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Titel
Personifizierte Ideologie. Zur Konstruktion, Funktion und Rezeption von Identifikationsfiguren im Nationalsozialismus und im Stalinismus


Autor(en)
Luckey, Heiko
Reihe
Internationale Beziehungen. Theorie und Geschichte 5
Erschienen
Göttingen 2008: V&R unipress
Anzahl Seiten
597 S.
Preis
€ 72,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Armin Pfahl-Traughber, Fachhochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung, Brühl

Seit Jahrzehnten gibt es in Öffentlichkeit und Wissenschaft eine kontroverse Debatte um die Totalitarismus-Kategorie in der vergleichenden Diktaturforschung. Während dabei die grundlegende Problematik inhaltlich dominierte, fanden komparative Studien nur wenig Interesse. Dabei liegen mittlerweile eine Reihe von Analysen vor, welche die theoretische Auseinandersetzung auf eine stärker historisch-empirische Basis stellen könnten. Hierzu gehört auch der voluminöse Band „Personifizierte Ideologie. Zur Konstruktion, Funktion und Rezeption von Identifikationsfiguren im Nationalsozialismus und im Stalinismus“, der aus der Dissertation des Politikwissenschaftlers Heiko Luckey hervorgegangen ist. Er will darin Funktion, Propagierung und Wesen populärer Identifikationsfiguren in den beiden Diktaturen vergleichend untersuchen und somit eine Lücke in der bisherigen Totalitarismusforschung schließen. Ausgangspunkt ist dabei die Einsicht, dass konkrete Personen ein besonders geeignetes Mittel zur affektiv ansprechenden Vermittlung von Ideologie seien.

Einleitend unterscheidet Luckey vier Idolgruppen: die Gründungs- und Märtyreridole, die Alltagsidole, die historischen Idole und die Idole aus der Unterhaltungsbranche. Ihnen ordnet er jeweils für Nationalsozialismus und Stalinismus eine Person zu: den SA-Sturmführer Horst Wessel, den Boxer Max Schmeling, König Friedrich, den Großen und die Sängerin Zarah Leander bzw. den Bürgerkriegskommandeur Vasilij Capaev, den Rekordflieger Valerij Ckalov, Zar Ivan IV., den Schrecklichen und die Schauspielerin Ljubow Orlova. In den beiden Hauptkapiteln der Arbeit werden sie als jeweilige Fallstudie ausführlich hinsichtlich Hintergründen und Wirken vorgestellt, wobei der Autor insbesondere nach der Funktion und der Rezeption des Idols fragt. Dabei nutzt er die folgenden Kategorien: den Anlass für die Konstruktion von Idolen, die Ursachen für die Wahl der jeweiligen Identifikationsfiguren, die Schöpfer der Idole, die personifizierte ideologische Botschaft, die Mittel zur Idolpropagierung und die anvisierte Zielgruppe in der Gesellschaft.

Bilanzierend heißt es danach zur Konstruktion populärer Identifikationsfiguren in totalitären Systemen: „Die elementare Ursache dafür, dass sich die Propagandisten totalitärer Regime überhaupt mit dem Phänomen der populären Identifikationsfiguren befassten, war [...], das Bemühen der Machthaber, der systemtragenden Ideologie ein Gesicht zu verleihen, um die Bevölkerung auf dem Wege einer affektiv über den Faktor der Identifikation wirkenden Propaganda emotional stärker an das Regime und seine Ideologie zu binden“ (S. 501). Und weiter bemerkt der Autor: „Die Idole waren zwar längst nicht das einzige Mittel zur Erreichung dieses Ziels, auch wurde ihnen [...] im Nationalsozialismus weniger Beachtung und Wirkung zuteil als im Stalinismus. Trotz aller Unterschiede bleibt die gemeinsame Struktur und Funktion stalinistischer wie nationalsozialistischer Idole aber doch unverkennbar: Letzten Endes erscheinen sie alle unter ihrer menschlichen Hülle als personifizierte Ideologie und somit als ein Baustein zur Errichtung der angestrebten totalen Herrschaft“ (S. 552).

Luckeys Arbeit beeindruckt zunächst durch den hohen Informationsgehalt und das systematische Vorgehen: Zu den genannten Idolen arbeitete er umfangreiches Faktenmaterial auf, nicht nur bezogen auf die jeweilige Person im engeren Sinne, sondern auch auf deren öffentliches Wirken. Auch der berufliche und gesellschaftliche Kontext findet Beachtung, wovon etwa Unterkapitel zum Sportverständnis des Nationalsozialismus oder zur Entstehung der stalinistischen Musikkomödie zeugen. Mitunter hätte der Autor hier aber mehr zusammenfassen können. Von Interesse sind bei seiner Fragestellung schließlich weniger die genauen Details, sondern deren analytische Deutung. Sie leistet der Autor in überzeugender Form jeweils am Ende einer Fallstudie, wobei er kenntnisreich und souverän sein Analyseprogramm abarbeitet – und damit die relevanten Erkenntnisse für einen bilanzierenden Gesamtvergleich ermittelt. Gleichwohl hätte er den damit verbundenen Einschätzungen einen größeren Stellenwert zuweisen können.

In den einzelnen Fallstudien beschreibt Luckey aber nicht nur, er erweist sich hier immer wieder auch als guter Analytiker. Die Ausführungen zu den spezifisch stalinistischen Kennzeichen im Bild vom neuen Alltagshelden stehen dafür ebenso wie die Herausarbeitung von unterschiedlichen Motiven in den sowjetischen Propagandaliedern. Gegen Ende der Studie verweist der Autor auch treffend auf die Unterschiede zum öffentlichen Stellenwert von Idolen in Demokratien: „Während es in Stalinismus und Nationalsozialismus zwar eine große Anzahl von Idolen gab, die in ihrem Kern aber Bestandteile ein und derselben Ideologie verkörperten, treten in einem pluralistischen System zahlreiche Idole mit zahlreichen Charaktereigenschaften auf“ (S. 550). Derartige vergleichende Betrachtungen – auch zur Rolle von Idolen in autoritären Systemen – hätte man sich indes etwas ausführlicher gewünscht, käme doch so die Besonderheit totalitärer Herrschaft auch in diesem speziellen Bereich des gesellschaftlichen Lebens deutlicher zum Ausdruck.

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