits vor zehn Jahren präsentierte die US-amerikanische Historikerin Stephanie Coontz gemeinsam mit Maya Parson und Gabrielle Raley im Sammelband „American Families. A Multicultural Reader“ den damaligen Stand der US-Forschung zu Geschichte, Struktur und Werten der amerikanischen Familie.1 Aufgrund seiner thematischen Bandbreite und der Qualität einzelner Aufsätze avancierte er schnell zum Standardwerk. Nun liegt besagter Band in einer zweiten Auflage vor. Hierbei handelt es sich jedoch nicht um einen Nachdruck, sondern um eine veritable Neubearbeitung und ein fast komplett neues Buch – was aus dem gleichlautenden Titel jedoch nicht sofort hervorgeht. Von ehemals 29 Einzelbeiträgen haben die Herausgeberinnen zwölf quasi unverändert übernommen, zwei Aufsätze wurden grundlegend überarbeitet und insgesamt 20 Texte neu hinzugefügt. Die Qualität der Einzelbeiträge ist gegenüber dem Original noch einmal deutlich gestiegen, auch die Grundkonzeption des Bandes, der ursprünglich als Seminar-Reader begann, und die Problemstellungen der einzelnen Sektionen wirken analytisch reflektierter. Neben den Aufsätzen, deren Großteil in den letzten Jahren bereits an anderer Stelle publiziert wurde, werden immer wieder Auszüge aus Standardwerken zur Familiengeschichte abgedruckt. Herausgekommen ist ein beeindruckender Überblick über den „State of the Art“ der Familienforschung in den USA, der als Nachschlagewerk, Handbuch und Inspirationsquelle für neue Forschungen zugleich dienen kann.

Im Einzelnen vermessen sechs thematische Sektionen das weite Feld der „Family Issues“ in der US-Historiographie. Die Beiträge des ersten Großkapitels „Diversity and Inequality in American Family History“ zeigen, dass in der Frühgeschichte der USA verschiedene Familienmodelle mit einander konkurrierten, entsprechend den unterschiedlichen Lebensbedingungen und kulturellen Traditionen von europäischen Einwanderern, afroamerikanischer Bevölkerung und Native Americans. Als sich dann im 20. Jahrhundert das Modell der mittelständischen Kernfamilie mit seiner Arbeitsteilung zwischen dem Vater als alleinigem Ernährer und der für Kindererziehung und Haushalt zuständigen Mutter herausbildete, blieb dies gleichwohl für weite Teile der US-Gesellschaft aufgrund ethnischer Diskriminierung oder sozioökonomischer Ungleichheit unerreichbar. Mehrere Beiträge beschreiben die Lebensbedingungen afroamerikanischer Familien von der Sklaverei, als Plantagenbesitzer die Drohung, einzelne Familien durch Verkäufe auseinander zureißen, als wirksames Mittel sozialer Disziplinierung einsetzen konnten (Norrece T. Jones), bis zum Zweiten Weltkrieg, als die Massenmigration aus den ländlichen Regionen der Südstaaten in die Städte des Nordens nicht nur viele Familien auseinander riss, sondern auch die Voraussetzungen für das Entstehen der großstädtischen Ghettos schuf (Donna L. Franklin). In ihrem Beitrag über „reproductive politics“ weist Rickie Solinger darauf hin, dass in der amerikanischen Gesellschaft – trotz des seit 1973 verbrieften Rechtes auf Abtreibung – die Entscheidung für oder gegen Kinder und die Abhängigkeit von Sozialhilfe weiterhin durch soziale und ethnische Unterschiede bestimmt sind. „In this multi-ethnic, multi-racial, class-structured society, we need different, sometimes overlapping, often completely distinct histories of reproductive politics to describe the experiences of demographically diverse groups of women.” (S. 152) Weitere Einzelstudien beleuchten die Anpassungsstrategien und Abgrenzungsversuche von Native, Chinese und Mexican American Families gegenüber dem Familienideal der weißen Mittelschicht und, wie im Fall der Indianer, entsprechenden Zwangsassimilationsprogrammen.

Die zweite Sektion „Race, Ethnicity, Class and Gender in Family Theory“ fragt danach, wie diese Begriffe für sich und in ihrer Verknüpfung die Lebensbedingungen und Werte von Familien beeinflussen. Die einzelnen Beiträge unterbreiten unterschiedliche Vorschläge für analytische Raster: Während Patricia Hill Collins eine stärkere Berücksichtigung der Faktoren „Race“ und „Class“ in der Frauenforschung anmahnt – so sei noch immer ein Großteil der feministischen Reflexionen über Mutterschaft und Geschlechterrollen vom Standpunkt der weißen Mittelschicht her formuliert – plädiert Rayna Rapp dafür, in der sozialwissenschaftlichen Analyse dem Konzept des Haushalts gegenüber dem der Familie den Vorzug zu geben. Haushalte als „units of production, reproduction and consumption“ (S. 188) würden zwar in ihren Rahmenbedingungen sowohl von der Kern- als auch der erweiterten Familie geprägt, jedoch ermögliche die Untersuchung der tatsächlichen Einheiten menschlichen Zusammenlebens eine bessere Berücksichtigung sozialer Unterschiede und emotionaler Bindungen über die normative und ideologiebelastete Vorstellung von Familie (Kernfamilie und erweiterte Familienbeziehungen) hinaus. Wie Rapp und Hill Collins beklagt auch Karen Pyke den in der Literatur noch immer vorherrschenden Fokus auf das weiße Familienideal. Sie zeigt anhand der Forschung über Einwandererfamilien, wie Abweichungen in Werten und Familienstruktur („familiarism“, „machismo“, S. 211) lange Zeit als Ursache ökonomischer und sozialer Probleme identifiziert wurden und erst in der jüngeren Forschung auch als mögliche Quelle sozialen Kapitals und wirtschaftlichen Erfolges betrachtet werden. Darauf aufbauend wirft Pyke die Frage auf, inwiefern die abweichenden Familienvorstellungen zahlreicher Einwanderer ihrerseits die US-amerikanische Mehrheitsgesellschaft beeinflusst haben, lässt die Antwort jedoch offen.

Das dritte Großkapitel schließt hier an und analysiert die Veränderungen in Werten und Familienstruktur durch „Globalization and Immigration“. Ein Auszug aus Lillian Rubins Buch „Families on the Fault Line“ beschreibt einen Einstellungswandel unter weißen Arbeiterfamilien von den 1970ern- bis in die 1990er-Jahre. Rubin zeigt, wie die Angst vor dem sozialen Abstieg angesichts einer globalisierten Wirtschaft und immer geringerer Staatsausgaben für Familien in den USA dazu führt, dass sich insbesondere weiße Männer selbst als „Opfer“ der Verhältnisse sehen und zur Erklärung ihrer prekären ökonomischen Situation verstärkt auf rassistische und fremdenfeindliche Vorurteile zurückgreifen. Pierette Hondagneu-Sotelo und Michael Messner loten in ihrem Beitrag das Verhältnis zwischen Männlichkeitsvorstellungen und ökonomisch-sozialer Macht aus. Ihr Vergleich der geschlechtsspezifischen Selbstdarstellung von sogenannten „New Men“ aus der Mittelschicht („Sensitivity“) mit derjenigen mexikanischer Immigranten („Machismo“) zeigt, wie diese von sozialen Machtbeziehungen zwischen Männern und Frauen und zwischen verschiedenen sozialen Gruppen von Männern selbst bestimmt werden. Und: Auch den „New Men“ geht es durchaus um familiäre Kontrolle, wohingegen die mexikanischen Einwanderer ihre Geschlechterrollenvorstellungen allmählich liberalisieren. Rhacel Salazar Parrenas dagegen illustriert am Beispiel philippinischer Hausangestellter, wie reproduktive Arbeit international aufgeteilt wird: Wohlhabende Frauen in nicht weniger als 130 Ländern greifen auf Kindermädchen und Hausangestellte von den Philippinen zurück. Auf den Philippinen selbst übernehmen noch ärmere Frauen einen Teil der Familienaufgaben der Migrantinnen. Damit liefert Parrenas ein anschauliches Beispiel für die Globalisierung des Konzepts der „racial division of reproductive labor“ von Evelyn Nakano Glenn (S. 279, 284), die ebenfalls mit einem Beitrag in diesem Band vertreten ist.

Das stark überarbeitete Kapitel zu „Families in Extreme Poverty“ untersucht die sozialen Strategien armer Familien – von der Konstruktion der „underclass“ family (Thomas Sugrue) über alleinerziehende Mütter in verschiedenen sozialen Kontexten (Gabrielle Raley) und Konsumpraktiken armer Familien (Allison J. Pugh) bis zu afroamerikanischen Müttern, die versuchen, die Väter aktiver ins Familienleben mit einzubinden (Kevin Roy / Linda Burton).

Im fünften, gegenüber der ersten Edition komplett neugestalteten Großkapitel geht es um die Frage, wie die Faktoren „Race and Class“ in der modernen Familien-, Sexualitäts- und Genderforschung berücksichtigt werden können. So beschreibt Michael Kimmel in seinem Beitrag „A War Against Boys?“ wie mögliche Schulschwierigkeiten und Leistungsdefizite bei Jungen wesentlich von ihrer ethnischen Zugehörigkeit und ihrem sozialen Stand abhängen, was zugleich als „self-fullfilling prophecy“ funktioniert. Weitere Beiträge analysieren u.a. die Auswirkung sozialer und ethnischer Unterschiede auf die Berufstätigkeit von Müttern (David Cotter u.a.), die Diversität gleichgeschlechtlicher Elternpaare (Gary Gates) und die Identitätskonstruktionen in den Beziehungen zwischen asiatischstämmigen Amerikanerinnen und ihren weißen Partnern (Kumiko Nemoto).

Die sechste und letzte Sektion widmet sich der Diversität amerikanischer Familien und der Frage, wie die staatliche Politik der Bedeutung der Faktoren „Race und Class“ Rechnung tragen könne. Der Beitrag von Naomi Gerstel und Natalia Sakisian analysiert die praktische Relevanz von erweiterten Familiennetzwerken für das Funktionieren von afroamerikanischen und Latino-Familien und plädiert dafür, diese anstelle einer staatlichen, auf die Kernfamilie fokussierten „family values“-Politik stärker zu fördern. Dieser Aufsatz liest sich wie eine moderne, pragmatische Antwort auf den nur in der ersten Edition enthaltenen Beitrag von Niara Sudarka über die „Kinship Networks“ unter African Americans, was sie seinerzeit mit westafrikanischen Traditionen erklärt hatte.2 Jerry A. Jacobs und Kathleen Gerson schließlich zeigen auf, wie Sozialpolitik und variable Arbeitszeiten die Vereinbarkeit von Beruf und Familie verbessern könnten. Eine ausführliche Bibliographie rundet den Band ab.

Insgesamt präsentieren die Herausgeberinnen mit „American Families. A Multicultural Reader“ einen beeindruckenden Überblick über die aktuelle Forschung zur Familie in den USA. Allerdings fällt auf, dass die meisten Beiträge sozialwissenschaftlich, psychologisch oder politikwissenschaftlich argumentieren. Historische Forschungen zur Familie und zur Geschlechtergeschichte sind – abgesehen von der ersten Sektion – deutlich unterrepräsentiert 3, was umso mehr verwundert, da Stephanie Coontz auch als Familienhistorikerin breit ausgewiesen ist.4 Auch ist der Untertitel missverständlich, geht es doch weniger um Multikulturalität, denn um die Auswirkungen der Faktoren Race/Ethnicity, Class und Gender auf das Leben und die Werte von Familien in der US-Gesellschaft. Dass nicht alle Beiträge eigens für diesen Band verfasst wurden, sondern teilweise schon älter sind, kann dagegen aufgrund des Überblicks- und Textbook-Charakters des Bandes den grundsätzlich positiven Gesamteindruck nicht schmälern.

Anmerkungen:
1 Coontz, Stephanie (Hrsg.), American Families. A Multicultural Reader. Routledge, London 1998.
2 Sudarkasa, Niara, Interpreting the African Heritage in Afro-American Family Organziation, in: Coontz, American Families, 1998, S. 59-73.
3 So wird z.B. die reichhaltige Forschung zu Familie und Geschlechterrollen in den 1950er- und 1960er-Jahren kaum verarbeitet. Vgl. Weiss, Jessica, To Have and to Hold. Marriage, the Baby Boom and Social Change, Chicago 2000. Gilbert, James, Men in the Middle. Searching for Masculinity in the 1950s, Chicago 2005. Bailey, Beth, Sex in the Heartland, Cambridge, MA 2004.
4 Coontz, Stephanie, The Social Origins of Private Life. A History of American Families 1600 – 1900, London 1988. Dies., The Way We Never Were. American Families and the Nostalgia Trap, New York 1992. Dies., Marriage, A History. From Obedience to Intimacy or How Love Conquered Marriage, Viking Press 2005.

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