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Titel
Peter Koller (1907–1996). Stadtplaner in Diktatur und Demokratie. Eine Biografie


Autor(en)
Glaser, Marcel
Reihe
Stadt – Zeit – Geschichte
Erschienen
Göttingen 2022: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
474 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nils Exner, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

„Er läuft und läuft und läuft“, hieß es 1968 in einem Werbeslogan für den VW-Typ 1, um seine technologische Verlässlichkeit auszudrücken und die klare Richtung ‚nach vorne‘ anzuzeigen. Wie kein anderes (Export-)Gut dürfte der als „Käfer“ bekannte Wagen seit den 1950er-Jahren als Symbol für den wirtschaftlichen Wiederaufstieg Deutschlands stehen.1 Das in der Werbung klar angezeigte Vorwärtsschreiten ging unterdessen mit einem breiten gesellschaftlichen Bedürfnis des Vergessens und Verdrängens der nationalsozialistischen Vergangenheit einher. Dabei verweist der „Käfer“ selbst darauf, wie die Anfänge der bundesdeutschen Nachkriegswirtschaft im „Dritten Reich“ lagen. Schon ab 1938 als KdF-Wagen produziert, ging er schließlich im Sommer 1945 in Serienproduktion, da die Produktionsstätten während des Krieges für Rüstungsgüter genutzt worden waren. Inzwischen war die „Stadt des KdF-Wagens bei Fallersleben“ auf Druck der Besatzungsmacht bereits in den heutigen Namen Wolfsburg umbenannt worden.

Wenige Jahre zuvor, Ende 1937, hatte Peter Koller (1907–1996) den Auftrag für die Planung und den Bau dieser neu zu gründenden und als nationalsozialistisches Musterbeispiel vorgesehenen Stadt erhalten. Von Albert Speer wurde er zum Chef des Stadtbaubüros der Deutschen Arbeitsfront (DAF) ernannt und legte 1938 seinen städtebaulichen Entwurf vor. 1942 kamen die Bauarbeiten kriegsbedingt zum Stillstand und Koller meldete sich freiwillig zur Wehrmacht. Im Dezember 1943 geriet er in sowjetische Kriegsgefangenschaft und kehrte Ende 1945 nach Deutschland zurück, wo er zunächst im Architekturbüro seines früheren Stellvertreters im Stadtbaubüro, Titus Taeschner, arbeitete, um sich anschließend ebenfalls selbstständig zu machen. Nach zahlreichen Projekten in Wolfsburg und im Umland wurde Koller 1955 zum Stadtbaurat ernannt. Unentwegt betonte er, seine Stadtplanungen seien grundsätzlich unpolitisch, wobei er die Nachkriegsentwürfe zweier katholischer Kirchen in Wolfsburg als Nachweis verstanden wissen wollte, von seinen nationalsozialistischen Überzeugungen geläutert zu sein. Mit Blick auf Kollers noch in den 1960er-Jahren fortentwickelte stadtplanerische Konzepte konstatiert Marcel Glaser in der hier rezensierten Monographie wiederum, dass es sich „im Grunde [um] ein Wiederaufgreifen der alten Praxis als NS-Stadtplaner“ handelte. Wie viele seiner Planergeneration hatte er den „entscheidenden Innovationsschub“ in den 1930er-/1940er-Jahren erhalten und war im Zuge der völkischen Neuordnungsvorhaben in Kontakt mit Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlern gekommen. So prägten „Konzepte und Methoden von Ludwig Neundörfer, Gerhard Isenberg oder Emil Uebler [...] Kollers Arbeitsweise bis in die späten 1960er Jahre“ (S. 419).

Vor allem seit Anfang der 2000er-Jahre werden Fragen nach personell-institutionellen Kontinuitäten über die politische Zäsur des Jahres 1945 hinweg in der historischen Forschung breiter untersucht. Auch die Bauforschung hat sich inzwischen verstärkt dem Thema Kontinuität zugewandt. Nachdem hinsichtlich der untersuchten Akteure die Publikationen in den ersten Nachkriegsjahrzehnten weitestgehend durch das Verdrängen der NS-Verstrickungen gekennzeichnet waren, verfolgten die Architektenbiografien der 1980er-/1990er-Jahre oftmals eine scharfe Trennung von Architektur und Stadtplanungskonzepten auf der einen sowie der nationalsozialistischen „Gesinnung“ auf der anderen. Der Umstand, dass die „Geschichte der Architektur [...] vor allem von Architekten geschrieben“ wurde2, trug wiederum nur selten dazu bei, die Ästhetik überschreitende Fragen, etwa nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Politik, zu beantworten. Stattdessen hatte schon 1986 Werner Durth in seiner richtungsweisenden Schrift Deutsche Architekten. Biographische Verflechtungen 1900–1970 auf die Selbststilisierung der Architekt:innen hingewiesen.3 Nicht zuletzt beteiligten sich an dieser Mythenbildung Wissenschaftler:innen und Publizist:innen, indem sie Selbstdarstellungen reproduzierten, anstatt diese quellenkritisch zu hinterfragen. Auch im Falle Peter Kollers entstanden somit seit den späten 1970er-Jahren auf Grundlage seiner eigenen Aussagen mehrere, zumeist unkritische Arbeiten. Erfolgreich hatte Koller durch zahlreiche Interviews und autobiografische Schriften die Deutung manifestiert, dass sowohl sein städtebauliches Programm als auch seine politischen Überzeugungen nichts mit dem Nationalsozialismus zu tun hätten. Noch 2007 zeichnete die Stadt Wolfsburg Student:innen mit einem „Koller-Preis“ aus.

Die „Aura des umfassend Auskunft gebenden Zeitzeugen“ (S. 15) teilte Peter Koller dabei mit seinem Förderer Albert Speer, mit dem er schon seit 1929 verbunden war und als dessen städtebaulichen Konterpart er sich retrospektiv inszenieren sollte. Was die Dekonstruktion von Legenden durch akribische Quellenarbeit betrifft, hob schließlich Magnus Brechtken die Architektenbiografie mit seiner 2017 erschienenen Speer-Untersuchung auf ein neues Level. Tatsächlich weisen Marcel Glasers Koller- und Brechtkens breit rezipierte Speer-Biografie Parallelen im Zugriff auf die beiden Akteure auf. Dies gilt vor allem im Hinblick darauf, wie die Dekonstruktion der apologetischen Narrative mit der (überwiegend) chronologischen Darstellung der Lebenswege miteinander verwoben werden und gerade in der Nüchternheit der Engführung mit den Quellen überaus anschaulich geschrieben sind. Obwohl er reichlich Grund dazu hätte, teilt Glaser jedoch nicht so hart aus wie Brechtken in seinem Prolog im Hinblick auf das „Nicht-selbst-Nachforschen“4 in älteren Arbeiten. Was Kim Christian Priemel vor dem Hintergrund etlicher Speer-Biografien als Klang „der Enttäuschung der späten Geburt“ bezeichnete5, kann man Marcel Glaser indes nicht nachsagen. Zwar wurde zu Peter Koller in den letzten Jahrzehnten Einiges publiziert, aber Glasers Biografie ist die erste des Wolfsburger Stadtplaners. Dass sich Marcel Glaser dieser Aufgabe in seinem Dissertationsprojekt angenommen hat, ist angesichts seiner in zahlreichen Fachartikeln zu Wolfsburg und Peter Koller bereits unterstrichenen Expertise nur konsequent.

Zwar wird in der neueren Forschungsdebatte die Analyse von Narrativen inzwischen als ein zentrales Anliegen identifiziert, ist bisher aber weit davon entfernt, als ausreichend eingelöst zu gelten. Dabei prägen sie bis heute nachhaltig das Bild vom Planen und Bauen im Nationalsozialismus, sind dringend aber auch in ihrer Bedeutung für das Geschichtsbild der Bundesrepublik zu untersuchen. In unzähligen Leserbriefen kritisierte Peter Koller Journalist:innen, wenn ihm ihre Urteile über seine Wolfsburger Planungen missfielen. Gleichzeitig stellte er bereitwillig seine vielen autobiografischen Manuskripte zur Verfügung, die auch einen großen Teil des überlieferten Nachlasses ausmachen, der den zentralen Quellenbestand für Glasers Untersuchung bildet. Dabei ist sich Glaser des performativen Charakters dieser Quellen durchaus bewusst, halten sie doch nicht nur Informationen bereit, sondern inszenieren auch Realität.6 In Glasers Untersuchung werden Leerstellen in der Überlieferung des Nachlasses klar benannt (etwa das fast vollständige Fehlen privater Dokumente) und die Überlieferungsgeschichte kritisch rekonstruiert. Wo möglich, werden Kollers Selbststilisierungen durch Heranziehung paralleler Überlieferungen anderer Archive und Nachlässe aufgebrochen. Die Fülle und Bandbreite der konsultierten Quellen sind beeindruckend. Gleichwohl erkennt auch Glaser grundsätzlich an, dass sich der „biografisch Arbeitende der performativen Wirkung der Quellen nur bedingt entziehen kann“ (S. 18f.).

Insgesamt identifiziert Glaser zwei Phasen im autobiografischen Werk Kollers. Eine erste nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, in der das autobiografische Schreiben der Überwindung der eigenen Krisenerfahrung und der Integration in die neuen demokratischen Institutionen diente. Zusammen mit dem Wiedereintritt in die katholische Kirche schuf Koller die Konversionsgeschichte einer Verführung durch den „Führer“, während er für seine Zeitgenoss:innen zugleich als Entlastungsfigur fungierte: Stadt- und Werksgründung erschienen dabei als rein technische und daher legitime Projekte, die lediglich durch die Nationalsozialisten missbraucht worden seien. Pointiert arbeitet Marcel Glaser dabei heraus, dass der Zusammenbruch des NS-Staats sowohl in persönlicher als auch in weltanschaulicher Hinsicht eine Zäsur bedeutete, die Kollers Akt des autobiografischen Schreibens überhaupt erst motivierte. Während er, „[g]eprägt von den traumatisierenden Erlebnissen der Niederlage und der Kriegsgefangenschaft [...] nach ideologischer Orientierung“ in den Erinnerungsgemeinschaften seiner einstigen, völkischen Jugendbewegung suchte (S. 297), drohte Koller die Deutungshoheit über die von ihm geplante Stadt zu entgleiten. „Denn die Vergangenheit Wolfsburgs als ‚NS-Musterstadt‘ stellte eine besondere Problematik dar, belastete diese Zuschreibung doch die mit der Planung und Entstehung der Siedlung befassten Akteure gleichsam als Nationalsozialisten“ (S. 287). Indem Marcel Glaser das Agieren und die Emotionen Kollers in Beziehung zu den sich wandelnden gesellschaftlich-politischen Verhältnissen setzt, leistet er mit der Überkreuzung von Individual- und Planungsgeschichte auch methodisch einen anregenden Beitrag zur modernen Biografik.

Eine zweite Phase im Akt des autobiografischen Schreibens identifiziert Glaser für die 1970er- und 1980er-Jahre, in der Koller angesichts der Fragen der jüngeren Generation mit einem starken Hang zu Selbstzufriedenheit und Überheblichkeit versuchte, ein Denkmal seiner selbst in der Geschichte zu bauen. Wie für autobiografische Texte charakteristisch, war Koller darum bemüht, dem eigenen Leben Kohärenz zu vermitteln: Er sei sich sein ganzes Leben treu geblieben, wobei er hierzu ex post zum Widerständler gegen den Nationalsozialismus avancierte. Glaser zeichnet hier zwar durchaus nachvollziehbar das Bild einer narzisstischen Persönlichkeit Kollers, die Ausführungen weisen aber nicht die gleiche analytische Tiefe auf, wie es für die Nachkriegszeit gilt.

Obwohl in den letzten beiden Jahrzehnten nicht nur die Bandbreite der als biografiewürdig angesehenen Personen deutlich erweitert wurde, sondern auch die Forschungsperspektiven durch sozial-, kultur-, sowie gender- und emotionsgeschichtlichen Fragestellungen ergänzt wurden, stehen im Gros der jüngeren Biografien von Architekt:innen weiterhin vor allem kunstgeschichtliche Fragestellungen im Zentrum. Vor diesem Hintergrund kann Marcel Glasers Untersuchung als im besten Sinne atypische Biografie bezeichnet werden. Die für die Architekturgeschichte ungewöhnlich umfangreiche Auswertung schriftlicher Quellen ermöglicht Glaser Rückschlüsse auf die Denkmuster oder auch Wünsche seines Protagonisten und – über die Individualbiografie hinausgehend – dessen Experten- beziehungsweise Planermilieus. Glaser zeigt damit zum einen, wie die persönlichen Mentalitäten und Haltungen die Vorstellungen über die als notwendig erachtete Ordnung und Gliederung von Stadt und Raum prägten, zum anderen in disziplinärer Perspektive, wie die oftmals noch viel zu eng gefasste Architektur- beziehungsweise Planungsgeschichte vom „fachfremden“ Blick profitieren kann (Glaser studierte Geschichte und Germanistik). Auch im Hinblick auf die Forschung zum Nationalsozialismus leistet die Untersuchung einen genuinen Forschungsbeitrag: Indem Glaser die individuellen Handlungs- und Gestaltungsspielräume Peter Kollers zu den strukturellen Bedingungen des Nationalsozialismus in Beziehung setzt, werden ebenfalls Aussagen über die Funktionsweise des NS-Staates im Allgemeinen ermöglicht. Dabei ist eine Stärke der Biografie, dass trotz des besonderen Augenmerks auf Kollers Aktivitäten im „Dritten Reich“ sein Wirken nach 1945 nicht einfach als Nachgeschichte des Nationalsozialismus erscheint, sondern diese genauso als Vorgeschichte seines Wirkens in der postnazistischen, demokratischen Gesellschaft.

Anmerkungen:
1 Bernhard Rieger, The People's Car. A Global History of the Volkswagen Beetle, Cambridge, Mass. 2013.
2 Andri Gerber / Stefan Kurath, Einführung, in: dies. (Hrsg.), Stadt gibt es nicht! Unbestimmtheit als Programm in Architektur und Städtebau, Berlin 2015, S. 7–29, hier S. 18.
3 Werner Durth, Deutsche Architekten. Biographische Verflechtungen 1900–1970, Wiesbaden 1986.
4 Magnus Brechtken, Albert Speer. Eine deutsche Karriere, München 2017, hier S. 14.
5 Kim Christian Priemel, Rezension zu: Brechtken, Magnus: Albert Speer. Eine deutsche Karriere. München 2017, in: H-Soz-Kult, 08.12.2017, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-24537 (23.03.2024).
6 Thomas Etzemüller, Biographien. Lesen, erforschen, erzählen, Frankfurt am Main 2012, S. 80.

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