Cover
Titel
L'instant et son ombre.


Autor(en)
Bailly, Jean-Christophe
Reihe
Fiction & Cie
Erschienen
Anzahl Seiten
153 S.
Preis
€ 16,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Johanne Mohs, Institut für Romanistik, Universität Hamburg

Für Jean-Christophe Baillys Überlegungen zur Fotografie ist der Titel in doppelter Hinsicht Programm: Der „Augenblick und sein Schatten“ ist nicht nur eine Metapher in absentia für den fotografischen Akt, den Bailly in seinem Essay zu einem ontologischen Prinzip werden lässt, er demonstriert gleichzeitig auch das rhetorisch-methodische Grundmuster des Buches – eher verrätseln als aufklären. Im Rahmen einer Auseinandersetzung mit dem Wesen der Fotografie an so prominenter Stelle auf den fotografischen Akt zu verweisen, stellt außerdem von Beginn an den intellektuellen Hintergrund aus, vor dem Bailly seine Thesen entwickelt: Nicht einem wirkungsästhetischen Realismus verpflichtet er sich, der über ein Ähnlichkeitsverhältnis des Abgebildeten und seines außerfotografischen Referenten argumentiert, sondern einem Realismus, der den Entstehungsprozess des Bildes und damit den Augenblick des Registrierens der Wirklichkeit in den Vordergrund rückt. Inhaltlich nimmt Bailly also, wenn auch nicht explizit, eine in Frankreich seit den 1980er-Jahren starke Tendenz auf, das semiotische Zwitterwesen Fotografie in seinen indexikalischen Zügen zu stärken, das heißt sein Verhältnis zur Wirklichkeit über Referenz und nicht über Mimesis zu fassen.1 Da Bailly allerdings bereits auf den ersten Seiten des Buches ein persönliches Erlebnis zum Anlass seines Nachdenkens über das Wesen des Bildes erklärt und zusätzlich den Wunsch ausdrückt, sein Text solle „un genre de récit“ (S. 8)2 werden, wirkt der Versuch einer wissenschaftlichen Einordnung nahezu fehl am Platze. Der Essay versteht sich als Folge einer subjektiven Beobachtung, die einer Offenbarung unvermittelter Erkenntnis gleichkommt. Nicht zuletzt über diese Herangehensweise entziehen sich die Ausführungen der in den letzten 15 Jahren unter dem Stichwort „pictorial oder iconic turn“ geführten Diskussion zur Theorie und zum Wesen des Bildes, deren Erwähnung das Thema hätte vermuten lassen. Auch können sie nicht als ein Beitrag zu der momentan häufig betriebenen Annäherung an die Fotografie über wahrnehmungstheoretische Fragestellungen verstanden werden.3 Insgesamt scheint der Autor streckenweise eher ein literarisches, als ein wissenschaftliches Interesse zu verfolgen – was nicht verwunderlich ist, wenn man in Betracht zieht, dass Bailly auch Dichter ist.

Die beiden Fotografien, an denen Bailly seine Überlegungen entwickelt, bilden gleichzeitig die Struktur des Buches: Im ersten Teil („Une meule en pleine soleil“) beschäftigt sich der Autor mit einer Tafel aus Henry Fox Talbots „The Pencil of Nature“ von 1844 und im zweiten Teil („L’ombre d’une échelle“) setzt er seine Gedanken an einer Fotografie von den Folgen der Atombombenkatastrophe in Hiroshima 1945 fort. Beide Fotografien sind aus ganz unterschiedlichen Gründen als Dokumente bekannt: Die Abbildung mit dem Heuhaufen, an dem eine Leiter lehnt, dient Talbot zu Demonstrationszwecken des von ihm erfundenen Positiv-Negativ-Verfahrens, damals noch unter der Bezeichnung „Kalotypie“ geläufig, und soll, wie das gesamte Buch, die Vorteile und Verwendungsmöglichkeiten der neuen Kunst vorführen. Das von amerikanischen Soldaten kurz nach der Katastrophe gemachte Foto von den auf einer Hauswand fixierten Schatten einer Leiter und eines Menschen, die durch die Strahlungen verbrannt wurden, demonstriert dagegen ein erstaunliches Begleitphänomen der grausamen Auswirkungen der Atombombe. Nicht etwa über die, wie Bailly selbst betont, „pure passerelle formelle“ (S. 12)4, in diesem Fall die Leiter als wiederkehrendes Detail, noch über zugänglichere Verbindungen wie Thema, Autor oder Stil, solle der Zusammenhang zwischen den beiden Aufnahmen hergestellt werden, sondern über eine Art Geistesblitz des Autors, den er unter Rückgriff auf Walter Benjamins Begriff des „Optisch-Unbewussten“ als ein der Heuhaufenfotografie eingeschriebenes Diktat versteht.5 Dieses Diktat besteht in einer Metaebene, die das Foto insbesondere über den inszeniert wirkenden Schatten der Leiter exponiert und die sich in den Hiroshimabildern nahezu absurd in der Realität übersteigert. Das dem Foto innewohnende Potential des Nachdenkens über die Fotografie ergibt sich über den Schatten als einem Emblem für Vergänglichkeit, Augenblicklichkeit und Immaterialität und demnach auch als Metapher für die Fotografie, die in diesem Sinne als Schatten eines Moments verstanden werden kann. Mit dieser Metapher einher geht, wie Bailly es nennt, die „pouvoir catastrophique“ (S. 89)6 der Fotografie, die darin besteht, dass sie die Existenz der Dinge fixiert und gleichzeitig ihr zwangsläufiges Verschwinden vor Augen führt, immer, wie es heißt, „la mort en vue“ (S. 144).7 Die Atombombe hatte in diesem Sinne einen ähnlichen „fotografischen Effekt“, indem sie tatsächlich in einem einzigen Augenblick großflächig Leben auslöschte – die ungreifbare Signatur dieses Lebens, ihren Schatten, vielfach aber als einziges Zeugnis dieser Auslöschung bewahrt hat.

Irritierend an Baillys Herleitung des Fotografischen über eine Katastrophe, die, überspitzt formuliert, „wie eine riesenhafte Fotografie“ funktioniert und Talbots Foto, das das Wesen des Fotografischen demonstriert, ist die Tatsache, dass in einem Fall der autonome Referent als Bezugsgröße dient und in dem anderen Fall der Signifikant – das heißt einmal das Phänomen Strahlung und seine katastrophalen Auswirkungen und einmal das Medium und die Natur seiner Übersetzungsprozesse. Das Ganze wäre nicht weiter erwähnenswert, wenn der „fotografische Effekt“ der Atombombe nicht anhand von einer ganz bestimmten, dieses Mal explizit als Dokument fungierenden Fotografie untersucht werden würde. Mediale Komponenten wie etwa Fragen, die sich mit der „Fotografierbarkeit“ der Katastrophe beschäftigen, werden dabei außer Acht gelassen. Umgangen werden sie durch eine kurze Auflistung der Typen von Fotografien des Ereignisses und durch wiederholte Zitate aus dem Roman „Schwarzer Regen“ von Masuji Ibuse, die sich mit dem Grauen der Explosion und ihren Folgen beschäftigen. So schleicht sich mit fortschreitender Lektüre eine Ahnung der Unangemessenheit der Metaphorisierung der radioaktiven Strahlung ein, insbesondere, da Talbots Fotografieverständnis vorrangig als Naturphänomen ausgedeutet wurde, bei dem der Mensch nur eine nebengeordnete Rolle einnimmt – der Natur eben nur den Stift reicht.

Am Ende bleibt die Frage nach der weiterführenden Aussage von der im ersten Teil des Buches konstatierten Notwendigkeit eines durch die Fotografie ausgelösten Umdenkens hinsichtlich des „Bilder-Denkens“. Gerade da Bailly in den ersten Zeilen des Buches für sich in Anspruch nimmt, die „vieux schèmes de la présence et de l’absence, de la masse et du détail, du temps filé, ou filant, et du temps stoppé net“ (S. 7) 8 zu erschüttern, entsteht um so stärker der Eindruck, er habe sie eher wiederbelebt, denn gestürzt und allenfalls um ein erschütterndes Bild der Fotografie erweitert. Das von dem Autor stets bemühte Wortfeld „Mysterium“, immer wenn es um Wirkungen oder Entstehungsprozesse des Mediums geht, kehrt zusätzlich die in der Katastrophenmetapher gipfelnde furchterregende Seite der Fotografie heraus. Bailly knüpft damit an einen noch viel älteren die Fotografie begleitenden Gedanken an: den ihrer magischen, unerklärlichen Kraft. Auch der schon lang erwartete Verweis auf die bekannteste Anekdote in diesem Zusammenhang bleibt nicht aus: Auf den letzten Seiten des Buches erinnert Bailly an die von Nadar überlieferte Angst Balzacs vor einer schrittweisen Zersetzung des menschlichen Körpers durch eine jede fotografische Aufnahme (S. 143ff.).

Erfreulich ist am Ende die weniger durch stringente Argumentation und vielmehr durch die sich an einen „pensée flottante“ 9 anlehnende Methodik und Schreibweise erreichte Stärkung des fiktionalen Gehaltes von Fotografie. Nicht mehr die Beweiskraft des Fotos, also sein unantastbarer Realitätsgehalt ist zentral in Baillys Überlegungen, sondern seine nicht messbare stimulierende Wirkung auf Vorstellungs- und Denkprozesse. Ohne programmatisch zu werden widmet sich dieses Buch der Fotografie als einem Vorstellung stiftendem Medium.

Anmerkungen:
1 Ob aus einem künstlerischen, fototheoretischen oder philosophischen Anlass wird dieses Interesse durch so unterschiedliche Autoren wie Denis Roche, Philippe Dubois oder Jean-Marie Schaeffer legitimiert. Siehe beispielsweise: Denis Roche, La disparition des lucioles. (Reflexions sur l’acte photographique), Paris 1982; Philippe Dubois, L’Acte photographique et autres essais, Paris 1990; Jean-Marie Schaeffer, L’image précaire. Du dispositif photographique, Paris 1987.
2 Übersetzung der Verfasserin: „eine Art Erzählung“.
3 Siehe beispielsweise: Bernd Stiegler, Theoriegeschichte der Fotografie, München 2006.
4 Übersetzung der Verfasserin: „ein rein formales Bindeglied“.
5 Walter Benjamin, Kleine Geschichte der Fotografie, in: Wolfgang Kemp / Hubertus von Amelunxen (Hrsg.), Theorie der Fotografie Bd. 2, München, S. 200-213, hier S. 202.
6 Übersetzung der Verfasserin: „katastrophale Macht“.
7 Übersetzung der Verfasserin: „den Tod vor Augen“.
8 Übersetzung der Verfasserin: „die alten Schemata von Präsenz und Absenz, von Masse und Detail, von der langgezogenen oder sich auflösenden Zeit und von der abrupt angehaltenen Zeit“.
9 Übersetzung der Verfasserin: „frei treibende Gedanken“.

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