R. Borchers u.a. (Hrsg.): Das östliche Europa als Verflechtungsraum

Cover
Titel
Das östliche Europa als Verflechtungsraum. Agency in der Geschichte. Festschrift für Prof. Dr. Gertrud Pickhan zum 65. Geburtstag


Herausgeber
Borchers, Roland; Bothe, Alina; Nesselrodt, Markus; Wierzcholska, Agnieszka
Erschienen
Berlin 2021: Metropol Verlag
Anzahl Seiten
296 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Frank Grelka, Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)

„Agency“ und „Verflechtungsgeschichte“: Auf diese beiden Begriffe versucht das Herausgeberquartett dieser Festschrift das wissenschaftliche Werk der Osteuropahistorikerin Gertrud Pickhan herunterzubrechen. In einer wohltuend knappen Einleitung identifizieren die Herausgeber diese Konzepte als leitende Forschungsthemen der Jubilarin, die auch international prominent zur russischen und jüdischen Geschichte in Ostmitteleuropa gearbeitet hat und kürzlich als Professorin an der Freien Universität Berlin emeritiert wurde.

Wer sich von dieser attraktiven Verpackung der Festgabe konzeptionell angesprochen fühlt, den wird der Inhalt nicht enttäuschen. Gerade weil die zwanzig Beiträge von Schülerinnen und Weggefährten Pickhans die Grenzen der Anwendbarkeit der beiden Konzepte „Handlungsmacht“ und „entangled history“ für das Fach aufzeigen, ist der Band, so viel sei vorweggenommen, durchaus eine Überraschung.

Im Hinblick auf den Begriff „agency“ erkunden die Aufsätze und Werkstattberichte von Yfaat Weiss (über Vorstellungen von Ehe und Intimität im Spannungsfeld zwischen jüdischer Aufklärung und einem traditionell religiösen Judentum des 19. Jahrhunderts), Natalia Aleksiun (über den Holocaust in der galizischen Kleinstadt Dolina) sowie Bethan Griffiths und Christoph Kreutzmüller (über die Ermordung und Plünderung einer Berliner Kaufmannsfamilie in Auschwitz) die Machtlosigkeit jüdischer und polnischer Gruppen im imperialen und totalitären Ostmitteleuropa der beiden letzten Jahrhunderte. Denn wo es primär um das Überleben ging, konnte nur sehr eingeschränkt davon die Rede sein, dass die Akteure eine Wahl gehabt hätten und somit Herren ihrer Handlungen gewesen wären.

Roland Borchers diskutiert die Probleme des „agency“-Konzepts mit Blick auf den Alltag polnischer Zwangsarbeiterinnen während des Nationalsozialismus. Wo der Alltag der Menschen „von Unterdrückung geprägt“ war (S. 163), liefert eine ex post auf Handlungsspielräume fokussierte Perspektive möglicherweise ein verzerrtes Bild der historischen Wirklichkeit. Von relativen Handlungsspielräumen polnischer Zwangsarbeiterinnen in der deutschen Kriegswirtschaft könne bestenfalls nur im Vergleich zu anderen verfolgten Gruppen die Rede sein, die im Kontext der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft noch weniger über das eigene Leben entscheiden konnten.

Wenn es um jüdische „agency“ dies- und jenseits der nationalsozialistischen Besatzungsgeschichte im östlichen Europa geht, sind die Fallstudien von Markus Nesselrodt (zu Wacław Wawelberg als Interessenvertreter der in die Sowjetunion geflüchteten polnischen Juden und Jüdinnen) und Alina Bothe (zur Unterstützung polnischer jüdischer Gemeinden für die 1938 aus Deutschland nach Polen ausgewiesenen Juden polnischer Staatsangehörigkeit) passgerechter. Dabei stellt Nesselrodt heraus, dass von antisemitisch gefärbten Konflikten zwischen in Zentralasien amnestierten jüdischen und nichtjüdischen Polen „an keiner Stelle“ die Rede sein konnte (S. 71f.). Bothe analysiert die Hilfsaktionen von Juden für Juden entlang der Berichterstattung der in Warschau erscheinenden jiddischsprachigen Tageszeitung „Moment“ und kommt zu dem Schluss, dass die „Handlungsfähigkeit“ jüdischer Akteurinnen und Akteure sowie Institutionen kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs „beeindruckend“ gewesen sei (S. 124).

Freilich gilt für diese beiden, ansonsten erhellenden Beiträge, was auch für den gesamten Band gesagt werden kann: Das Einüben von Handlungsfähigkeit war im Kontext jüdisch-ostmitteleuropäischer Lebenswelten am Übergang von den Vielvölkerstaaten zu den Nationalstaaten des 20. Jahrhunderts alles andere denn ein neues historisches Phänomen. Ganz im Gegenteil agierten die jüdischen Stadtgemeinden und Vertreter jüdischer Eliten auf einer Linie mit jahrhundertealten Traditionen der Armenfürsorge und der diplomatischen Fürsprache für das osteuropäische Judentum. Diese „Shtadlanim“ waren es gewohnt, aus asymmetrischen Verhandlungspositionen mit imperialen und nationalstaatlichen Regierungen zu verhandeln. Gleichwohl stießen auch solche Akteure immer wieder an die „Grenzen der Verflechtung“, wie Wawelberg, der wegen seiner bürgerlichen Herkunft im kommunistischen Nachkriegspolen Ablehnung erfuhr und im September 1950 nach Israel ausreiste (S. 73f.).

Auch das Konzept der Verflechtungsgeschichte stößt im gegenwärtigen Kontext des russischen Überfalls auf die Ukraine an seine heuristischen Grenzen. Das macht in beeindruckender Weise Frank Golczewski in seinem Beitrag über das geopolitische Konzept „Neurussland“ deutlich. Dieses von der aktuellen russischen Regierung wieder aufgenommene strategisch-imperialistische Zielkonstrukt ist territorial und politisch auf Hegemonie über die Ukraine angelegt. Dieser russische Revisionismus knüpft ideologisch an den Vertrag von Riga von 1921 an, mit dem die Ukraine territorial endgültig ein Teil der Sowjetunion wurde.

Angesichts des neoimperialen Projekts, das vor unseren Augen in Putins Angriffskrieg wieder auflebt, ist fraglich, wie intensiv sich die Osteuropäische Geschichte künftig der Suche nach Verflechtungen widmen sollte – insbesondere, wenn deren Knotenpunkte vornehmlich im imperialen Zentrum aufzufinden sind. Vielmehr muss es dem Fach stärker als bisher darum gehen, in russländischen Räumen und darüber hinaus marginalisierte Emanzipationsbestrebungen in den Blick zu nehmen, wie auch die Beiträge von Gennady Estraikh (über die Akkulturation sowjetischer Juden in der Tauwetterperiode nach dem Tode Stalins) und Svetlana Malysheva (zu nationalistischen Umdeutungen sowjetischer Feiertage in der Putin-Ära) zeigen.

Die Kirsche auf der Geburtstagstorte dieser Festschrift ist der Essay von Michael Wildt über eine Warschauer Begegnung zwischen dem Bundisten und späteren Getto-Kämpfer Marek Edelman und Willy Brandt, seinerzeit Funktionär der Sozialistischen Arbeiterpartei, im Jahr 1937. Wildt nimmt damit Bezug auf Pickhans bahnbrechende Studie zum Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund, dem „Bund“.1 Mit Blick auf Brandts späteren Kniefall im Jahr 1970 habe Pickhan den schönen Gedanken geäußert, Willy Brandt habe am Denkmal des Getto-Aufstands „nicht nur als deutscher Bundeskanzler niedergekniet, sondern als deutscher Sozialdemokrat diese Geste auch zu Ehren des jüdischen ‚Bund‘ verstanden“ (S. 81f.). Die Freundschaft dieser beiden demokratischen Sozialisten war somit von dem gemeinsamen Anspruch getragen, sich im Angesicht der kommunistischen und nationalsozialistischen Ideologien für die universelle Idee der Menschlichkeit einzusetzen.

Das Beispiel dieser Freundschaft im Geiste wirft ein Schlaglicht auf das Potenzial des Bandes als ganzem für die innerfachliche Selbstverständigung. Ganz unabhängig von der Tragfähigkeit einer „entangled history“ oder des „agency“-Ansatzes für die Geschichte des östlichen Europas zwischen dem 18. und 21. Jahrhundert, macht diese vielseitige Festschrift vor allem eines deutlich: Der von dem polnischen Nobelpreisträger Czesław Miłosz beschworene „Schatz“ (S. 255) der Geschichtswissenschaft ist und bleibt, substantielle Aussagen über das jeweilige Menschenbild zu treffen, das sich in den konkreten Praxen staatlicher und nichtstaatlicher Akteure verschiedener Zeiten niederschlug.

Anmerkung:
1 Gertrud Pickhan, „Gegen den Strom“. Der Allgemeine Jüdische Arbeiterbund „Bund“ in Polen 1918–1939, Stuttgart 2001.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch