D. Mahnert u.a.: Zappa, Zoff und Zwischentöne

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Titel
Zappa, Zoff und Zwischentöne. Die Internationalen Essener Songtage 1968


Autor(en)
Mahnert, Detlev; Stürmer, Harry
Erschienen
Anzahl Seiten
309 S.
Preis
€ 22,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Karin Schützeichel, Historisches Seminar, Universität zu Köln

Seit den 1950er-Jahren formierte sich in der Bundesrepublik eine Jugendkultur, in der die Popmusik ein zentraler Bestandteil war. Die Ausdrucksformen dieser Jugendkultur bildeten einen wichtigen Aspekt im Prozess der kulturellen Pluralisierung. Zu diesem Phänomen kam in den 1960er-Jahren eine wachsende Politisierung der Jugendlichen, die sich zwischen 1967 und 1969 verdichtete und zu einer Verschmelzung von politischer Bewegung und kulturellem Erneuerungsschub führte. In diesem Zusammenhang stehen die Internationalen Essener Songtage, die vom 25. bis 29. September 1968 stattfanden. Sie waren mit etwa 40.000 Zuschauern – Jugendlichen aus der gesamten Bundesrepublik, dem benachbarten Ausland sowie maßgeblichen Vertretern der westdeutschen Gegenkultur – das bis dahin größte Popfestival Europas. Trotzdem fanden sie in der Forschung bisher wenig Beachtung.1 Dies ist um so erstaunlicher, da die Essener Veranstaltung im Jahr 1968 einen wesentlichen Treffpunkt der westdeutschen Gegenkultur bildete. Ein Hauptanliegen der Organisatoren war es, das politische und revolutionäre Potential, das sie der Popmusik zusprachen, einem breiten Massenpublikum näher zu bringen. Zugleich sollten die Essener Songtage nicht nur einen Blick auf die politisch grundierte populäre Musik der Zeit bieten, sondern ebenso auf die Lebensstile und künstlerischen Experimente, die sich innerhalb der Gegenkultur entwickelt hatten. Mit Hilfe dieses Forums hofften die Veranstalter eine alternative Kultur verfestigen zu können, innerhalb derer ihre Produzenten die Möglichkeit haben sollten, unabhängig von kommerziellen Interessen und Produktionsmechanismen zu agieren.

Detlev Mahnert, Künstlerbetreuer während des Festivals und Harry Stürmer, der als Besucher die Veranstaltung erlebte, legen nun eine erste Bestandsaufnahme der Internationalen Essener Songtage vor. Diese Mischung aus Erinnerungen von Veranstaltern, Künstlern und Besuchern sowie zeitgeschichtlichen Dokumenten will dabei weder eine „wissenschaftliche Analyse des musikalischen und gesellschaftspolitischen Geschehens in jenen Tagen“ (S. 8) bieten, noch den „Anspruch wissenschaftlicher Exaktheit“ (S. 9) erfüllen. Vielmehr versucht der Band einen Überblick über das Geschehen vor, nach und während der Veranstaltung zu geben.

Die ersten beiden Kapitel des Buches beschäftigen sich mit relevanten Eckdaten des Jahres 1968, um die Internationalen Essener Songtage historisch einzuordnen. Zunächst betonen Mahnert und Stürmer die Gleichzeitigkeit der 68er-Bewegung an verschiedensten Orten der Erde und gehen auf die Vorreiterrolle der USA ein. In knappen Unterkapiteln betrachten sie die Guerillabewegungen in Lateinamerika, die Militärdiktaturen in Griechenland und Spanien, die Entwicklung in den Ostblockländern, die Proteste in Italien und Frankreich und geben einen kurzen Überblick über die Ereignisse in der Bundesrepublik. Anschließend behandeln sie die Situation in Essen im Jahre 1968. Fazit dieses Rückblickes ist die Erkenntnis, dass Essen, entgegen landläufiger Meinungen, nicht so „verschlafen“ war, wie es auf den ersten Blick schien. Auch hier entwickelte sich eine subkulturelle Szene, die in verschiedenen Clubs der Stadt beheimatet war. Zudem gab es verschiedene Protestaktionen und Zusammenschlüsse Essener Hochschüler, Schüler und Lehrlinge. Die Essener Kabarett-Tage, die 1968 zum fünften Mal stattfanden und ein internationales Folklorefestival hatten in der Stadt bereits den Boden für Veranstaltungen jenseits der etablierten bürgerlichen Kultur bereitet.

Das dritte Kapitel widmet sich unter der Überschrift „Ein richtig duftes Fest“ dem Festival selbst. Neben einer Beschreibung der Vorbereitungen und Zielsetzungen der Organisatoren nimmt hier der Festivalverlauf den größten Teil ein. Die Vorbereitungen zu den Songtagen stießen nicht nur in der Bundesrepublik auf ein großes Medieninteresse. Zunächst war geplant, den Fokus auf Folkmusik, Chanson und das Genre des Liedermachers zu legen. Da jedoch viele Interpreten dieser Richtungen der Einladung nicht folgten, verschob sich der Schwerpunkt auf Pop-, Rock-, Blues- und Undergroundmusik. Zum zentralen Begriff der Essener Songtage wurde dabei der „Underground“ als allgemeine Bezeichnung für eine Subkultur, die gegen das „Establishment“ rebellierte. Mahnert und Stürmer listen in der Beschreibung des Festivals selbst zunächst den Programmablauf auf, um dann auf einzelne Veranstaltungen näher einzugehen. Dabei vermischen sie Informationen zu den Akteuren – ein Konglomerat aus biographischen Angaben, musikalischem Werdegang, Zielsetzungen und Ansätzen der Interpreten – mit Geschichten über Ereignisse während der Veranstaltungen und über Reaktionen in der Presse. Im anschließenden vierten Kapitel werden Lebenslinien „von Menschen, für die die Internationalen Essener Songtage zu einem Höhe-, Dreh- oder Wendepunkt ihrer eigenen Geschichte geworden sind“ (S. 9) nachgezeichnet. Dieser Teil des Buches gibt einen Einblick in die erinnerungsgeleitete Wahrnehmung des Festivals und der Zeit um 1968 von beteiligten Besuchern und Musikern.

In ihrem Resümee betonen Mahnert und Stürmer den exemplarischen Charakter des Essener Festivals für kulturelle, gesellschaftliche und musikalische Entwicklungen in der Bundesrepublik der 1960er-Jahre. So zeigten die Veranstaltungen zum einen, dass ein Wandel kultureller Formen stattgefunden hatte: Pop- und Rockmusik waren zu einem festen Bestandteil der Kultur geworden. Zum anderen präsentierte sich auf den Songtagen eine neuartige, demokratische Jugendkultur, in der soziale Grenzen immer weiter aufgebrochen wurden. Zudem trat hier deutlich das politische und gesellschaftskritische Potenzial der Rock- und Popmusik zutage. Diese Art der elektrifizierten Musik, auch dies wurde auf dem Festival deutlich, fand ein breiteres Publikum als die akustische Folkmusik. Die Hoffnungen, dass die Internationalen Essener Songtage zu einer Veränderung des gesellschaftlichen Bewusstseins und zu einer Revolution beitragen könnten, erfüllten sich jedoch nicht. Sie zeigten eben auch, dass „einer politischen Radikalisierung der Masse enge Grenzen gesetzt waren“2. Vielmehr trafen hier zwei Ausformungen der neuen Jugendkultur aufeinander: auf der einen Seite die eher passiv konsumierenden Jugendlichen und auf der anderen Seite ein stärker radikalisierter politischer Flügel. Dennoch gaben die Internationalen Essener Songtage wichtige Impulse für die Entwicklung der Popmusik und die Festivalkultur in der Bundesrepublik.

Das Buch von Detlev Mahnert und Harry Stürmer bietet einen interessanten Einstieg in die Geschichte der Internationalen Essener Songtage. Die Autoren werden ihrem Anspruch, dieses Festival aus erinnerungsgeschichtlicher Perspektive zu betrachten, durchaus gerecht. Leider erschwert gerade im Hauptteil des Buches die Mischung aus biographischen Angaben zu den Akteuren, erinnerungsgeleiteten Geschichten über das Festival selbst und Ausführungen zu Reaktionen in der Presse den Lesefluss. Dennoch finden sich hier für eine wissenschaftliche Untersuchung des Festivals viele Ansatzpunkte. Es fehlt jedoch ein systematischer Quellen- und Literaturapparat, der eine weitergehende Beschäftigung mit dem Thema erleichtern würde.

Anmerkungen:
1 Detlef Siegfried widmet den Internationalen Essener Songtagen in seiner Untersuchung über die Verbindung jugendlicher Konsumtion und Politik ein Unterkapitel: Rolf-Ulrich Kaiser und die Internationalen Essener Songtage 1968, in: Detlef Siegfried, Time is on my side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen 2006, S. 601–623. Zudem beschäftigen sich einige wenige Aufsätze mit den Internationalen Essener Songtagen: Timothy S. Brown, „The Germans meet the Underground“. The Politics of Pop in the Essener Songtage of 1968, in: Beate Kutschke (Hrsg.), Musikkulturen in der Revolte. Studien zu Rock, Avantgarde und Klassik im Umfeld von ‚1968‘, Stuttgart 2008, S. 163–173; Uwe Husslein, Von Kaisern und Kosmischen Kurieren. Die Ersten Internationalen Essener Song Tage 1968, in: Christine Flender / Ansgar Jerrentrup / Uwe Husslein (Hrsg.), „Tief im Westen ...“. Rock und Pop in NRW, Köln 1999, S. 77–89; Dick Städtler, Internationale Essener Song-Tage ’68. Ein ungewöhnlicher Artikel über ein außergewöhnliches Ereignis in einer gewöhnlichen Zeit, in: Floh de Cologne (Hrsg.), Rock gegen Rechts. Beiträge zu einer Bewegung, Dortmund 1980, S. 14–22.
2 Detlef Siegfried, Time is on my side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen 2006, S. 613.

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