Cover
Titel
Augenzeuge dreier Epochen. Die Memoiren des ungarischen Außenministers Gustav Gratz 1875–1945


Herausgeber
Páal, Vince; Gerhard Seewann
Reihe
Südosteuropäische Arbeiten 137
Erschienen
München 2009: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
IX, 648 S.
Preis
€ 69,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nils Müller, Freie Universität Berlin

Gustav Gratz (1875-1946) stand immer nur schlaglichtartig im Vordergrund der politischen Ereignisse. Kurzzeitig war er 1917 ungarischer Finanz- und 1921 Außenminister. Während der Rückkehrversuche des abgesetzten Kaisers Karl IV. als König auf den ungarischen Thron im Frühjahr 1921 gehörte Gratz zu dessen engsten Getreuen. Höchste Ämter blieben ihm darum im Ungarn des Reichsverwesers Horthy in Zukunft versperrt. Als Publizist, Beamter, Diplomat und Verbandsfunktionär war Gratz jedoch eine zentrale Person des ungarischen Establishments sowohl vor als auch nach dem Ersten Weltkrieg. Er gehörte zu den Initiatoren der einflussreichen „Sozialwissenschaftlichen Gesellschaft“ in Budapest zu Beginn des Jahrhunderts. Im Außenministerium war er an den Zollunionsverhandlungen zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn und an den Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk beteiligt. Nach dem Zusammenbruch der Räterepublik wurde er Botschafter in Wien, und ab 1924 Vorsitzender des „Ungarländischen Deutschen Volksbildungsvereins“. Gratz kannte die wichtigsten innen- und außenpolitischen Probleme aus erster Hand und gestaltete eine Vielzahl von Prozessen selbst mit. Deshalb ist die hier anzuzeigende kommentierte Edition seiner Memoiren eine wertvolle Quelle nicht nur zur Person, sondern generell für die Beschäftigung mit verschiedensten Themen der ungarischen Geschichte jener Epoche(n).

Seine Kindheit in den deutschsprachigen Gemeinden in Zips und Siebenbürgen machen den ersten Teil der Memoiren aus. Gratz beschreibt seine Prägung durch „den ‚Zipser‘ Geist, der die Liebe zur deutschen Kultur und zur deutschen Muttersprache mit einer durchaus staatstreuen und patriotischen Gesinnung harmonisch vereinte“ (S. 31). Gratz lernt früh und willig die ungarische Sprache und publiziert sein Leben lang in beiden Sprachen; deutsch regelmäßig als Leitartikler für die Budapester Tageszeitung Pester Lloyd. Auch die vorliegenden Memoiren sind in Deutsch verfasst. Nach der Promotion zum Doktor der Staatswissenschaften in Klausenburg (Kolozsvár, Cluj) kommt Gratz 1898 nach Budapest, wo er als Journalist, Redakteur des Huszadik Század, der Zeitschrift der Sozialwissenschaftlichen Gesellschaft, die er 1906 im Streit mit den radikaleren Denkern um Oszkár Jaszi verlässt, und schließlich ab jenem Jahr als Parlamentsabgeordneter Zugang zu den einflussreichen Kreisen der Hauptstadt erhält. Mit seiner Ernennung zum Sektionschef im k. u. k. Außenministerium 1917 endet der erste, kürzere Teil der Memoiren.

Der zweite beginnt mit sehr ausführlichen Darstellungen der Verhandlungen von Brest-Litowsk und der folgenden Friedensverhandlungen in Bukarest, an denen Gratz dank seiner neuen Funktion im Außenministerium teilnahm. Dieser Teil ist von diplomatie- und politikgeschichtlichen Themen dominiert. Gratz selbst hat extensiv über die neuere ungarische Geschichte geschrieben, darunter einen dreibändigen Überblick über die Geschichte des Landes vom österreichisch-ungarischen „Ausgleich“ 1867 bis zum Ersten Weltkrieg.1 Diese Übung ist den Texten anzumerken. Auch wenn er seine Memoiren „in der Absicht [schreibt], die Motive darzulegen, von denen ich mich bei dem, was ich getan oder unterlassen habe, leiten ließ“ (S. 518), ist der Text frei von offenkundig falschen Zuschreibungen, auch wenn er an einigen Stellen dazu neigt, die Bedeutung seines Mitwirkens über Gebühr hervorzuheben (zum Beispiel für die Gründung des Budapester Mitteleuropa-Instituts; S. 463).

Rechtfertigungsschrift sind die Memoiren besonders an zwei Stellen. Als Botschafter in Wien war er 1920 Repräsentant der gegenrevolutionären Regierung in Budapest, und „erfreute“ sich des „aufrichtigen Hasses“ der Wiener Bevölkerung (S. 253). Unter Verweis auf seine persönlichen Probleme mit der Spaltung zwischen persönlicher Meinung und Amt schreibt er, nach der Affäre um die von Freikorps getöteten Journalisten einer sozialistischen Budapest Zeitung seine Demission erwogen zu haben. Das Konzept des Telegramms befände sich noch in seinem Besitz. Dieselbe Tendenz prägt den thematischen Block seiner Erinnerungen, der die Rückkehrversuche König Karls behandelt. Seine Erzählung beschreibt die Innenperspektive zu allgemein bekannten Geschehnissen, erzählt von Vier-Augen-Gesprächen mit Karl oder Königin Zita, und entzieht sich damit natürlich jeder Nachprüfbarkeit.

Die Memoiren sind auch kulturgeschichtlich von Interesse. Seine Beobachtungen zur Atmosphäre bei den Verhandlungen in Brest-Litowsk, über die sowjetische Delegation und die versammelte mitteleuropäische Diplomatie, die als „neu“ und „alt“ einander „mehr als fremd gegenüber“ standen (S. 94) verraten ebenso viel über die Wahrnehmungsweisen eines bestimmten Teils der ungarischen Eliten, wie über den Gang der Verhandlungen selbst. Eine reichhaltige Quelle ist dahingehend auch Gratz’ Bericht über eine Vortragsreise in die USA 1925, ein in seiner Ausführlichkeit eher überraschender Fund.

Auch jener Teil, der den inneren Verhältnissen Ungarns in der Zwischenkriegszeit gewidmet ist, scheint in dieser Perspektive interessant. Nach seiner Parteinahme für König Karl musste Gratz sich einige Jahre politischer Aktivitäten enthalten, kehrte nach seiner Wahl ins Abgeordnetenhaus Ende 1926 aber wieder in die Politik zurück. Er schildert, wie er unter reichlichem Einsatz von Gulaschsuppe und Rotwein das Mandat in einem Wahlkreis erlangte, den er nicht gut kannte, und der ihn kaum interessierte – ein lebhaftes Beispiel für die politische Wirklichkeit im Ungarn der Zwischenkriegszeit, wo die geheime Wahl durch ein parteipolitisches Klientelsystem ersetzt wurde. Mit seiner Arbeit für den „Volksbildungsverein“ versuchte Gratz, dem wachsenden Einfluss des nationalsozialistischen Deutschland unter der deutschen Minderheit entgegenzutreten – ein weiteres zentrales Problem, über das er aus erster Hand berichten konnte.

Die Niederschrift der Memoiren muss in mehreren Schritten zwischen 1938 und 1943 geschehen sein, wie die Herausgeber darlegen. Zwei Kapitel sind aber nachgeschoben, in denen Gratz die Zeit des Zweiten Weltkriegs, und besonders seinen Aufenthalt im Lager Mauthausen schildert, aus dem er erst aufgrund einer Haftungserklärung seines österreichischen Schwiegersohnes (eines NSDAP-Mitglieds) freigelassen wurde. In die Betrachtungen des alltäglichen Lebens im Lager mischt er eine Wiederholung und Zusammenfassung seines Credo, das den ganzen Text leitmotivisch durchzieht: Seinen politischen Liberalismus und den Glauben an eine mitteleuropäische Kulturgemeinschaft. „Der Mitteleuropäer ist an den Verkehr mit Menschen von anderer Abkunft und mit anderen Sitten und Gebräuchen gewöhnt und das gibt ihm etwas Leichteres, Großzügigeres, Kosmopolitischeres, das dem immer unter seinen Stammesgenossen lebenden […] Preußen, Franken oder Sachsen fremd ist […].“ (S. 586)

Bislang wurden Gratz’ Memoiren lediglich auszugsweise in ungarischer Übersetzung publiziert. Die Entscheidung der Herausgeber, einige Teile des Manuskriptes in der Edition auszulassen, ist nicht nur in Hinblick auf den Umfang des Buches zu begrüßen. Sie bewirkt eine leserfreundliche thematische Fokussierung. Die nicht berücksichtigten Texte betreffen die weitere Familiengeschichte Gratz’ und seiner Ehefrau Ilonka, sowie seinen Vater Moritz Gratz und das Verhältnis Gustavs zu seinen Eltern. Der Anmerkungsapparat bietet nur in Kleinigkeiten Grund zur Kritik. An manchen Stellen ist die Leitlinie für den Kommentar nicht leicht nachvollziehbar. So werden Shakespeare und Luther mit biographischen Angaben versehen, Schiller jedoch nicht (S. 41f.). Manche verwirrenden Auslassungen (zum Beispiel S. 59) werden nicht auf das Manuskript zurückgeführt. Gerade in Details zur ungarischen Geschichte ist der Kommentar aber gründlich erarbeitet, umfassend, und trägt wesentlich dazu bei, dass Gratz’ Memoiren sich als historische Quelle ersten Ranges lesen lassen. Eine Lektüre, die allen an der Geschichte Ungarns und der ostmitteleuropäischen Region in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Interessierten uneingeschränkt sehr zu empfehlen ist.

Anmerkung:
1 Gusztáv Gratz, A dualizmus kora. Magyarország története 1867-1918 [Die Epoche des Dualismus. Geschichte Ungarns 1867-1918], Budapest 1934, ders., A forradalmak kora. Magyarország története 1918-1920 [Die Epoche der Revolutionen. Geschichte Ungarns 1918-1920], Budapest 1935, und der aus dem Nachlass publizierte Band: Magyarország a két háború között [Ungarn zwischen den zwei Kriegen], herausgegeben von Vince Páal, Budapest 2001.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension