Cover
Titel
Metropolen des Kapitals. Die Geschichte der internationalen Finanzzentren 1780-2005


Autor(en)
Cassis, Youssef
Erschienen
Hamburg 2007: Murmann Verlag
Anzahl Seiten
504 S.
Preis
€ 68,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Detlef Krause, ZKK-Historisches Archiv, Commerzbank AG

Rund 30 Jahre nach Karl Erich Borns1 umfangreicher Darstellung zu Banken und Börsen im 19. und 20. Jahrhundert unternimmt Youssef Cassis das ähnlich ambitionierte Vorhaben, als einzelner Autor eine Geschichte der Finanzmetropolen zu schreiben. Cassis gelingt es, den Leser auf eine faszinierende Zeitreise durch die Welt der internationalen Finanzmetropolen und -ströme seit dem 18. Jahrhundert mitzunehmen. Entstanden ist das Buch als Jubiläums-Sponsoring der Schweizer Privatbank Pictet & Cie. aus Anlass ihres 200-jährigen Bestehens. Es wendet sich an Historiker, aber auch an Praktiker der Finanzwelt und die interessierte Öffentlichkeit. Das Ergebnis ist ein Musterbeispiel für eine hervorragend lesbare, zugleich kenntnisreiche Geschichtsschreibung, die sich auf der Höhe der internationalen Forschung bewegt.

Was versteht man unter einem Finanzplatz? Cassis streift kurz die Definitionen der Ökonomen, wählt aber einen eher qualitativen, ja geradezu „verstehenden“ Ansatz. Er konzentriert sich auf die wenigen „wahren Metropolen des Kapitals“ (S. 22). Ihre Merkmale sind ein komplexes Bündel aus der Finanzkraft, den beteiligten Institutionen wie Banken und Börsen, den angebotenen Dienstleistungen, der Rolle des Staates, der Bedeutung der Währung und insbesondere auch den handelnden Menschen. Seine leitende Perspektive richtet sich vor allem auf den Auf- und Abstieg von Finanzplätzen. Cassis gliedert den Untersuchungszeitraum in sechs Abschnitte: von der Ära der Privatbankiers (1780-1840) über die Konzentration des Kapitals in der Mitte des 19. Jahrhunderts, die erste Globalisierung von 1875 bis 1914, die Krisenphase mit Erstem und Zweiten Weltkrieg, den Aufschwung nach 1945 bis hin zur zweiten Globalisierung seit etwa 1980.

Bank- und Finanzplätze, so Cassis, sind beide „Kinder des Handels“ (S. 99). Wie ein roter Faden zieht sich die These durch das Buch, dass die herausragende Stellung eines Finanzplatzes vor allem auf der Wirtschaftskraft des jeweiligen Landes beruht. Allerdings gilt dieser Zusammenhang keineswegs linear. So konnte Amsterdam auch nach dem Niedergang der holländischen Wirtschaft im Laufe des 18. Jahrhunderts eine wichtige Rolle bei der Emission ausländischer Anleihen spielen. Auch London gelang es, gestützt auf das international anerkannte Pfund Sterling, seine Bedeutung in der weltweiten Handelsfinanzierung noch im 20. Jahrhundert zu verteidigen, als die Vereinigten Staaten längst zur führenden Wirtschaftsmacht und New York zum bedeutendsten Finanzplatz aufgestiegen waren. Ebenso waren stabile Verhältnisse in Politik und Währung die Ursachen, dass die Finanzplätze Amsterdam und die Schweiz nach dem Ersten Weltkrieg eine Blütezeit als Wechselmarkt bzw. als Kapitaldrehscheibe und in der Vermögensverwaltung erlebten.

Cassis beschreibt darüber hinaus die verschiedenen Akteure an den Finanzplätzen. Sein Buch handelt daher zugleich von den wichtigsten Privatbankiers, Spezialbanken und Universalbanken, ebenso wie von den Brokern, aber auch von finanznahen Dienstleistern wie Wirtschaftsprüfern und Anwaltskanzleien. Ebenso machten vor allem in der Ära der Privatbankiers personelle und familiäre Netzwerke die Komplexität eines Finanzplatzes aus. Eine ganz wesentliche Bedingung ist aber auch der technische Fortschritt. Erst durch die bahnbrechenden Erfindungen in der Telekommunikation wurde es im Laufe des 19. Jahrhunderts möglich, Wertpapiere gleichzeitig an verschiedenen Orten zu handeln und somit die internationalen Finanzströme zu verbreitern und zu beschleunigen. Dies war auch eine entscheidende Voraussetzung, dass es im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zur ersten Globalisierung kam. Kennzeichen dieser Phase waren hohe Kapitalsummen, eine größere Integration durch neue Kommunikationstechniken, das Aufkommen mehrerer internationaler Finanzplätze. Interessanterweise wuchs in dieser Zeit der Außenhandel trotz eines zunehmenden Protektionismus zwischen den Staaten.

Das Beispiel zeigt: Cassis geht nicht nur auf einzelne Finanzmetropolen ein, sondern zieht immer wieder aufschlussreiche Vergleiche und Querverbindungen. Zwischen den Finanzplätzen in der ersten Globalisierung herrschten Konkurrenz und Zusammenarbeit, wobei die Kooperation überwog. Seine vergleichende Perspektive erlaubt es auch, Finanzplätze zu charakterisieren. Beispielsweise war Paris im 19. Jahrhundert „kosmopolitischer“ als andere Plätze, zum einen durch eine hohe Zuwanderungsquote und zum anderen aufgrund seiner Stärke im Devisenhandel.

Cassis analysiert rasch und unprätentiös, aber jeweils fundiert. Er setzt Zahlen ein, wenn sie der Anschaulichkeit dienen, aber er verliert sich nicht in Datenfriedhöfen. Dabei geraten einige Themen aus dieser Vogelperspektive allerdings mitunter etwas zu kurz. So behandelt er auch die politischen Implikationen der Hochfinanz. In dieser Zeit sieht er eine der „Sternstunden in der Geschichte der Beziehungen zwischen Hochfinanz und Imperialismus“ (S. 199). Cassis lehnt vereinfachende Ansätze wie Hilferdings These des „Finanzkapital“ auf der einen Seite und des Primats der Politik auf der anderen Seite ab, vertieft dieses Beziehungsgeflecht aber nicht, sondern begnügt sich mit einigen Fragestellungen. Ähnlich verhält es sich mit dem Komplex, ob die Reparationen nach dem Ersten Weltkrieg für Deutschland zu hoch waren. Der Autor will sich hier nicht festlegen und verliert sich stattdessen im Allgemeinen. Die Feststellung, dass die Reparationen bei den internationalen Kapitalströmen der 1920er-Jahre eine wichtige Rolle spielten, ist sicherlich unbestritten.

Eine große Leistung des Verfassers ist, dass er zwischen Finanzplätzen hin- und herspringt, ohne dass der Leser die Orientierung verliert. Dabei gelingt es ihm noch, auf die Unterschiede in der Finanzierung des Ersten und des Zweiten Weltkriegs und die Rückwirkungen auf die Finanzplätze einzugehen. Während im Ersten Weltkrieg wesentliche Finanzierungsaufgaben von großen Banken übernommen wurden, dominierte im Zweiten Weltkrieg die Rolle des Staates.

Aufschlussreich und anregend sind zudem die Ausführungen über den wiederkehrenden Zusammenhang zwischen Krise und Regulierung. Allerdings herrschte hier keinesfalls ein Automatismus. In der Großen Depression zu Beginn der 1930er-Jahre kam es weltweit zu Turbulenzen an den Finanzzentren. Als Folge wurde in den USA 1933 der Banking Act (Glass-Steagell-Act) mit der Trennung zwischen Geschäftsbanken und Investmentbanken erlassen, und auch in Belgien und Deutschland wurde das Kreditwesen strengeren gesetzlichen Auflagen unterworfen. Dabei überlebte in Deutschland das Universalbankensystem, verlor aber zusehends seine führende Marktstellung an die Sparkassen. Großbritannien verzichtete hingegen auf eine schärfere Regulierung. Allerdings galt der Sterling als überbewertet und Großbritannien gab die Bindung an den Goldstandard 1931 auf. Die City verlor daraufhin an Einfluss und Prestige, konnte aber eine führende Stellung in der internationalen Handelsfinanzierung behaupten.

In Deutschland schied Berlin nach 1945 aus dem Kreis der Finanzmetropolen aus. An seine Stelle trat nun Frankfurt. Entscheidend waren aber weniger Frankfurts Traditionen als Bank- und Börsenstadt, sondern die Entscheidung, die Bank deutscher Länder, die spätere Bundesbank, am Main zu installieren. Der eigentliche Aufschwung Frankfurts setzte erst mit dem Aufstieg der D-Mark ein. Insgesamt bezeichnet Cassis die drei Jahrzehnte nach 1945 als Europas „goldenes Zeitalter“. Das Bruttoinlandsprodukt stieg in Westeuropa um 3,8 Prozent im Durchschnitt. Europa und Japan holten den Lebensstandard der USA ein.

Interessanterweise fanden die großen Kapitalbewegungen in der Nachkriegszeit über öffentliche und nicht über private Kanäle statt. Paradoxerweise leitete aber gerade der stark regulierte Bankenmarkt in den USA zumindest teilweise die spätere Globalisierung ein. Die „amerikanische Herausforderung“, die viele Europäer bewegte, war weniger eine Invasion Europas, als vielmehr eine Flucht amerikanischer Banken aus einem restriktiven Markt. Als weitere Faktoren der beginnenden Globalisierung nennt Cassis die weltweite Dollarschwemme als Folge des wachsenden amerikanischen Handelsbilanzdefizits, das Ende fester Wechselkurse und der explosionsartig anschwellende Reichtum der ölproduzierenden Länder seit den 1970er-Jahren. Daraus resultierten anschwellende Finanzströme um den gesamten Erdball. Jedoch kam es erst in 1980er-Jahren zu einer politisch gewollten Deregulierung, die der Globalisierung freie Bahn brach. Cassis neigt allerdings dazu, die finanzielle Seite der Globalisierung zu sehr zu betonen. Denn es bleibt die Frage, ob nicht die Kostenvorteile durch globale Wertschöpfungsketten im Produktionsbereich ebenso zur Globalisierung beigetragen haben.

Cassis wertet den Beitrag der internationalen Finanzzentren insgesamt als positiv: für die Entwicklung der Weltwirtschaft, für das Wachstum der Volkswirtschaften ebenso wie für den jeweiligen Standort. Er lehnt „konfuse“ Kritik an Finanzkapital und Globalisierung ab, spart aber nicht mit seiner Kritik an moralischen Verfehlungen, wie sie bei den Bankrotten des Energieunternehmens Enron und des Telekommunikationsunternehmens WordCom sichtbar wurden. Ob der Begriff „Übernahmegeier“ (S. 363) – auch wenn er in Anführungszeichen steht – so glücklich gewählt ist, um Firmenaufkäufer zu charakterisieren, sei dahin gestellt.

Als führende Finanzplätze in den letzten 25 Jahren werden an der Spitze New York, London und Tokio, dahinter Frankfurt, Paris und Zürich sowie Hongkong und Singapur genannt. Mit dem absehbaren Aufstieg Chinas zu einer wirtschaftlichen Supermacht dürften Hongkong und möglicherweise Shanghai ihre Position in dieser Rangfolge verbessern. Die Frage liegt nahe, ob nicht die gegenwärtige Finanzkrise diesen Prozess noch beschleunigen wird.

Cassis kehrt abschließend zu seiner Ausgangsfrage zurück. Gängige, eher kurzfristige Erklärungsmuster ergänzt er um eine langfristige, historische Analyse. Seine Quintessenz ist, dass die Wirtschaftskraft eines Landes, politische Einwirkungen wie Kriege, das Beharrungsvermögen von Finanzplätzen wie auch die Offenheit für neue Talente die wesentlichen Faktoren des Auf- oder Abstiegs von Finanzplätzen sind. Staatliche Eingriffe haben zwar auch Wirkungen, aber sie bestimmen nicht grundsätzlich die Zukunft eines Finanzplatzes. Regulierungen und Richtlinien verstärken nach Cassis nur bereits bestehende Bedingungen in positiver oder negativer Weise – diese These ist vor dem Hintergrund möglicher, künftiger Regulierungen auf dem Finanzsektor überaus bedenkenswert.

Ein Glossar mit den wichtigsten Finanzbegriffen rundet das Buch ab. Dank gebührt auch den Übersetzern, die für einen stilistisch ausgezeichneten, flüssig lesbaren Text gesorgt haben. Cassis’ Publikation beweist, dass ein komplexes, auf den ersten Blick eher „trockenes“ Thema durchaus anschaulich und auf hohem wissenschaftlichen Niveau vermittelt werden kann.

Anmerkung:
1 Karl Erich Born, Geld und Banken im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1976.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch