T. Des Pres: Der Überlebende - Anatomie der Todeslager

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Titel
Der Überlebende - Anatomie der Todeslager. Mit einem Nachwort von Arno Gruen. Aus dem Englischen von Monika Schiffer


Autor(en)
Des Pres, Terrence
Erschienen
Stuttgart 2008: Klett-Cotta
Anzahl Seiten
248 S.
Preis
€ 22,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marc Buggeln, Fachbereich Kulturwissenschaft, Universität Bremen

Mehr als 30 Jahre nach dem ersten Erscheinen liegt Terrence Des Pres’ Buch „Der Überlebende“ nun erstmalig in deutscher Sprache vor. Als es 1976 in den USA publiziert wurde, hatten die Themen Holocaust und Konzentrationslager in Deutschland weder in der Geschichtswissenschaft noch in der Öffentlichkeit Konjunktur. Erst durch die im Januar 1979 gesendete Fernsehserie „Holocaust“ änderte sich das Klima langsam. Während Des Pres’ Studie in der Mehrzahl der amerikanischen Arbeiten über den Holocaust im Literaturverzeichnis zu finden ist, wurde sie in der Bundesrepublik lange Zeit kaum zur Kenntnis genommen. Erst durch das zunehmende Interesse an und die methodische Auseinandersetzung mit Zeitzeugenberichten in der historischen Forschung fand die Studie Eingang in deutsche Literaturverzeichnisse. Der veränderte Kontext dürfte ein wesentlicher Grund sein, warum das Buch nun übersetzt wurde.

Terrence Des Pres war Literaturwissenschaftler und Philosoph. Sein Buch beruht im Wesentlichen auf der Auswertung von publizierten Berichten überlebender Häftlinge vor allem der nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager sowie des Gulags. Seine Herangehensweise ist mitunter literaturwissenschaftlich, seine Fragestellung aber eher philosophischer und anthropologischer Natur. Der Gegenstand wird im ersten Satz des Buches klar umrissen: „Mein Thema ist das Überleben als eine Fähigkeit von Menschen, dem unvorstellbaren Druck einer dauerhaften Notsituation standzuhalten, die schlimmsten körperlichen und seelischen Schmerzen zu ertragen und dennoch weiterzumachen, zu leben, geistig gesund und menschlich zu bleiben.“ (S. 7) Damit sind einige mögliche Fragen bereits beantwortet. Für Des Pres ist klar, dass manche Menschen dem Konzentrationslager standgehalten haben und „geistig gesund und menschlich“ geblieben sind. Um eben diese Menschen geht es ihm, nicht um die Verstorbenen oder die „geistig Kranken“ (wobei die Scheidelinie zwischen gesund und krank bei Des Pres nicht problematisiert wird). Die Frage des Buches engt sich dadurch darauf ein, herauszufinden, wer gesund überlebt hat und wie oder warum es dazu kam.

Nun ist Des Pres allerdings kein Sozialdarwinist, der meint, der Überlebende hätte das Lager deshalb überstanden, weil er härter und brutaler um sein Leben gekämpft hätte. Für den Autor ist nicht der Hobbes’sche Kampf aller gegen alle die menschliche Natur, sondern für ihn ist der Mensch von Natur aus ein soziales Wesen, das sich um die Mitglieder seiner Spezies sorgt und kümmert. Da es aber Nazis als Lagerführer gab, muss etwas existieren, was die Menschen von ihrer Natur abgebracht hat. Bei Des Pres sind dies wahlweise „die westliche Zivilisation“, „der Rationalismus“ oder „der Humanismus“. Sie seien allerdings nur die am weitesten vom „wirklichen“ Leben entfernten Positionen. Das Elend habe begonnen, als der Mensch vor einer Milliarde Jahren entdeckte, dass er sterblich war. Diese Erkenntnis ist laut Des Pres dafür verantwortlich, dass der Mensch Angst vor dem Tod hat, diesen verleugnet und deswegen auch das Leben gering achtet. Statt einfach zu leben, erfindet er Götter, sucht nach Höherem und tötet für diese kulturellen Erfindungen seine Artgenossen.

Zentral ist für Des Pres nun die Annahme, dass die Häftlinge durch die Situation im Konzentrationslager radikal auf das reine Leben und Überleben zurückgeworfen wurden. Um zu überleben, mussten sie allen kulturellen Ballast über Bord werfen und wieder ganz Mensch werden. So erscheinen die Konzentrationslager bei Des Pres mitunter als besonders heimeliger Ort oder Schule fürs Leben. Er schreibt zum Beispiel: „Je größer der Druck von außen, desto stärker wird der Zusammenhalt nach innen. [...] Eine Gesellschaft kann nur unter sehr günstigen Voraussetzungen asoziale Verhaltensformen ihrer Mitglieder tolerieren. Menschen können so tun, als wären sie niemandem etwas schuldig, doch Überlebende wissen, dass sie einander brauchen.“ (S. 224)

An diesem Punkt wird aus der wirren biologistisch-essentialistischen Theoriediskussion eine Verfälschung der Geschichte. Des Pres liest die Schriften der Überlebenden extrem einseitig, um zu dem erwünschten Ergebnis zu kommen. Vielfältige negative Erfahrungen, die nicht von menschlicher Solidarität handeln, sondern etwa vom Kampf der Häftlinge um ein Stück Brot, werden in zentralen Passagen ausgeblendet. Ebenso bleibt unbeachtet, dass zahlreiche Überlebende nach dem Konzentrationslager psychisch schwer erkrankten. Eines der häufigsten Symptome war die weitgehende Kontaktunfähigkeit gegenüber anderen Menschen, weil das Vertrauen in die Menschheit enorme Erschütterungen erfahren hatte.

Eine psychologische Deutung des Werkes von Des Pres würde wohl auf die Beobachtung hinauslaufen, dass der Autor mit sich und der Welt zutiefst unglücklich war und sich nichts sehnlicher wünschte, als einfach zu leben und glücklich zu sein. Dass ihm dies nicht gelang, warf er vor allem der westlichen Zivilisation vor, aus deren Schlinge er sich nicht zu lösen vermochte. Den Häftlingen im Konzentrationslager war dieses einfache Glück, das ihm verwehrt blieb, hingegen scheinbar möglich. So schreibt Des Pres über einen Häftling: „Er isst seine Suppe, und eine Glückseligkeit steigt in ihm auf, als würde ihm eine göttliche Segnung zuteil. [...] Schuchow erfährt einen der seltenen Momente, in denen ein Mensch einfach nur so und ohne wirklichen Grund glücklich ist zu leben.“ (S. 24)

Positiv ist hervorzuheben, dass man dem Buch auf jeder Seite die Verzweiflung des Autors anmerkt, die zu einer radikalen Suche nach der Wahrheit führt. Dadurch wirft Des Pres sehr grundsätzliche und zum Teil interessante Fragen auf, auch wenn er aus meiner Sicht darauf kaum überzeugende Antworten findet. Die Dringlichkeit seines Anliegens macht aber vermutlich einen Teil der Faszination aus, die das Buch auch heute noch teilweise auslöst.1 Zudem hat es dort Stärken, wo sich der Autor mit seinen Interpretationen zurückhält und sich auf die Perspektive der Häftlinge einlässt. Dies war in der Entstehungszeit des Buches wenig verbreitet und darum bedeutsam. Heute liegt jedoch eine Anzahl von Büchern vor, die Ähnliches weit besser leisten.2

Eine der interessanten Fragen, die das Buch aufwirft, ist jene nach der möglichen Veränderung des Heldenstatus in der modernen Welt. Für Des Pres zeichneten sich die größten Helden der Menschheitsgeschichte dadurch aus, dass sie ihr Leben opferten: „Sie alle lösen ihre Konflikte, indem sie sterben. [...] Der Kampf ums Überleben dagegen wirkt verdächtig. Wir sprechen vom ‚bloßen’ Überleben – als ob das Leben als solches nichts wert wäre.“ (S. 11f.) Des Pres proklamiert, dass sich dies angesichts der Massenverbrechen des 20. Jahrhunderts ändern müsse: „Nach Auschwitz, Hiroschima und Indochina haben wir die Berechtigung verloren, den Tod als ehrenhaft zu würdigen.“ (S. 12) Für Des Pres werden stattdessen die Überlebenden der Konzentrationslager zu den neuen Helden des 20. Jahrhunderts.

In diesem Punkt hat Des Pres die beeindruckende Studie von Tzvetan Todorov beeinflusst3, die ebenfalls anhand der Untersuchung von Berichten Überlebender die Frage nach der menschlichen Moralität aufwirft. In der Frage des Heldentums stimmt Todorov Des Pres weitgehend zu und sieht jene Überlebenden als Helden an, die sich in den Konzentrationslagern unter schwersten Umständen um andere Häftlinge kümmerten. Der Vorteil von Todorovs Studie ist jedoch, dass sie weder biologistisch noch deterministisch argumentiert und dadurch viel überzeugendere Antworten findet als Des Pres. Wer sich also für die grundsätzlichen Lehren interessiert, welche aus der Existenz von Konzentrationslagern möglicherweise gezogen werden können, dem sei das Buch von Todorov empfohlen. Des Pres’ Studie erweist sich aufgrund ihrer Einseitigkeit und ihres Essentialismus dagegen als wenig hilfreich.

Anmerkungen:
1 Vgl. die Rezensionen in: Neue Zürcher Zeitung, 21.5.2008; Stuttgarter Zeitung, 6.6.2008; Tagesspiegel, 29.12.2008.
2 Vgl. z.B. Lawrence Langer, Holocaust Testimonies. The Ruins of Memory, New Haven 1991; Ulrike Jureit, Erinnerungsmuster. Zur Methodik lebensgeschichtlicher Interviews mit Überlebenden der Konzentrations- und Vernichtungslager, Hamburg 1998.
3 Tzvetan Todorov, Angesichts des Äußersten, München 1993.

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