Nicht erst seit dem Krieg gegen die Ukraine tritt Russland gegenüber seinen Nachbarstaaten Estland, Lettland und Litauen als Aggressor auf. Dabei reichen die Aktionen von innenpolitischer Einflussnahme über Propaganda bis hin zu militärischen Drohgebärden. Grundsätzlich erfolgte diese antibaltische Politik Russlands bereits seit der Erneuerung der Selbstständigkeit der drei Staaten in den Jahren 1990 und 1991, wurde aber nach dem Machtantritt von Vladimir Putin verstärkt und ausgebaut. Einen russischen Einmarsch hatten Experten (und Einheimische) selbst nach dem NATO-Beitritt der Länder im Jahre 2004 zwar für unwahrscheinlich, aber für möglich gehalten, nicht zuletzt während der Präsidentschaft Donald Trumps in den USA und der vermeintlichen Schwächung des Verteidigungsbündnisses der NATO. Für die britische Journalistin Aliide Naylor, die selbst estnische Wurzeln hat, einige Jahre für russische Medien wie The Moscow Times gearbeitet hat, darunter auch „kremlnahe“ (S. 12), wie sie selbst sagt, seien die baltischen Staaten ein „Testfeld“ (S. 5) der russischen Staatsorgane für Praktiken und Strategien, die dann an anderen Orten eingesetzt würden.
Im vorliegenden Band, der 2020 erstmalig erschien und kürzlich als Paperback herauskam, beschreibt Naylor die gesellschaftliche und politische Situation in den drei Ländern in Bezug auf Russland sowie Themenfelder, die der Nachbarstaat für seine aggressive Politik nutzt. Ein politisches Schlachtfeld ist dabei die Deutung der Vergangenheit, wie Naylor ausführt. Die drei Staaten lösten sich nach dem Ersten Weltkrieg vom Russischen Imperium und erkämpften ihre Unabhängigkeit in Kriegen gegen die neue Sowjetarmee, was Ländern wie der Ukraine oder Georgien damals nicht gelang. In der Folge des Hitler-Stalin-Paktes wurden sie 1940 von der Sowjetunion besetzt und annektiert, anschließend von Nazi-Deutschland okkupiert und schließlich unter Stalin zurückerobert. Für die Beziehungen der einzelnen baltischen Nationen zu Russland ist dies insofern bedeutsam, als die sowjetische Besatzung stets als „russisch“ wahrgenommen wurde. Naylor legt dar, dass im Rahmen der „Sowjetisierung“ von 1940 bis 1950 etwa 200.000 bis 400.000 Menschen durch die Sowjets aus allen drei Ländern deportiert wurden (S. 16). Zudem wurden die Eliten gezielt ermordet, sodass Experten wie der estnische Historiker Rein Taagepera, auf den sich die Autorin hier bezieht, von einem „Genozid“ sprechen. Vor der Folie der genozidalen sowjetischen Gewaltverbrechen, die zentral für die nationale Identität der Menschen in Lettland, Estland und Litauen sind, sei die verbreitete Angst vor einem neoimperialen Russland unter Putin nachvollziehbar. Naylor verweist darauf, wie Putins Kriege, etwa 2008 in Georgien oder die Besetzung der Krim im Jahre 2014, diese Ängste verstärkt hätten.
So listet die Autorin orchestrierte Aktionen russischer Geheimdienste auf, die in der Region getestet würden, um später in anderen, größeren Kontexten ausgebaut zu werden. Naylor zeigt das Beispiel litauischer Zigarettenschmuggler, die zur Spionage angeworben beziehungsweise gezwungen werden – die Verknüpfung von Geheimdienst und kriminellen Gruppen sind bekanntermaßen ein Charakteristikum der putinistischen Herrschaft.
Eindrücklich wird der Propagandakrieg am Beispiel eines Denkmals der Roten Armee, das die Stadtverwaltung von Tallinn 2007 von der Innenstadt in einen Außenbezirk der estnischen Hauptstadt verlegte. Nach einer Pressekampagne in russischsprachigen Medien kam es zu gewalttätigen Protesten, die offensichtlich von russischen FSB-Mitarbeitern initiiert worden waren (S. 45). Weitere Maßnahmen des „hybriden Kriegs“ (S. 55) waren laut Naylor diverse Cyberattacken in den Jahren 2008 bis 2017 gegen Einrichtungen in allen drei Staaten. Hinzu kommen noch handfeste militärische Drohgebärden in Form von schon fast alltäglichen NATO-Luftraumverletzungen. Auch die Minderheiten- und Sprachpolitik vor allem in Estland und Lettland gegenüber der russischsprachigen Bevölkerung (in der lettischen Hauptstadt Riga sind sie statistisch in der Mehrheit) bot in den letzten Jahrzehnten immer wieder Angriffsfläche für russische Propaganda. Tatsächlich leben auch russische Oligarchen an der Ostseeküste, die gerne in lokale Firmen und Immobilien investieren; so kam Lettland zuletzt in die Kritik, es unternehme zu wenig gegen Geldwäsche (S. 100). Seit 2015 flüchten auch politische Migranten aus Russland in die baltischen Staaten, so Journalisten des kremlkritischen Nachrichtenportals Meduza – ein Trend, der sich 2022 verstärkt hat.
Abschließend beleuchtet die Autorin auch die Stärken, die sie in den drei Ländern sieht: Dazu gehöre eine gewisse Technikaffinität, als Beispiel nennt sie die Start-Up-Szene in Tallinn, aus der die Kommunikationsplattform Skype hervorging, die inzwischen von Microsoft übernommen worden ist. Außerdem verweist sie auf die außenpolitische Resilienz etwa im Bereich der Energiepolitik. Diesbezüglich waren die drei Staaten vorausschauender als etwa Deutschland, das die baltische Kritik an den russischen Pipelines in der Ostsee stets ignorierte. Hier erfolgte dagegen frühzeitig eine Diversifizierung: Bereits 2015 eröffnete im litauischen Klaipėda ein LNG-Terminal, das auch Lettland mitversorgt (S. 135).
Die Stärke von Naylors Arbeit liegt in den gut recherchierten Geschichten und individuellen Episoden: So berichtet die Autorin, wie nach der Wahl von Trump 2017 viele Menschen in der Region auf gepackten Koffern saßen, weil sie einen Einmarsch Russlands und ein Nichteingreifen der USA erwarteten. Was historische Themen betrifft, so kann man teilweise eine tendenziöse Argumentation erkennen. So weist Naylor direkt nach den Hinweisen auf die stalinistischen Verbrechen an den baltischen Nationen auf lokale Kollaboration mit den Nazis hin sowie auf das Phänomen des angeblichen „Weißwaschens“ der eigenen Vergangenheit und nennt das Beispiel eines litauischen Widerstandskämpfers, der angeblich in NS-Verbrechen verstrickt gewesen sei (S. 20). Sicherlich mag dies auf das genannte Beispiel zutreffen, allerdings mutet die Verknüpfung befremdlich an: Mindert die Kollaboration einiger Litauer die Tatsache, dass die gesamte Nation Opfer stalinistischer Gewalt gewesen ist? Zudem scheint die Autorin diesbezüglich auch schlecht informiert zu sein, so haben Historiker vor allem in Lettland dieses Thema in den vergangenen Jahrzehnten intensiv aufgearbeitet.1 Ganz im Gegensatz dazu erfolgte in Russland bis heute keine Aufarbeitung des Stalinismus als Unrechts- und Gewaltregime; Stalin gilt als nationaler Volksheld. Hierauf weist Naylor allerdings hin. Irritierend ist aber, dass sie dem sowjetischen Heldenmythos zum sowjetischen Sieg im Zweiten Weltkrieg folgt, dem Hauptanknüpfungspunkt der putinistischen Ideologie und Geschichtspolitik, ohne diesen kritisch zu hinterfragen (S. 62f.). Die vielen Demontagen von sowjetischen Denkmälern in der Ukraine, Polen und den baltischen Staaten zeigen, dass die Rote Armee dort als Aggressor und keinesfalls als „Befreier“ wahrgenommen wurde und wird. An anderer Stelle scheint Naylor mit dem Hinweis auf angebliche „Geheimdokumente“ (S. 71) auch das russische Narrativ zu unterstützen, dass der Westen nach 1990 Russland versprochen habe, die NATO nicht nach Osten zu erweitern. Das Hauptproblem scheint das Fehlen von historischer Hintergrundinformation zu sein, besonders in Bezug auf den sowjetrussischen Kolonialismus. So sind die russischsprachigen Minderheiten in Estland und Lettland ein Ergebnis sowjetischer Ansiedlungspolitik, die auf eine Ausdünnung der autochthonen Bevölkerung abzielte: Kultur, Sprache und Gesellschaft wurden russifiziert. Neben Gewalt war dies ein Mittel, die nicht-russischen Ethnie zu zerstören und auf ein folkloristisches Niveau zu reduzieren.2 Dies führte in den 1980er-Jahren dazu, dass Lettinnen und Letten in der Lettischen SSR zur Minderheit geworden waren. Die häufig als restriktiv kritisierte Sprach- und Minderheitenpolitik erscheint aus dieser Perspektive als legitimer Versuch der Dekolonisierung.
Grundsätzlich kann man Naylor nicht unterstellen, sie würde gezielt russische Narrative verbreiten; vielmehr sucht sie Estland, Lettland und Litauen in deren Kampf gegen den russischen Propagandakrieg darzustellen. Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine seit 2022 hätte dem Buch vermutlich ein ergänzendes Kapitel gut getan. Gleichwohl zeigt es die russischen Strategien der Propaganda und Unterwanderung wie auch die Abwehrmaßnahmen kleiner europäischer Staaten auf, die im europäischen und deutschen Diskurs gerne übersehen werden.
Anmerkungen:
1 Siehe hierzu die Schriften der Lettischen Historikerkommission auf der Website des Lettischen Staatspräsidenten: https://www.president.lv/lv/latvijas-vesturnieku-komisijas-raksti (16.09.2023).
2 Zu Formen des sowjetischen Kolonialismus siehe etwa: Botakoz Kassymbekova / Aminat Chokobaeva, Expropriation, Assimilation, Elimination. Understanding Soviet Settler Colonialism, in: south/south dialogues: Beyond the Colonial Vortex of the ‘West’: Subverting non-Western Imperialisms before and after 24 February 2022 (2023), https://www.southsouthmovement.org/dialogues/expropriation-assimilation-elimination-understanding-soviet-settler-colonialism/ (16.09.2023).