Lange Zeit wurde die tschechische Forschung zu Böhmen im Hochmittelalter durch den 1913 von Vàclav Novotný veröffentlichten Band „Von Břetislav I. zu Přemysl I.“ (1034-1198) bestimmt.1 Erst in den 1990er-Jahren wurde dieses bis dahin unumstrittene Standardwerk in tschechischer Sprache durch Arbeiten von Josef Žemlička und Marie Bláhová weitgehend ersetzt; Žemličkas Werk über „Böhmen im Zeitalter der Fürstenherrschaft“ (1997) gilt seitdem als maßgebliches Werk zu diesem Thema.2
Dennoch ist grundlegende Kritik an einigen Ansichten Žemličkas geübt worden, und so lohnt es sich, in dieser Rezension einen Blick auf die „neue erweiterte und ergänzte Auflage“ von 2007 zu werfen. Abgesehen von einem zentralen Schlusskapitel „‚Böhmen im Zeitalter der Fürstenherrschaft’ nach zehn Jahren. Bilanz und Ausblick“ (S. 403–423) und Ergänzungen im Apparat gleicht diese Neuauflage fast seiten- und inhaltsgetreu der Erstauflage.
In seiner Einleitung (S. 5) beschreibt Žemlička zunächst die konzeptionelle Ausrichtung seines Buchs und skizziert die Forschungstendenzen zur Přemyslidenzeit vor der Wende 1989. Vorherrschend war zum einen in dieser Zeit ein statisches Verständnis des frühmittelalterlichen Staates, der „als ein Monolith betrachtet [wurde], der im 10. Jahrhundert heranreifte und in verhältnismäßig unveränderter Form bis zum Ende des 12. Jahrhunderts überdauerte.“ (S. 7) Dem gegenüber möchte Žemlička das dynamische Bild von weittragenden Veränderungen in den behandelten zwei Jahrhunderten präsentieren. Zum anderen unterlag die Mediävistik vor 1989 einer ideologischen Kontrolle zwar weniger als die Erforschung der Neuzeit und Zeitgeschichte, wie Žemlička in seinem Schlusskapitel beschreibt (S. 405, u.a.: „… konnte man im Ganzen über alles forschen“), doch verschweigt er, dass nur ideologisch standfeste Wissenschaftler des Instituts für tschechoslowakische Geschichte und Weltgeschichte der Akademie der Wissenschaften der ČSSR zur Erforschung des mittelalterlichen „Feudalismus“ herangezogen wurden. Zu ihnen zählte seit 1970 auch Žemlička selbst, der ab 1981 in leitender Funktion publizieren und „frei“ forschen konnte und noch in seiner 1990 erschienenen Biografie „Přemysl Otakar I.“ von einer in „Klassen“ gegliederten Feudalgesellschaft unter Hinweis auf Werke von Marx und Engels schrieb. Vor diesem Hintergrundwissen erhält Žemličkas Beschreibung „harmloser“ Forschungsverhältnisse einen bitteren Beigeschmack.
Die zweite Auflage seines Buchs begründet Žemlička, der durch die Ausübung verschiedener Ämter derzeit der formal einflussreichste tschechische Mediävist ist, wie folgt (S. 8): „Weil zehn Jahre gerade die Zeit sind, nach der nicht nur ein Buch dieses Schlages, sondern auch ein Haus oder ein Garten eine Erneuerung benötigen.“ Freilich, Besitzer älterer Häuser, vor allem so genannter Plattenbauten, wissen, dass es Fundamente und Bausubstanz gibt, die auch mittels Renovierung vor einem endgültigen Verfall nicht mehr gerettet werden können, in Tschechien vor allem dann, wenn zum Bau Material und Handwerk des realen Sozialismus zur Anwendung kamen. Wie stabil und tragfähig ist also das von Žemlička errichtete Haus „Böhmen im Zeitalter der Fürstenherrschaft“?
Das Buch ist in zwölf Hauptkapitel gegliedert und folgt dem chronologischen Ereignisablauf, wobei dieser durch thematisch orientierte Unterkapitel aufgelockert wird. Diese führen den Leser zunächst in die Welt des Mittelalters und in frühere Epochen der Geschichte Böhmens und Mährens ein und haben kulturelle, wirtschaftliche, religiöse und sozialgeschichtliche Themen zum Inhalt. Im dritten Kapitel wird die Herrschaft des Přemyslidenfürsten Břetislav I. behandelt und seine erfolgreiche Kriegsführung und Politik als ein bedeutender Einschnitt der böhmischen Geschichte gewertet. Das gilt ebenso für den chronologischen Schlusspunkt, die Verleihung der erblichen Königswürde an Přemysl Otakar I. 1198. Die Breite und stellenweise Farbigkeit der Darstellung bedingen zusammen mit dem Faktenreichtum den Erfolg des Buches. Ein Personen-, Orts- und Sachregister und zahlreiche Abbildungen vervollständigen die Publikation.
Žemlička vertritt in seiner Monographie exponiert das seit den 1960er-Jahren erarbeitete „mitteleuropäische Modell“ eines „Sonderweges“ der „Staaten“ Böhmen, Polen und Ungarn in ihrer Entwicklung bis zum 13. Jahrhundert, als diese Länder „in den Strom des europäischen ‚Feudalismus’ gezogen wurden“ (S. 411). Dieses „Modell“ habe trotz elementarer Kritik, die es etwa von dem Brünner Mediävisten Libor Jan erfahren hat, seine Richtigkeit (S. 406, 410f.). Integriert in das „Modell“ sind Phasen der geschichtlichen Entwicklung, die durch das Beutemachen („kořistná“ fáze), ein Benefizialwesen („beneficiární“ etapa) und zuletzt eine Privatisierung staatlichen Eigentums („privatizace“ či „odstátnění“ knížecího [= státního] majetku) gekennzeichnet werden (S. 407). Besonders der Begriff einer vom Adel vehement betriebenen „Privatisierung“, die zu einer Aushöhlung der postulierten, einst geschlossenen Herrschaft der Zentralgewalt geführt habe, wird gegen Kritik verteidigt (S. 411f.). Damit verbunden ist auch die Frage nach der verfassungsrechtlichen und sozialen Stellung eines Adels und seiner Herrschaftsausübung. Auch hier hält Žemlička – wieder gegen Libor Jan – an grundsätzlich älteren Ansichten fest (S. 416f.). Und ebenso weist er neueste Thesen Martin Wihodas über die Entwicklung des Fürstentums und Königreichs Böhmen sowie die Stellung Mährens zurück (S. 416–419). Mit der aufgezeigten Verdichtung der Herrschaft der Přemysliden sollen „Brüche“, „Wandel“, „Transformation“, „Modernisierung“ und „Konversion“ verbunden gewesen sein und insgesamt eine „lange Revolution“ darstellen (S. 411), wobei eine Differenzierung dieser Begriffe ausbleibt. In der Endphase habe der Herrscher sogar die „flächendeckende Kontrolle [!] über Land und Leute“ verloren, da seine ehemaligen Verwaltungs- und Gerichtsrechte auf „private Obrigkeiten“ übertragen wurden (S. 147, 408).
Diese Entwicklung bindet Žemlička stark an das Wirken der herrschenden „Dynastie“, was in prägnanten Äußerungen kulminiert, wenn etwa vom „Geschlecht der Přemysliden“ als „Gründerdynastie böhmischer Staatlichkeit“ gesprochen wird (S. 420). Einher geht damit konsequenterweise eine Fokussierung auf den „Staat“, dessen erfolgreiches Funktionieren und beständige Emanzipation vom römisch-deutschen Reich mit Freude zur Kenntnis genommen wird. Die an anderer Stelle postulierte „revolutionäre Implantation der Institution Staat“ in den böhmischen Ländern um das Jahr 1000 haben die Přemysliden gemäß Žemlička insgesamt bravourös gemeistert, so dass sie letztendlich ähnlich absolutistischen Fürsten regiert haben müssen.
Auffallend ist der unreflektierte Gebrauch etlicher Begriffe, der zu fragwürdigen Aussagen führt. Das gilt für die häufige anachronistische Verwendung von „Staat“ oder „deutsch“, die angebliche Existenz von „Territorien“ im 11. Jahrhundert (S. 175), einer „Landaristokratie“ oder einer „militärischen Ministerialität“ im Fürstentum Böhmen (S. 416, 279). Zur fragwürdigen Aussage: „Mit dem Christentum drang in die Böhmischen Länder das Bewusstsein von der Welt des kirchlichen kanonischen Rechts ein, das in seinem Wesen bis zum 13. Jahrhundert mit dem römischen Recht ineinanderfloss“ passt das nicht haltbare Unterkapitel „Eindringen des römischen und kanonischen Rechts“ (S. 172, 705). Überhaupt suggerieren manche Überschriften Entwicklungen für das 11. und 12. Jahrhundert, die so nicht stattfanden, was aber im jeweils zugehörigen Text nicht wesentlich korrigiert bzw. präzisiert wird.
Dem Buch ist deutlich anzumerken, dass sein gemäß dem Autor aus der Mitte der 1980er-Jahre stammendes Konzept bzw. „grundlegende Philosophie“ [!] (S. 406) mit größtenteils aus dem Westen stammenden neuen Erkenntnissen und Trends, die auch manches Mal plakativ übernommen wurden, angereichert wurde, was eine Art Temelín der Geschichtsforschung hervorbringt, wobei alte Fundamente trotz aller Sanierungsversuche das Gebäude tragen müssen. Žemlička bietet in seinem Haus und Garten eine national determinierte „Meistererzählung“ über den Aufbau des unabhängigen „böhmischen Staates“ im Hochmittelalter, in welcher zuvorderst die Leistung des Herrschergeschlechts der Přemysliden gefeiert wird. Es scheint, als habe Žemlička ein autoritatives Großnarrativ geliefert, das durchaus an sozialistische Meistererzählungen anknüpft.
Das Publikum muss also weiterhin auf eine mittelalterliche Geschichte Böhmens warten, die sich – entkleidet von nationalpolitischen Determinanten und Wunschvorstellungen – auf dem Stand der europäischen Mittelalterforschung bewegt. Bis dahin wird Žemličkas Haus bewohnt werden, danach wird es hoffentlich zur verlassenen Ruine. Am Ende des Buches steht die Ankündigung eines großen, unter der Leitung Žemličkas entstehenden Sammelwerkes mit dem Titel „Die Přemysliden – der Aufbau des tschechischen Staates“, das wohl an Ferdinand Peroutkas berühmtes Buch „Aufbau des Staates [= ČSR]“3 erinnern soll, genauso aber auf Zeiten des „sozialistischen Aufbaus“ verweist. Dieser neue Sammelband wird trotz des Versprechens, „neue konzeptionelle Blicke“ (sic!) auf die Epoche der Přemysliden zu werfen, das besprochene Buch wohl an Umfang, nicht aber in seinem Konzept qualitativ übertreffen.
Anmerkungen:
1 Václav Novotný, České dějiny [Böhmische Geschichte]. Bd. I,2: Od Břetislava I. do Přemysla I. [Von Břetislav I. zu Přemysl I.] (1034-1197), Praha 1913.
2 Josef Žemlička, Čechy v době knížecí [Böhmen im Zeitalter der Fürstenherrschaft] (1034-1198). Praha 1997; Marie Bláhová u.a., Velké dějiny zemí Koruny české [Große Geschichte der Länder der böhmischen Krone]. Bd. 1: Do roku 1197 [bis zum Jahr 1197], Praha 1999. Zur Geschichte Böhmens bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts vgl. auch Josef Žemlička, Počátky Čech královských [Die Anfänge des Königreichs Böhmen] 1198-1253. Proměna státu a společnosti [Wandel in Staat und Gesellschaft], Praha 2002.
3 Ferdinand Peroutka, Budování státu [Der Aufbau des Staates], 4 Bde, Praha 1933-36.