Das Interesse an der Person und historischen Bewertung Mao Zedongs ist noch immer ungebrochen. Allein in den vergangenen fünf Jahren erschienen rund ein Dutzend englischsprachige Biographien über den einstigen Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Chinas und kultisch verehrten „großen Steuermann“ der chinesischen Revolution. Je nach Ambition der Autoren zielten die Werke dabei entweder auf eine Komplettrevision des Mao-Bildes in der Öffentlichkeit ab, oder aber sie beschränkten sich auf eine mehr oder minder detaillierte Darstellung von Maos Leben und Zeitkontext. Die einzige neuere Biographie Maos, die auch ins Deutsche übersetzt wurde, stammt aus der Feder des Autoren-Ehepaars Jung Chang und Jon Halliday1 und fand trotz aller Kritik hinsichtlich der mangelnden Wissenschaftlichkeit und Fehlerhaftigkeit der Darstellung einen enormen medialen Widerhall. Die deutlich ausgewogeneren Biographien von Philip Short oder Maurice Meisner2 hingegen wurden kaum zur Kenntnis genommen.
In Deutschland, in welchem die chinesische Zeitgeschichte seit langem nur ein Schattendasein im akademischen Forschungsbetrieb fristet, muss man deutlich weiter zurückgreifen, um mit Thomas Scharpings „Mao-Chronik: Daten zu Leben und Werk“ (1976) und Tilemann Grimms Rowohlt-Monographie „Mao Tse-tung in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten“ (1968) 3 auf eigenständige Darstellungen zu stoßen. Bei Ersterem handelt es sich jedoch primär um ein nützliches Nachschlagewerk, im zweiten Fall um stellenweise hagiographische Impressionen basierend auf dem geringen zeitgenössisch verfügbaren Quellenmaterial.
Vor diesem Hintergrund ist die Veröffentlichung der knappen Mao-Biographie von Sabine Dabringhaus in der Beck’schen Reihe „Wissen“ sehr zu begrüßen. Der Band liefert auf 128 Seiten eine gut geschriebene Einführung in die Thematik und zeichnet das Leben und die Bedeutung Mao Zedongs chronologisch in sechs Abschnitten nach. Es geht der Autorin dabei weniger um eine emotionale oder wertende Darstellung, als um spezifische Machtkonstellationen, „um die Strukturen hinter der Persönlichkeit, die in den Entscheidungen eine wichtige Rolle spielten.“ (S.7) Das Ergebnis ist daher kein Psychogramm, sondern eine historisch fundierte Annäherung an die sicherlich bedeutendste Persönlichkeit der chinesischen Geschichte im 20. Jahrhundert.4
Die ersten drei Abschnitte beschreiben die Herkunft Maos und seinen Aufstieg in der Kommunistischen Partei Chinas bis zur Staatsgründung im Jahr 1949. Mit wenig Rekurs auf die Parteimythen wird Maos ideologische und strategische Flexibilität herausgestellt, ebenso wie die Bedeutung zufälliger Begegnungen, die Maos Lebensweg entscheidend prägten. Interessant sind auch immer wieder die ansonst selten erwähnten Verweise auf Maos Ansichten über den Status der heutigen „Autonomen Regionen“ Xinjiang, Tibet und der Inneren Mongolei, die er keineswegs durchgängig als integralen Bestandteil Chinas verstand (etwa S. 22, S. 45).
Während Mao Zedong sich die Grundannahmen des Marxismus-Leninismus über den Gang der Weltgeschichte zu eigen machte (über die Angemessenheit des Begriffs „Bekehrung zum Marxismus“ (S. 22) in diesem Kontext ließe sich streiten), blieben die chinesische Tradition und der Nationalismus zentrale Koordinaten in seinem politischen Denken. Dabringhaus betont Maos fehlenden persönlichen Zugang zum Ausland, etwa in Form eines Auslandsstudiums oder der direkten Rezeption westlichen Gedankenguts und hält dies für einen wesentlichen Grund für Maos wenig doktrinären Umgang mit fremden Theorien und Modellen auch in der Folgezeit.
Die Durchsetzung Mao Zedongs innerhalb der Partei wird plausibel als Ergebnis einer Vielzahl von Faktoren und spezifischer Machtkonstellationen geschildert. Entgegen dem Parteimythos über die Durchsetzung der „korrekten Parteilinie“ unter Maos Führung auf der Zunyi-Konferenz 1935 wird der Prozesscharakter von Maos Aufstieg betont. Als entscheidende Faktoren verweist Dabringhaus hierbei vor allem auf die (partielle, aber äußerst wichtige) Unterstützung Maos durch die Sowjetunion, auf Fehler und Schwächen seiner innerparteilichen Konkurrenten und schließlich auf Maos Fähigkeit, aus situationsbedingten Überlebensstrategien neue Paradigmen für den Erfolg der chinesischen Revolution zu entwickeln. Hierzu zählten neben dem Stützen auf Guerillataktiken vor allem die Errichtung von Sowjetgebieten in abgelegenen Regionen und die ideologische Ausrichtung der Partei durch Massenkampagnen, aber auch der Einsatz von Gewalt und Terror gegenüber innenpolitischen Gegnern.
Die Abschnitte vier bis sechs befassen sich mit der Zeit nach der Gründung der Volksrepublik China. Dabringhaus schildert kompakt die staatliche Wiedervereinigung und Konsolidierung des Landes in den folgenden Jahren, die die Autorin zu Recht als die „größte Leistung“ (S. 67) Mao Zedongs bezeichnet. Die Anerkennung dieser historischen Leistung führt jedoch keineswegs zu einer Negierung der Schattenseiten von Maos zunehmend autokratischer Herrschaft und den zahllosen Opfern in der Bevölkerung, welche die Folgen seiner politischen Fehlentscheidungen, vor allem des „Großen Sprungs nach vorn“, zu tragen hatten.
Die politischen Intrigen der Kulturrevolution werden ausführlich abgehandelt und sind der einzige Teil der Buches, der inhaltlich gelegentlich einen veralteten Forschungsstand widerspiegelt. So ließe sich beispielsweise einwenden, dass die Rote-Garden-Phase durch den „Roten Terror“ zwar im öffentlichen Bewusstsein als gewalttätigste Periode verankert ist, die meisten Todesopfer jedoch erst im Rahmen der Massenkampagnen der Jahre 1968 bis 1970 zu beklagen waren. Auch entstammen die angeführten Kultrituale erst späteren Phasen nach dem Abklingen der Masseneuphorie des Herbstes 1966. Ferner ist die Vorstellung der Kulturrevolution als primär städtisches Phänomen (S. 97), welches die auf dem Land lebende Mehrheit der Chinesen nur marginal betroffen habe, mittlerweile klar korrigiert worden.5 Den Schluss des Buches bildet eine Schilderung des Mao-Mythos, in welchem sowohl die Zyklen der wissenschaftlichen Bewertung Maos als auch der gesellschaftliche Umgang mit seinem Erbe sehr knapp dargelegt werden.
Es ist das Anliegen dieses Buches, sowohl einer mythischen Überhöhung als auch einer Dämonisierung Maos vorzubeugen (S. 121), um ihn auf diesem Weg als historische Persönlichkeit in all seiner Widersprüchlichkeit analysieren zu können. Dieses Vorgehen erscheint dringend geboten und für einen ersten Einstieg in die komplexe Thematik eignet sich diese Biographie hervorragend.
Anmerkungen:
1 Jung Chang / Jon Halliday, Mao. Das Leben eines Mannes, das Schicksal eines Volkes, München 2007.
2 Maurice Meisner, Mao Zedong. A Political and Intellectual Portrait, Cambridge 2007; Philip Short, Mao: A Life, London 1999.
3 Thomas Scharping, Mao-Chronik. Daten zu Leben und Werk, München 1976; Tilemann Grimm, Mao Tsetung in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 1968.
4 Die Bebilderung des Bandes durch den Verlag ist leider gelegentlich irreführend (siehe etwa S. 68) oder fehlerhaft (siehe etwa S. 33, welches vom Siebten Parteitag 1945 und nicht aus dem Jahr 1937 stammt).
5 Vgl. Andrew G. Walder and Yang Su, The Cultural Revolution in the Countryside: Scope, Timing and Human Impact, in: The China Quarterly 173 (2003), S.74-99.