D. Fairfax: The Red Years of Cahiers du cinéma (1968–1973)

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Titel
The Red Years of Cahiers du cinéma (1968–1973). Volume I: Ideology and Politics; Volume II: Aesthetics and Ontology


Autor(en)
Fairfax, Daniel
Erschienen
Anzahl Seiten
880 S.
Preis
€ 205,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Guido Kirsten, Institut für Film-, Theater- und empirische Kulturwissenschaft, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Was immer man von den Entwicklungen, Kehrtwenden, Brüchen und historischen Transformationen der französischen Filmzeitschrift Cahiers du cinéma sagen möge, ein Qualitätsmerkmal müsse man ihr unbedingt zuerkennen: Sie habe immer ihrer Zeit entsprochen. So äußerte sich einer ihrer wichtigsten Kritiker, Serge Daney, Anfang der 1980er-Jahre, im Rückblick auf die bewegten und bewegenden Jahre nach 1968. In dieser Zeit hatte Daney selbst angefangen, für die wohl einflussreichste Filmzeitschrift der Welt zu schreiben, und er begleitete sie durch verschiedene Höhen und Tiefen ihrer Entwicklung in den 1970er-Jahren.

Dass Daniel Fairfax dieser Entwicklung, und insbesondere der marxistischen Phase zwischen 1968 und 1973 eine zweibändige, 820 Seiten starke Monografie gewidmet hat, rechtfertigt sich aus dem hohen Stellenwert der Zeitschrift. Wie die Lektüre des Buchs eindrücklich zeigt, leisteten die Cahiers intensive Filmtheoriearbeit zu einer Zeit, als die Filmwissenschaft an Universitäten noch quasi inexistent war. Nachdem das Projekt der Filmologie – einer interdisziplinär ausgerichteten Wissenschaft des Films, die an der Pariser Sorbonne nach dem Zweiten Weltkrieg zeitweise ein eigenes Institut mit Studiengang und eigener Zeitschrift betreiben konnte, – in den späten 1950er-Jahren abgewickelt wurde, hatten in Frankreich zunächst nur noch wenige zum Film Forschende wie Christian Metz und Raymond Bellour universitäre Stellen. Avancierte Filmtheorie und -analyse fand daher vor allem in Filmzeitschriften statt, unter denen die Cahiers eine herausragende Stellung einnahm. Dies lag unter anderem an ihrer Tradition: Seit ihrer Gründung 1951 durch André Bazin wurden in den Cahiers anspruchsvolle filmtheoretische und -historische Artikel veröffentlicht.

Diese Tendenz verstärkte sich noch in den 1960er-Jahren, als Jacques Rivette die Leitung der Zeitschrift übernahm und sie insbesondere für zeitgenössische Strömungen wie Strukturalismus und Semiologie öffnete. Die Jahre nach 1968 bedeuteten dann, wie Fairfax zurecht betont, keinen Bruch, sondern eine Verstärkung und Ausweitung dieser Tendenz zur quasi-wissenschaftlichen, sehr theorie-affinen Filmkritik. Insbesondere der strukturalistische Marxismus Althusser’sche Prägung und die Lacan’sche Spielart psychoanalytischer Theorie wurden zu Leitparadigmen, ergänzt wahlweise um Elemente aus den Ansätzen von Jacques Derrida, Roland Barthes und Julia Kristeva.

Inwieweit die Bazin’sche Tradition in den Jahren nach 1968 tatsächlich noch so maßgeblich war, wie Fairfax meint (vgl. S. 21–26, 637–663), ist eine strittige Frage, die im Rahmen einer Rezension nicht beantwortet werden kann. Deutlich wird in jedem Fall, dass sich direkte Verweise auf Bazin in den Cahiers nach 1968 nur auf mehr oder weniger kanonische Schriften beziehen (ohne den ernsthaften Versuch einer systematischeren Rekonstruktion). Wo anhand dieser lückenhaften Rezeption allgemeinere Schlüsse auf dessen Denken gezogen werden, geschieht dies im Modus der ostentativen Abgrenzung von seinem vermeintlichen „Idealismus“. Das änderte sich bei Autoren wie Daney, Jean-Louis Comolli und Pascal Bonitzer erst später, im Laufe ihrer intellektuellen Entwicklung in den 1980er-Jahren. Wenn also durchaus ein Einfluss von Bazin auf die 68er-Cahiers-Generation zu konstatieren ist, so ist dieser komplizierter und problematischer als der von Louis Althusser, Jacques Lacan, Derrida oder Barthes – auf den sich die Cahiers-Autor:innen ausschließlich positiv bezogen haben. Bazin dagegen war für sie ein Autor, dessen Axiome zu hinterfragen seien und dessen Denken es zu überwinden gelte.

Gegliedert hat Fairfax seine Darstellung in vier thematische Blöcke: Im ersten Teil, „Theories of Ideology“ (vgl. S. 37–196), stehen verschiedene kanonische Texte im Zentrum ausführlicher Auseinandersetzungen. So erörtert er hier, inwiefern es sich bei dem von den damaligen Chefredakteuren Comolli und Jean Narboni verfassten Artikel „Cinema/idéologie/critique“ vom Oktober 1969 tatsächlich um einen „epistemologischen Bruch“ mit der bisherigen Linie der Cahiers gehandelt habe. Er kommt zu der Einschätzung, dass der Artikel einerseits die Kulmination eines Prozesses darstelle, der sich schon seit den frühen 1960er-Jahren abzeichnete, es sich andererseits und gleichzeitig insofern durchaus um einen Bruch gehandelt habe, als nun offen eine marxistische Richtung vorgegeben und theoretisch ausbuchstabiert wurde.

Abgesteckt war der Rahmen im Wesentlichen durch Louis Althussers Ideologietheorie, die Comolli und Narboni auf den Gegenstand des Kinos anwendeten. Die Grundidee bestand darin, dass der Anschein von Realität, den Filme vermittelten, nicht neutral sei, sondern vielmehr selbst bereits ideologisch imprägniert, weil bereits die Alltagswirklichkeit von Ideologie durchdrungen sei. Entsprechend müssten sich Filme kritisch zum Realitätseindruck positionieren und es ließen sich verschiedene Gruppen von Filmen unterscheiden (Comolli und Narboni begründen sieben Kategorien), die damit auf unterschiedliche Weise umgingen. Die Kategorien seien dabei, so Fairfax, nicht als fixe Gruppierungen zu verstehen, vielmehr erhöhten die Cahiers-Autoren durch die Differenzierung die Komplexität gegenüber einer damals vielfach manichäischen Einteilung in politisch reaktionäre und politische Werke (vgl. S. 60). Selbst haben die Kritiker:innen der Cahiers die Kategorien in der Folge kaum je zur Bewertung oder Einordnung genutzt; sie dienten vielmehr der allgemeinen Orientierung in der Landschaft des aktuellen Filmschaffens unter ideologiekritischen Maßgaben.

Eine große Stärke von Fairfax‘ Buch besteht darin, dass er jeweils nicht nur wichtige Texte kritisch diskutiert, sondern auch den Kontext ihrer Genese beleuchtet. So schildert er für alle wichtigen Autor:innen deren intellektuellen Werdegang bis hin zu den marxistischen Jahren der Cahiers und darüber hinaus. Im ersten Teil betrifft das Comolli und Narboni, die sich bereits aus Jugendjahren in Algerien kannten und dort, im Algiers ciné-club, gemeinsam für die anspruchsvolle Cinéphilie initiiert worden waren, bevor sie in den 1960er-Jahren zu den Cahiers kamen. Als enge Freunde und häufige Kollaborateure konnten sie gemeinsam zu der entscheidenden Richtungsveränderung beitragen. Zunächst der politique des auteurs und politisch durchaus konservativen bis reaktionären Filmemachern wie Howard Hawks anhängend, folgten die beiden dann der intellektuellen und politischen Neuausrichtung der Cahiers durch Rivette und setzten diese Erneuerungsbewegung mit eigenen Mitteln fort.

Nach einer ausführlichen Beschäftigung mit anderen bahnbrechenden ideologiekritischen Artikeln wie der kollektiv verfassten Analyse „Young Mr. Lincoln de John Ford“ (1970) und Comollis berühmter Artikelserie „Technique et idéologie“(1971–72)1, setzt sich Fairfax im zweiten Teil, „Engagement with Politics“ (vgl. S. 197–412), mit den wechselnden politischen Affiliationen der Cahiers auseinander. Genauer als das bisher in Forschungsarbeiten geschehen ist, zeichnet er die politische Neuorientierung ab 1963, den Einfluss der Ereignisse von 1968, die Annäherung an und die anschließende Abkehr von der Parti communiste français (PCF) nach, schließlich die Hinwendung zum linksradikalen Maoismus sowie die anschließende weitere Entwicklung nach dem Scheitern dieses Projekts.

In allen Teilen des Buchs finden sich sowohl eher überblicksartige Kapitel, die themenbezogen die historische Entwicklung der Zeitschrift rekonstruieren, als auch solche, die sich einzelnen Autoren widmen. Besonders interessant sind im dritten Teil „Questions of Aesthetics“ (vgl. S. 421–624) jene Kapitel, die die Filmästhetik der Cahiers beleuchten. Deutlich wird hier etwa, mit welcher Akribie sich die Autoren der Analyse einzelner Werke zugewandt haben. Mitunter fertigten sie minutiöse Einstellungsprotokolle an, die alle Einstellungen, Kamerabewegungen und – im Fall von Stummfilmen wie INTOLERANCE (David W. Griffith, USA 1916) – Zwischentitel aufzeichneten. Der Eindruck, der sich insgesamt ergibt, ist der einer brisanten Mischung aus erstens größter Detailgenauigkeit in der Analyse, zweitens oftmals eingehender Betrachtungen des historischen Kontexts der Werke und drittens teilweise höchst spekulativen (oft psychoanalytisch geprägten) Interpretationen.

Manche der Autoren, wie Jacques Aumont, emanzipierten sich zunehmend von der Lacan’schen Theorie; andere, wie Pascal Bonitzer, ergänzten sie um die Erarbeitung eines eigenen filmästhetischen Vokabulars, in dem Konzepte wie das hors-champ (dem Off-Bereich des Bildes) und der décadrage (Dezentrierung) eine wichtige Rolle spielen.2 Die letztgenannten Konzepte lassen sich ebenso der Ästhetik des Films wie dessen Ontologie zuordnen. Letzterer wendet sich Fairfax im letzten Teil „Encounters with Ontology“ (S. 625–802) zu, in dem neben dem Bazin’schen Erbe auch der Einfluss der Cahiers auf die Filmphilosophie von Gilles Deleuze und die Hinwendung zu einer Kritik neuerer Bildmedien zur Sprache kommt.

Insgesamt lässt sich konstatieren, dass die Cahiers in ihrer marxistischen Phase und in den darauffolgenden Jahren diverse theoretische Grundsteine für die weitere Entwicklung der Filmwissenschaft gelegt haben. Über die britische Zeitschrift Screen wurden sie in den 1970er-Jahren in den angelsächsischen Sprachraum importiert und entfalteten dort eine nachhaltige Wirkung. Es ist beeindruckend, wie viele brillante Filmkritiker- und theoretiker:innen die Cahiers in dieser Zeit in ihrem Projekt vereinen konnte, wieviele Konzepte und Theorien hier entstanden sind und welch großen Dienst die Zeitschrift auch für die Wiederentdeckung des Filmemachers und Theoretikers Sergei Eisenstein leistete.

Mit seiner genauen Rekonstruktion dieser Zeit, die nach hinten und nach vorne ausgreift, ist Fairfax zweifelsohne ein Standardwerk gelungen. Es lässt sich sowohl kontinuierlich und in Gänze lesen, weil es spannend, stilistisch angenehm und unprätentiös geschrieben ist, als auch mit großem Gewinn als Nachschlagewerk zu einzelnen thematischen Blöcken und Autor:innen konsultieren.

Anmerkungen:
1 Bereits 2015 hat Fairfax eine sehr gute Übersetzung dieses wichtigen Texts vorgelegt: Jean-Louis Comolli, Technique and Ideology. Camera, Perspective, Depth of Field [frz. 1971–72], in: ders., Cinema against Spectacle: Technique and Ideology Revisited, übers. u. hg. v. Daniel Fairfax, Amsterdam 2015, S. 143–244.
2 Pascal Bonitzer, Dekadrierungen [frz. 1978/85], übers. v. Guido Kirsten, in: Montage AV 20 (2012), 2, S. 93–102.

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