Die Debatte um eine adäquate Definition und Einordnung von „Faschismus“ vor dem Hintergrund des Zeitalters der Ideologien ist so alt wie das Phänomen selbst. Als einer der prononciertesten Verfechter eines allgemeinen Faschismusbegriffs im deutschen Sprachraum kann Wolfgang Schieder gelten, der seit den 1960er-Jahren immer wieder für die Anwendung des Begriffs auf die italienischen und deutschen Bewegungen und Regimes plädiert hat. Im vorliegenden Band sind zahlreiche Aufsätze aus den Jahren 1983 bis 2006 gesammelt, in denen sich der Verfasser in der einen oder anderen Form mit dieser immer noch kontrovers geführten Debatte auseinandersetzt. Daneben findet sich ein bislang unveröffentlichter Aufsatz über Benito Mussolini und ein ebenfalls bislang nicht gedruckt vorliegender Essay über „Duce und Führer“ und die von beiden Diktatoren vorgenommenen „fotografischen Inszenierungen“.
Die Aufsätze gruppieren sich um vier Schwerpunkte und behandeln den Ursprungsfaschismus in Italien, den italienischen Faschismus als Vorbild für den Nationalsozialismus, den Nationalsozialismus als „deutschen Faschismus“ und schließlich den Vergleich beider Regimes. Gleichsam als Klammer dient eine längere und instruktive Einleitung, die den Leser mit dem neuesten Stand der Forschung vertraut macht und zugleich eine dezidierte Stellungnahme zugunsten der eigenen Interpretation darstellt.
Durchgehend wird der Vorbildcharakter des italienischen Faschismus für Hitlers Bewegung hervorgehoben. Die entsprechenden Aufsätze über die Protagonisten eines autoritären Staates in der Weimarer Republik sind hierfür ebenso ein Beleg wie der Beitrag über Carl Schmitt, der in einer idealisierten Version des faschistischen Korporativstaats eine antiparlamentarische Möglichkeit für das zukünftige Deutschland sah. In ganz ähnlicher Hinsicht dachte Erwin von Beckerath, der von Schieder als ein Verfechter faschistischer Rezepte vorgestellt wird. Blieben diese politischen Analysen noch weitgehend dem Feld der Wissenschaft und Publizistik verhaftet, macht der Aufsatz über den faschistischen Propagandisten Giuseppe Renzetti deutlich, wie sehr sich auch Italiener in der Zwischenkriegszeit immer wieder als Vermittler zwischen Mussolini und Hitler betätigten und für den Transfer des italienischen Modells auf das „Tausendjährige Reich“ plädierten. Kultur- und sozialgeschichtlich ausgesprochen anregend sind die Aufsätze über die (letztlich gescheiterte) Urbanisierungspolitik Mussolinis einerseits und die Studie über die Repräsentation der Antike im Faschismus – sie bilden gleichsam die Klammer für die zugleich technisch-moderne wie rückwärtsgewandte Ambivalenz und Janusgesichtigkeit der italienischen Diktatur.
Schieders Plädoyer für einen „generischen“ Faschismusbegriff wird mit zahlreichen Hinweisen auf die angloamerikanische Forschung unterstützt. Nicht zuletzt die Studien des britischen Sozialwissenschaftlers Roger Griffin begreift Schieder als einen weiteren Beleg für sein vehementes Votum für den allgemeinen Faschismusbegriff.1 Dass diese Interpretation durchaus noch nicht als unbestritten gelten kann, wird dagegen in Schieders Darstellung nur recht knapp behandelt: Zahlreiche deutsche Historiker wie Rudolf Lill, Karl Dietrich Bracher oder Klaus Hildebrand, um nur einige gewichtige Stimmen zu nennen, halten daran fest, die grundsätzlichen Unterschiede von Faschismus und Nationalsozialismus zu betonen und eine allzu weitgehende Parallelisierung abzulehnen. Auf dem internationalen Parkett sind es zudem ausgewiesene Faschismus-Forscher wie A. James Gregor, Stanley Payne oder Robert O. Paxton, die den idealtypischen Interpretationen Griffins mit diversen Argumenten und aus verschiedenen Perspektiven widersprechen. Aber auch Schieder selbst geht mit Griffin ins Gericht: Dieser habe den Begriff des Faschismus nur auf den des Nationalismus verschoben, eine Definition, die natürlich nicht weniger problematisch ist, wie Schieder zu Recht betont: „Wir haben es hier mit einem ideengeschichtlichen Zirkelschluß zu tun, der alle Versuche, auf der Basis ideologischer Befunde einen Allgemeinbegriff des Faschismus zu konstruieren, fragwürdig erscheinen läßt“ (S. 14). Es lässt sich daher auch heute noch festhalten, dass ebenso wenig wie vor einem Vierteljahrhundert klar ist, auf welche Phänomene sich der Begriff des „Faschismus“ beziehen sollte.
Ein weiterer Punkt fällt bei der erneuten Lektüre der Aufsätze Schieders auf: Die sozialistische Frühzeit Mussolinis spielt bei ihm so gut wie keine Rolle. Dieser sei ein „Möchtegernintellektueller“ gewesen, der sich nur oberflächlich mit anspruchsvollen politischen Texten befaßt habe. Sicherlich ist es richtig, auf den Eklektizismus des „Duce“ zu verweisen, der sich seine faschistische Ideologie aus Versatzstücken der Ideenwelt der Jahrhundertwende zusammensetzte. Aber wenn man ihn wie Schieder als das „Urbild eines politischen Voluntaristen“ charakterisiert, der sich früh daran gewöhnt habe, „seine politischen Ansichten wahllos zu wechseln“ (S. 32) ist doch zu wenig zu den linken Wurzeln und zur linken Frühphase des „Duce“ gesagt, der immerhin vor dem Ersten Weltkrieg zum mächtigsten Mann des Sozialismus in Italien aufgestiegen war.
Auffällig ist in diesem Zusammenhang vor allem, dass Schieder den ideologischen Wurzeln des Faschismus keine große Bedeutung zumisst – anders als dies etwa Jacob Talmon und Zeev Sternhell immer wieder mit plausiblen Argumenten getan haben. Auch in den beiden Aufsätzen über „Imperialismus im unfertigen Nationalstaat“ und „Die Geburt des Faschismus aus der Krise der Moderne“, die als vergleichende Überlegungen zu Deutschland und Italien angelegt sind, bleiben diese Aspekte merkwürdig unterbelichtet. Aber gerade der Verweis auf die ideengeschichtlichen Grundlinien der Genese der „modernen“ Diktaturen im langen 19. Jahrhundert ist Grundlage und Voraussetzung des – allerdings nur behaupteten und keineswegs unumstrittenen – „neuen Konsenses“, von denen die Verfechter des allgemeinen Faschismusbegriffs wie Roger Griffin sprechen: Die gemeinsamen ideengeschichtlichen Fundamente dieser massengestützten Regimes bleiben auch nach der anregenden Lektüre der Schieder-Aufsätze Steine des Anstoßes, die der Verfasser lieber umgeht, als sie aus dem Weg zu räumen.
Solange noch nicht geklärt ist, ob italienischer Faschismus und Nationalsozialismus unter einen gemeinsamen Faschismusbegriff passen, darf die Debatte also munter weitergehen – eine wissenschaftliche Auseinandersetzung, die der Skeptiker Gilbert Allardyce in einem Aufsehen erregenden Aufsatz im Jahr 1979 bereits als perennierendes Phänomen vorausgesagt hat.2 Es ist daher zu erwarten, dass auch weiterhin das historische und geschichtspolitische Schlachtfeld dieser Streitfragen von den rostenden Hüllen der „gescheiterten Theorien“ übersät bleibt, von denen MacGregor Knox gelegentlich gesprochen hat. Schieders gesammelte Aufsätze bieten eine gute Möglichkeit, sich über diese anregenden Debatten zu Nationalsozialismus und Faschismus zu informieren.
Anmerkungen:
1 Roger Griffin, The Nature of Fascism, New York 1991; ders. (Hrsg.), International Fascism. Theories, causes, and the New Consensus, London 1998.
2 Gilbert Allardyce, What Fascism is Not: Thoughts on the Deflation of a Concept, in: American Historical Review 84 (1979), S. 367-388.