Wurden private Vereine der hellenistisch-römischen Zeit sehr lange als eher statische, selbstreferenzielle Einheiten aufgefasst, hat sich diese Interpretation im Zuge einer anhaltend produktiven Forschung auf diesem Feld in den letzten zwanzig Jahren erheblich gewandelt. Mittlerweile besteht ein Konsens, die regional sowie zeitlich stark variierenden Gebilde als zumeist mit ihrem jeweiligen soziopolitischen Umfeld in reger Interaktion stehende, höchst adaptive Akteure zu betrachten. Vor diesem Bild bereitet die nach wie vor noch gängige Unterscheidung privater Vereine in Kategorien wie Kult, Beruf, Ethnie, griechisch oder römisch auch angesichts oft sehr fluider Züge erhebliche Schwierigkeiten, zumal die Grenzen zu den öffentlichen Vereinen ebenfalls selten eindeutig sind. Hinsichtlich dieses Taxonomieproblems argumentierte Benedikt Eckhardt jüngst hinsichtlich der römisch dominierten Zeit für eine Unterscheidung nach in die römischen Strukturen integrierte, staatlich geförderten (Berufs-)Vereinen (= halböffentlich) sowie unabhängigen, aber abgedrängten, ganz auf Religion beschränkten (Kult-)Vereinen (= privat).1 Der vorliegende Sammelband, der auf eine Ende 2012 an der Universität Kopenhagen veranstaltete Tagung zurückgeht, beschäftigt sich – wie die Herausgeberinnen in der Einleitung (S. 9–20) ausführen – eingedenk dieser Problematiken mit vereinsassoziierten Identitätsfragen, die sich allein aus den in der Regel epigraphischen Zeugnissen selten ermitteln lassen. Da der Faktor Kult augenscheinlich bei den meisten Vereinen in irgendeiner Form eine Rolle spielt, wird zur Annäherung an Identitätsfragen in den Beiträgen jeweils besonderes Augenmerk auf Angelegenheiten und Aktivitäten rund um Kult und Religion gelegt. Auch besteht der Anspruch, ein balanciertes Bild über die Stellung der Religion in den jeweils herangezogenen Fällen zu erlangen.
So stellt etwa Ilias Arnaoutoglou (S. 249–270) angesichts der Unschärfe und Bandbreite der Nomenklaturen von Berufsvereinigungen die Frage nach Verflechtungen zwischen kultischen Aktivitäten einerseits handwerklicher, andererseits dienstleistungsassoziierter Berufstätigkeit, jeweils mit Blick auf spätklassische bis hochkaiserzeitliche Vereinskontexte im griechischsprachigen Raum. Dazu zieht er epigraphische Zeugnisse wie kultassoziierte Ehrungen, Weihungen, Stiftungen, Festteilnahmen u.ä. heran. Er konstatiert, dass offenbar kaum berufsspezifische Schutzgötter verehrt worden seien. Auch unterschieden sich die betrachteten kultischen Praktiken kaum von jenen, die bei Individuen, Gruppen und Institutionen ohne beruflichen Bezug in vergleichbaren sozio-religiösen Kontexten bestanden. Identitätsspezifische Erkenntnisse ließen sich aus dieser Befundlage kaum gewinnen, wie Arnaoutoglou resümiert.
Paschalis Paschidis (S. 59–78) befasst sich mit den Vereinen des römischen Makedoniens und verdeutlicht die äußerst fließenden Grenzen zwischen privaten und öffentlichen Kulten, die aufgrund variierender Grade an Einbindung in die kommunalen politischen Strukturen kaum Unterschiede zueinander aufwiesen. Er sieht die Existenz zahlreicher Kulte im multikulturellen Thessalonike als Ergebnis eines Wettbewerbs um identitäre Abgrenzung. Paschidis regt dazu an, Vereine künftig – auch anhand von Kultnarrativen – auf mögliche Identitätsstrategien zu untersuchen. Eine solche Identitätsstrategie zeigt Claire Hasenohr (S. 79–91) auf. Sie argumentiert, dass die verschiedenen italischen Kultgruppen auf Delos allesamt als untergeordnete Gremien der Italikergruppe zu betrachten seien und jeweils italische Personen mit bestimmten Statuseigenschaften aufgenommen hätten, da das Mittel eines gesamtitalischen Kultes aufgrund der Heterogenität unter den auf Delos siedelnden Italikern und damit einhergehenden Identifikationsfragen nicht funktioniert hätte. Die von Rom protegierten Italiker hätten die getrennt wirkenden, aber vereint operierenden Gremien offenbar als Strategie genutzt, um ihre Stellung unter den vielen Ausländergruppen auf Delos effizient zu behaupten.
Stéphanie Maillot (S. 149–168) und Philip F. Venticinque (S. 207–225) beschäftigen sich jeweils mit den kultischen Funktionen vereinsgebundener Bestattungen zur Konsolidierung des individuellen Status beziehungsweise der Identität. Venticinque argumentiert, dass die aufwendigen ägyptischen Trauerrituale den Mitgliedern Gelegenheiten geboten haben, durch Gesten der Anteilnahme ihre – auch im Erwerbsleben elementare – Zuverlässigkeit und Vertrauenswürdigkeit dem Kollektiv unter Beweis zu stellen. Dies sei ein wesentlich plausiblerer Vereinsbeitrittsgrund als eine vielfach angenommene Aussicht auf Begräbnisfinanzierung, da Vereine die sehr teuren Bestattungen wohl höchstens hätten bezuschussen können. Auch Maillot unterstreicht die Relevanz von Vereinsbestattungen und den Besitz eigener Grabstätten im Identitätskontext. Die gemeinschaftlichen Betriebs- , Finanzierungs- und Repräsentationsaspekte hätten bedeutende integrative Effekte gehabt. Sie führt an, dass Vereine mit ihrer Bestattungstätigkeit in hellenistischen Poleis wie Rhodos u.a. sowohl für Zugehörigkeitsgefühle als auch für Stützung und Perpetuierung bürgerlicher Partizipationswerte und Familientraditionen gesorgt hätten. Auch die Bedeutung euergetischer Phänomene im sepulkralen Kontext betont Maillot hinsichtlich einer Statusbestätigung der oft fremden Vereinswohltäter. Die Relevanz euergetischer Mechanismen rund um Identitätsfragen im Vereinskontext verdeutlicht auch der Beitrag von Christian A. Thomsen (S. 46–57). Im spätklassisch hellenistischen Athen hätten Vereine Ehrungen als Hebel zur Monumentalisierung ihrer Kultbauten genutzt, um auf diese Weise ihre Heiligtümer zu identitätsstiftenden Erinnerungsorten zu machen. In Adaption einer in spätklassischer Zeit einsetzenden Praxis massenhafter Ehrverleihungen hätten die Vereine im Tausch für den Bau und die Ausstattung ihrer Tempel ihren Euergeten Anerkennung und Memorierung geboten.
Mario C. D. Paganini (S. 227–247) bespricht, wie ein Zusammenschluss wohlhabender Landpächter im ländlichen Ägypten der Ptolemaierzeit die Ehrung eines hohen, als Euergeten agierenden Regierungsbeamten ebenfalls für ganz bestimmte Absichten genutzt hätten. Paganini argumentiert, dass die in einem Gymnasion firmierende Vereinigung oberschichtangehöriger Alexandriner, die sich saisonal zur Erntezeit auf dem Land aufzuhalten pflegten, religiös ausgerichtete Aktivitäten im Zeichen des Herrscherkults als Mittel zur Verfolgung mußeorientierter Zwecke betrieben habe. An diesem gut dokumentierten Beispiel zeigt er eindrücklich auf, wie eine begüterte Interessengruppe über das Mittel einer Vereinsgründung ihre lokale Stellung gesichert und dort gewissermaßen das Angenehme mit dem Nützlichen verbunden habe. Paganini verweist mit Berechtigung auf den Umstand, dass, hätte man von diesem Kollektiv wie in so vielen Fällen nur den Namen, man durch seine Selbstbezeichnung als georgoi („Bauern“) leicht zu Fehlinterpretationen über den sozialen Status sowie die Identität der Mitglieder kommen könne.
Wie sehr die Wohlstandsverhältnisse von Vereinen und ihrer Mitglieder an einem Ort variieren können, veranschaulicht Jan-Mathieu Carbon (S. 169–206) neben anderen Aspekten in seinem Beitrag über die späthellenistischen und kaiserzeitlichen Grenzsteine von Vereinsgrabanlagen rund um den Insel-Hauptort Kos. So deuteten Befunde wie etwa wiederverwendete Schriftträger, mangelhafte Ausführung der inschriftlichen Texte, geringe Größe von Gräberfeldern neben anderen Faktoren auf prekäre finanzielle Verhältnisse mancher Vereine hin, während andere lokale Gruppen deutlich wohlhabender erschienen. Neben anderen Aspekten zeigt Carbon ferner auf, dass einige Kollektive oft nur wenige Jahre oder Jahrzehnte bestanden hätten, Gruppen im Laufe der Zeit teils mehrfach umfirmierten und entsprechend wechselnde Identitäten haben aufweisen können. Unter den zahlreichen Vereinen immigrierter Gruppen gab es auch den Fall eines Vereins, der – wie Carbon darlegt – offenbar nach der Plünderung von Delos auf die Insel Kos übergesiedelt sei.
Die Vereinssituation des 3. und 2. Jahrhunderts v.Chr. auf Thera thematisiert Stella Skaltsa (S. 125–147). Sie bespricht fünf inschriftlich bezeugte Vereine aus der Periode, als die Insel ein bedeutender ptolemaischer Stützpunkt war. Anhand sprachlicher Unterschiede, onomastischer, terminologischer, religiöser und kultpraktischer Indizien argumentiert Skaltsa, dass sich die Garnisonsangehörigen ebenso wie die Einheimischen in Vereinen mit eigenen kultischen Identitäten organisierten, wobei die ethnische Zugehörigkeit nach Befundlage signifikanterweise nicht Selbstdarstellungsgegenstand gewesen sei.
Zwischen der Tagung Ende 2012 und der Veröffentlichung des vorliegenden Bandes sind knapp zehn Jahre vergangen, in denen auf einem stark beforschten Feld wie dem des griechisch-römischen Vereinswesens viel passiert ist. Dem wurde entgegengewirkt, indem großenteils auch neuere Forschungen, wenn auch nicht immer die neuesten, für die Drucklegung berücksichtigt wurden. Wenn freilich auch das oben genannte, kurz vor diesem Band erschienene Werk Eckhardts dafür zu neu ist, so vermisst der Rezensent jedoch in verschiedenen Beiträgen etwa die Hinzuziehung der kontextuell wichtigen Monographie Benedikt Boyxens2. Die große Stärke des Bandes besteht jedenfalls zweifellos darin, dass er in konzentrierter Form aufzeigt, mit welchen methodischen Ansätzen man sich in spezifischen Umgebungskontexten und bei oft schwieriger Quellenlage einer so schwierigen Frage wie jener nach Identitäten bei Vereinen annähern kann. Der Band ist sorgsam zusammengestellt und weist alle wünschenswerten Standards zur Arbeitserleichterung auf. Zum Teil sehr ausführliche Tabellen, Kataloge und Appendices ergänzen die Ausführungen diverser Beiträge. Insgesamt ist zu konstatieren, dass diese sehr lesenswerte Zusammenstellung einen wertvollen Beitrag für die Erforschung antiker Vereine leistet und ihre fundamentale integrative Rolle in nachklassischen Gesellschaften sowohl der städtischen als auch der ländlichen Sphäre einmal mehr unterstreicht.
Anmerkungen:
1 Benedikt Eckhardt, Romanisierung und Verbrüderung. Das Vereinswesen im römischen Reich, Berlin 2021.
2 Benedikt Boyxen, Fremde in der hellenistischen Polis Rhodos. Zwischen Nähe und Distanz, Berlin 2018.