Erst seit Mitte der 1990er-Jahre gibt es eine ernst zu nehmende Forschung über NS-Täter. Vorher waren die Narrative von Gesellschaft und Forschung lange von dem Bemühen geprägt, „Zonen der Anständigkeit“ auszumachen und die NS-Verbrechen abnormen Exzesstätern zuzuschreiben.1 Der zu besprechende Sammelband bildet den Abschluss einer „Gestapo-Trilogie“, die der wissenschaftliche Leiter der Forschungsstelle Ludwigsburg Klaus-Michael Mallmann seit 1995 vorgelegt hat, die ersten zwei Bände mit Gerhard Paul als Mitherausgeber.2 In seinem nun mit Andrej Angrick herausgegebenen Sammelband untersuchen 15 durch einschlägige Fachveröffentlichungen ausgewiesene Autoren, wie sich nach der Zerschlagung der Institution Gestapo deren Mitarbeiter in der Nachkriegsgesellschaft positionierten und verhielten. Immerhin gehörten laut letztem vorliegenden „Iststärkenachweis“ des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) vom Februar 1944 über 30.000 Personen zur Gestapo, mehr als 12.000 zur Reichskriminalpolizei und 6.400 zum Sicherheitsdienst Reichsführer SS (SD). Von diesen haben nach Schätzungen der Herausgeber mindestens 25.000 Täter das Kriegsende überlebt. Dass der Begriff „Gestapo“ in dem vorliegenden Werk weiter gefasst wird als in den genannten vorangegangenen zwei Bänden, begründen Mallmann und Angrick mit der „wachsenden Durchmischung der verschiedenen ‚Waffengattungen’ des Himmlerschen Imperiums im Zweiten Weltkrieg“ (S. 39). So wurden SD-Angehörige, aber auch Angehörige der Kripo Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD oder Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD (KdS) oder traten sogar an die Spitze der Einsatzkommandos.
Gegliedert ist der Band in drei große thematische Blöcke: I. Karrieren, II. Konflikte und III. Konstruktionen. Zunächst stehen Karrieren in der Nachkriegszeit im Mittelpunkt. Die 1950er-Jahre waren die große Zeit der zweiten Chance für ehemalige Gestapo-Angehörige. Wer ein angepasstes Leben führte, die demokratische Republik jedenfalls öffentlich bejahte und auf rechtsextreme Betätigung verzichtete, fand in der Regel sein Auskommen und hatte kaum etwas zu befürchten. So beschäftigte das Auswärtige Amt 1950 immerhin 17 frühere SD- und Gestapo-Mitarbeiter. Zur Erörterung der Nachkriegskarrieren begibt sich Gerald Steinacher mit neuen Quellenfunden auf die Spur der „Rattenlinie“, jener über die Alpen und Italien führenden legendären Fluchtroute von NS-Verbrechern nach Südamerika. Martin Cüppers geht am Beispiel von Walther Rauff der Frage nach, wie ein Massenmörder trotz internationaler Auslieferungsersuchen an das Gastland dort gleichwohl einen ruhigen Lebensabend verbringen konnte. Stephen Tyas schildert, wie der britische Geheimdienst einem hohen Funktionär des RSHA den Kopf rettete, weil er dessen Kenntnisse über die Sowjetunion abschöpfen wollte. Stephan Linck zeichnet nach, wie sich die Absolventen der Kommissarlehrgänge an der Führerschule der Sicherheitspolizei nach 1945 in Spitzenpositionen der westdeutschen Kriminalpolizei und im Bundeskriminalamt etablierten. Bernhard Brunner analysiert am Beispiel der KdS in Frankreich, warum deren Mitwirkung an den Deportationen nur zu einer einzigen Verurteilung führte und ansonsten das berufliche Fortkommen keineswegs behinderte. Jacek Andrzej Mlynarczyk untersucht, wie sich ein NS-Verbrecher im Wirtschaftswunder einrichtete und die westdeutsche Justiz mehr als ein Jahrzehnt brauchte, um ihn einer Strafe zuzuführen. David M. Mintert schließlich stellt einen absoluten Ausnahmefall vor: einen Täter, der Schuld und Reue empfindet.
Im zweiten Beitragsblock geht es um die konfliktbeladene gesellschaftliche und juristische Aufarbeitung der Verbrechen von Gestapo-Angehörigen. Wie schwierig diese war, zeigt der Umstand, dass wegen deren Verbrechen in Polen und der Sowjetunion bis Ende 1964 gegen 16.028 Personen Ermittlungsverfahren eingeleitet, allerdings nur 92 von ihnen verurteilt wurden, darunter 15 zu lebenslanger Haft. Zur Erörterung dieses Komplexes wendet sich Jan Kiepe zunächst dem gesellschaftlichen und rechtspolitischen Ermittlungsumfeld zu. Jürgen Matthäus nimmt zum ersten Mal das Wirken der kriminalpolizeilichen Sonderkommissionen zur Aufklärung von NS-Gewaltverbrechen genauer unter die Lupe. Annette Weinke beleuchtet, wie und warum die größte geplante Prozessserie – die gegen die RSHA-Angehörigen – komplett scheiterte. Peter Klein problematisiert die Praxis der Gehilfenjudikatur am Beispiel des Massenmörders Dr. Otto Bradfisch. Jochen Böhler seziert die nahezu erfolglosen Ermittlungen zur „Aktion Erntefest“ mit ihren über 42.000 Toten. Klaus-Michael Mallmann rekonstruiert die akribische Arbeit eines Voruntersuchungsrichters, um einen Täter hinter Gitter zu bringen, während Andrej Angrick mit der DDR ins Gericht geht, deren Ministerium für Staatssicherheit (MfS) auch einstige Gestapo-Angehörige als Spitzel anwarb.
Abschließend beleuchtet der dritte thematische Block Bilder- und Gedankenwelten über die Geheime Staatspolizei nach 1945. Akim Jah beschäftigt sich mit Aussagestrategien angeschuldigter Gestapo-Beamter. Andrej Angrick geht anschließend den vielen Facetten auf dem Feld der Cineastik nach, die die Gestapo international hinterlassen hat. Klaus-Michael Mallmann fokussiert den Täterdiskurs in Wissenschaft und Gesellschaft bis heute. Die Essenz des aktuellen Forschungsstandes beschreibt er so: „Hinter dem ‚Führerwillen’ wird die Eigeninitiative der Akteure sichtbar, Hierarchie wird durch Autonomie ergänzt, Befehl vielfach ersetzt durch Freiwilligkeit. (...) Statt strikter Geheimhaltung wird breite Öffentlichkeit erkennbar. Statt Zwang und blindem Gehorsam kommen Einfallsvermögen und Hingabe zum Vorschein. (...) Die Vorstellung, dass normale Deutsche den Krieg keinesfalls nur erlitten, sondern sogar Lust am Töten empfanden, ist kein Tabu mehr. Es bleibt die Frage, wie die Gesellschaft künftig mit diesen Erkenntnissen umgeht.“ (S. 308)
Ob die Herausgeber ihren Lesern einen Gefallen getan haben, die Beiträge nach den angeblich „bewährten Regeln der alten Rechtschreibung“ (S. 39) in Druck bringen zu lassen, sei dahingestellt. Erschwert wird die Lesbarkeit des Bandes durch seine extreme Häufung, ja Reihung von Namen und einen überladenen Anmerkungsapparat. So folgen allein dem 33seitigen Einleitungsbeitrag der Herausgeber 216 Endnoten, und der Leser stößt auf einer einzigen Textseite auf mehr als zwanzig Namen (S. 11). Dabei werden die im Einführungsbeitrag namentlich erwähnten Gestapo-Angehörigen dann in den Einzelbeiträgen meistens eben nicht näher beleuchtet. Über den Täter Dr. Walter Zirpins schreiben Mallmann und Angrick einführend, dass er in den 1950er-Jahren „zum Leiter des LKA [=Landeskriminalamts, W.B.] Niedersachsen [avancierte], obwohl die Regierung bereits bei seiner Einstellung über dessen Aktivitäten als Chef der Kripo Litzmannstadt informiert gewesen war.“ (S. 18). Und in dem Beitrag von Stephan Linck wird mitgeteilt, dass die menschenverachtende Begründung des gleichen Walter Zirpins für hohe Kriminalität nach Kriegsende – diese sei verursacht durch die „Freilassung der (...) Asozialen und kriminellen Landfahrer“ – noch 1986 in einem Polizeilehrbuch zu finden gewesen sei (S. 118). Doch nirgendwo wird auf die geschichtspolitische Bedeutung Zirpins’ hingewiesen: seine Funktion als Fritz Tobias’ Kronzeuge für dessen These vom angeblichen Alleintäter Marinus van der Lubbe beim Reichstagsbrand 1933. Und auch die Rolle anderer Gestapo-Angehöriger wie Rudolf Diels und Heinrich Schnitzler bei der publizistischen Durchsetzung der Alleintäterthese bleibt in den Beiträgen außen vor.3 Trotz der skizzierten Mängel und Versäumnisse haben Mallmann und Angrick einen überaus aufschlussreichen Band zu einem zentralen Feld der NS-Täterforschung vorgelegt.
Anmerkungen:
1 So Frank Bajohr zur NS-Täterforschung in: Tagungsbericht Täterforschung und die Auseinandersetzung mit der Generation der Täter. 11. Werkstatt Geschichtsarbeit und historisch-politisches Lernen zum Nationalsozialismus, vom 20.11.2008-22.11.2008, Hattingen, in: H-Soz-u-Kult, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=2507>, (03.02.2009).
2 Gerhard Paul / Klaus-Michael Mallmann (Hrsg.), Die Gestapo – Mythos und Realität. Mit einem Vorwort von Peter Steinbach, Darmstadt 1995; dies. (Hrsg.): Die Gestapo im Zweiten Weltkrieg. „Heimatfront“ und besetztes Europa, Darmstadt 2000.
3 Alexander Bahar, Die Nazis und der Reichstagsbrand, in: Dieter Deiseroth (Hrsg.), Der Reichstagsbrand und der Prozess vor dem Reichsgericht, Berlin 2006, S. 145-195, hier S. 161-164.