M. Schulz: Europäisches Konzert 1815-1860

Titel
Normen und Praxis. Das Europäische Konzert der Großmächte als Sicherheitsrat, 1815-1860


Autor(en)
Schulz, Matthias
Reihe
Studien zur internationalen Geschichte 21
Erschienen
München 2009: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
726 S.
Preis
€ 79,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Rose, Otto-von-Bismarck-Stiftung, Friedrichsruh

Das 19. Jahrhundert war selbst unter Berücksichtigung der Napoleonischen Kriege das friedlichste der gesamten Neuzeit. Angesichts der Herausforderungen und Bedrohungen des 21. Jahrhunderts für Matthias Schulz Grund genug, sich mit der Friedenskultur des vorvergangenen Jahrhunderts erstmals eingehend zu beschäftigen. Inspiriert von Paul W. Schroeders magistraler Studie zur Transformation of European Politics 1 und den Ansätzen der Friedens- und Konfliktforschung schließt Schulz damit zweifelsfrei eine überaus wichtige Lücke in der Geschichtsschreibung der internationalen Beziehungen. Immer wieder ist das Europäische Konzert der Großmächte in zahllosen diplomatiegeschichtlichen Einzelstudien als Randthema mitbehandelt worden. Eine eigenständige Untersuchung des multilateralen Staatengebäudes, seiner Funktionsweise und seines Wirkens, noch dazu vor den deutschen Einigungskriegen, fehlte bislang.2 Aber auch inhaltlich ist dem Autor mit dieser Pionierstudie ohne Frage ein großer Wurf gelungen.

Schulz möchte neben den vielen noch ungeklärten Fragen die Spannung zwischen der zeitgenössisch nicht selten als zu mächtig gescholtenen Konstruktion des Konzerts und dem vorherrschenden historischen Urteil eines ineffektiven und letztlich erfolglosen Ordnungsmodells lösen und Normen wie reale Friedenspraktiken gleichermaßen analysieren. Ziel ist es, den Anfängen der internationalen Institutionenbildung zwischen Macht und Recht nachzugehen und herauszufinden, inwieweit Friede und Konflikthäufigkeit nicht nur von persönlichen Motiven, Zufällen oder klassischen Machtfaktoren abhängen, sondern auch von allgemein akzeptierten und grenzübergreifenden „kulturellen Praktiken des Friedensmanagements“ (S. 2).

Eine ausführliche Einleitung grenzt dabei das Thema zwischen dem Wiener Kongresssystem von 1814 bis 1822 und der italienischen Einigung 1860 zeitlich ein und stellt das komplexe Analyseraster vor. Der Begriff der „Friedenskultur“ soll dabei die schon von Paul Schroeder festgestellte Veränderung der internationalen Normensysteme nach 1815 kultur- wie sozialwissenschaftlich erweitern. Verdeutlicht und in ihrem Kontext untersucht werden somit zeitgenössische Deutungen, Praktiken und Interaktionen wie regulierende Verfahren, Verflechtungen oder kommunikative Verständigungsprozesse, internationale Regeln und Normen, die die friedliche Ordnung im Staatensystem überhaupt erst ermöglichten und das System konstituierten (S. 8f.). Mithilfe eines konzentriert verfolgten Fragenkatalogs nach der Art von Konflikten, den Verfahrensformen, Handlungsrepertoires etc. und einer beeindruckenden empirischen Breite gelingt es dabei überzeugend, die gewohnte bilaterale Betrachtungsweise zu verlassen und sich dem methodisch schwer zugänglichen multilateralen Zusammenwirken bzw. der allmählichen Vergesellschaftung der Staatenbeziehungen 3 zu widmen.

Ausgehend von der Formierung des Konzerts und der ersten Einübung einer Praxis der Konfliktregulierung während der ersten Kongresse in Wien, Aachen, Troppau, Laibach und Verona (S. 33ff.) untersucht die Arbeit die Unabhängigkeit Griechenlands, das umstrittene monarchische Prinzip, die orientalische Frage wie auch die polnische Frage und den Sonderbundskrieg (S. 89ff.). Während Schulz dabei einige Ergebnisse Schroeders zum Vormärz, wie etwa die Entscheidungskompetenz der Großmächte, den Verzicht auf territoriale Gewinne oder die unbedingte Verhinderung von Großmachtkonflikten bestätigen kann, kommt er hinsichtlich der These von der geteilten Hegemonie der Großmächte wie auch zum vermeintlichen Einstimmigkeitsprinzip zu einem anderen Befund. So konnte eine Großmacht allein weder Konferenzen gegen den Willen der anderen noch die Lösung einer internationalen Frage verhindern. Entgegen der heutigen UNO-Praxis des Vetorechts der Großmächte gründete das erfolgreiche Friedensmanagement des Europäischen Konzerts von Anfang an auf dem Mehrheitsprinzip. Bis 1847, so beweisen etwa die österreichischen Interventionen in Italien (S. 82), die französische in Spanien (S. 84ff.) oder die griechische Frage (S. 93ff.), setzten sich immer wieder Mehrheiten gegenüber der Minderheit von Staaten durch. Aber auch schon im Vormärz erreichte das Staatensystem nur mit Mühe einen Konsens, wobei völkerrechtliche und normative Argumentationsmuster wie etwa die bisher nur wenig erforschten humanitären Fragen oder das Selbstbestimmungsrecht der Völker die Hauptrolle spielten. Hauptstreitpunkt zwischen den konservativen Ostmächten und den liberaleren westlichen Mächten war das antirevolutionäre Interventionsprinzip, welches allerdings nur bis 1823 im Vordergrund stand. Weder in der griechischen, belgischen, polnischen noch in der ägyptischen Frage verbündete sich das Konzert gegen die Strömungen der Zeit. Im schweizerischen Sonderbundskrieg setzte sich das englische Nichtinterventionsprinzip schließlich sogar vollends durch (S. 134ff.). Hauptprämisse blieb das Management des Gleichgewichts, weshalb die deutsche Frage von Beginn an eine Sonderstellung einnahm, da hier die Intervention der Mächte zur Aufrechterhaltung des mitteleuropäischen Status quo weiterhin als Gemeinschaftsaufgabe und condition sine qua non der Stabilität begriffen wurde.

Den Schwerpunkt der Arbeit bilden sodann die großen Herausforderungen und Erschütterungen der internationalen Ordnung vom Revolutionsjahr 1848 über den preußisch-österreichischen Dualismus, dem Krimkrieg bis zur italienischen Einigung 1860 (S. 145-534). Über den gesamten Zeitraum wird hierbei eine wesentlich flexiblere und dynamischere Struktur des Konzerts nachgewiesen als von der bisherigen Forschung angenommen. Nicht die Pentarchie, also das Zusammenwirken aller fünf Großmächte, sondern die jeweilig wechselnde Mehrheit entschied dabei über den Fortgang der Entwicklungen. Auch wenn der Autor der Tradition der Friedensforschung und der Theorie des demokratischen Friedens folgend dies nicht näher ausführt, so gewinnt der Leser gerade für die spannungsreiche Epoche nach 1848 immer wieder den Eindruck, dass es gerade das Zusammenspiel zwischen Friedenswille auf der einen und dem selbstverständlichen ius ad bellum auf der anderen Seite war, welches die Stabilität insgesamt bewahrte. Einzelne, regional begrenzte Konflikte wirkten sogar entspannend und halfen dabei, den gefürchteten Großmachtkonflikt zu verhindern. Obwohl auch das Konzert immer wieder Probleme damit hatte, sich gegen den Widerstand einzelner Großmächte durchzusetzen, so bleibt doch die Bilanz im Vergleich zum Völkerbund und zur UNO insgesamt positiv. Der große Krieg wurde nicht nur verhindert, es bestand zudem auch durchgehend ein multilateraler Gesprächsfaden, der keine Macht generell ausschloss. Russland wurde in der griechischen Frage ebenso eingebunden, wie französische Annexionsabsichten eingedämmt und ideologische Spannungen verhindert wurden. Österreichs Mitteleuropaplan wurde ebenso vereitelt (S. 279ff.), wie ein klassischer Eindämmungskrieg gegen Russland geführt wurde (S. 323ff.). England und Preußen kooperierten zum Wohl des Konzerts in der belgischen Frage und Preußen verzichtete kompensationslos auf Neuenburg und wurde gemeinsam mit dem revolutionären Deutschland in der schleswig-holsteinischen Frage unter Kontrolle gehalten (S. 201ff.). Im Krimkrieg, so einer der wichtigsten Befunde, wurde das Konzert nicht zerstört, sondern setzte seine Forderungen gegen Russland in vollem Umfang durch. Allerdings wuchsen ab 1856 auch die Spannungen zwischen den Großmächten aufgrund des Nationalstaatsprinzips und auch der österreichisch-russische Gegensatz war fortan bis zum Ersten Weltkrieg eine feste und explosive Konstante im Staatensystem (S. 352f.). Immer wieder gelingt es Matthias Schulz den maßgeblichen Einfluss des Konzerts nachzuweisen und selbst Bismarck kam nicht umhin, bei der Reichseinigung mit dem Konzert zu rechnen und auch 1878 bekam das Zarenreich noch dessen Macht auf dem Berliner Kongress zu spüren.

Der abschließende Teil C bilanziert schließlich die institutionellen Merkmale des Konzerts wie auch den zeitgenössischen Diskurs über die internationale Ordnung und geht insbesondere bei Letzterem über den eigentlichen Untersuchungszeitraum hinaus bis 1914. Deutlich wird nochmals resümiert, dass die Legitimität des Konzerts auf Macht, Gewohnheiten, anerkannten Verfahren und Sprechakten beruhte. Ausgehöhlt und unterminiert wurde die Einigkeit des Konzerts indes vom nachhaltigen Wertewandel, ausgedrückt im aufkommenden Nationalstaatsprinzip, sowie der Neigung insbesondere der Vielvölkerreiche Russland und Österreich, zunehmend mit Drohgebärden statt normativen Argumenten zu operieren. Besonders interessant wirkt dabei auch für weitere Untersuchungen die Vermutung, dass der Nationalismus per se keine destabilisierende Wirkung entfaltete, sondern gerade die intervenierenden Armeen Österreichs und Russlands in Südosteuropa hier Geister riefen, die sich nicht mehr los werden sollten. Das Interventionsprinzip, so Schulz habe die internationale Autorität des Konzerts nachhaltig untergraben und ihm das Stigma des antirevolutionären Monarchenbündnisses angeheftet (S. 638f.). Hinzu kam, dass zum einen gerade auch die autoritären Regime Prestigefaktoren besonders hoch bewerteten und sich weniger bereit erklärten, sich der Mediation zu beugen, wie andererseits die gängige politisch-rechtliche Deklassierung kleinerer und mittlerer Staaten (S. 642f.).

An ihre Grenzen stößt die Arbeit lediglich bei einigen gewagten und vorschnell erscheinenden Analogieschlüssen etwa zum Völkerbund und zur UNO oder der abschließenden Kontinuitätslinie in das Zeitalter des Imperialismus hinein, wenn ausgerechnet Robert Salisbury als Verfechter und Kronzeuge einer ausgebliebenen Institutionalisierung des Konzerts vor 1914 genannt wird, obwohl sich doch ausgerechnet London jede Vermittlung bei der Fashodakrise verbat, jede Vermittlung bei dem russisch-japanischen Krieg kategorisch ablehnte, und sowohl bei der Algeciras Konferenz als auch den Balkankriegen jede Schiedsrichterrolle ablehnte.

Dessen ungeachtet war das Europäische Konzert zweifellos eine Erfolgsgeschichte und auch die differenzierte wie umfangreiche Analyse von Matthias Schulz wird ohne Frage den Rang eines Standardwerks einnehmen, dass den Grundstein für weitere Forschungen und viele Fragen etwa zum steigenden Einfluß der öffentlichen Meinung oder zum international dominierenden Herrscherhaus Sachsen-Coburg-Gotha liefert.

Anmerkungen:
1 Paul W. Schroeder, The Transformation of European Politics, 1763–1848, Oxford 1994.
2 Winfried Baumgart, Europäisches Konzert und nationale Bewegung: Internationale Beziehungen 1830–1878, Paderborn 1999.
3 Eckart Conze, Zwischen Staatenwelt und Gesellschaftswelt. Die gesellschaftliche Dimension internationaler Geschichte, in: Wilfried Loth / Jürgen Osterhammel (Hrsg.), Internationale Geschichte. Themen – Ergebnisse – Aussichten, München 2000, S. 117–140.

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