In der idealtypischen Beschreibung politischer Transformationsprozesse werden in der Regel Ausgangspunkt und Endzustand hervorgehoben. Das Prozessuale, Entwicklungsstufen, Beharrungskräfte und Auflösungserscheinungen finden hingegen weniger Beachtung, obgleich entsprechende Wandlungsprozesse einen großen Zeitraum überdauern und das Ergebnis des Transformationsprozesses nachhaltig beeinflussen können. Welche sozio-politischen Realitäten verbergen sich hinter Begriffen wie Übergang, Durchbruch oder Transformation? Diese Überlegungen sind der Ausgangspunkt des zu besprechenden Sammelbandes zur Entstehung des modernen Staates im 19. Jahrhundert. Einen großen Teil der Beiträge, und dies erklärt den geographischen Fokus des eigentlich europäisch argumentierenden Sammelbandes auf die Habsburgermonarchie, stellen die Ergebnisse einer internationalen Forschergruppe dar, die unter dem Titel „Der Schreibtisch des Kaisers. Ein Ort der Politik und Entscheidung in der Habsburgermonarchie? Franz Joseph I. und dessen Kabinettskanzlei“, moderne Staatlichkeit diskutierte.
Methodisch formulieren die Herausgeber:innen zwei Schwerpunkte. Zum einen wird gefragt, wie sich der Wandel der Monarchie vom Herrscher zum Repräsentanten in der Regierungspraxis des 19. Jahrhunderts ausdrückte. Welche Rolle besaßen vor dem Hintergrund einer andauernden Spezialisierung und Erweiterung des bürokratischen Apparates die unzähligen Schreiben, die auch am Ende des 19. Jahrhunderts noch einem Souverän vorgelegt wurden? Für die Regierungszeit von Franz Joseph geht man im Zeitraum von 1848 bis 1916 von rund 300.000 Vorgängen aus, die auf dem Schreibtisch des Kaisers landeten (S. 8). Darüber hinaus wird als zweites gefragt, was Staatlichkeit im Übergang vom dynastischen zum National- oder Anstaltsstaat für verschiedene Teilbereiche bedeutete. Fachministerien, Experten- und Interessensgruppen sowie die politische Öffentlichkeit erweiterten den Kreis der Akteure, die Staatlichkeit „aushandelten“. In diesem Punkt, so Peter Becker und Jana Osterkamp, die beiden Autor:innen der Einleitung, biete das Konzept der Politikfeldanalyse ein geeignetes Mittel, um neben der zunehmenden Institutionalisierung politischer Entscheidungsprozesse auch andere beteiligte Akteursgruppen, ihre Vernetzung, Organisation und Interaktion sichtbar zu machen. Becker und Osterkamp identifizieren ein dreifaches Erkenntnisinteresse: zum einen eine Auseinandersetzung mit der Koexistenz unterschiedlicher Entscheidungsmodalitäten im Kontext des Transformationsprozesses, zum zweiten einen alternativen Blick auf die Geschichte von Verwaltung und staatlicher Bürokratie sowie drittens die Diskussion von Praxisformen in Hinblick auf beteiligte Akteure, Netzwerke oder „Stakeholders“ (S. 19).
Der Band ist in eine Einleitung und sieben Kapitel eingeteilt. Die Gliederung folgt allerdings weniger einer Systematik, als dass sie Leitthemen wie etwa Infrastruktur- oder Eisenbahnpolitik, Gesundheits- oder Bildungspolitik abbildet. Sortiert man die Beiträge danach, in welcher Form sie die konzeptionellen Leitideen aufgreifen, so ergeben sich fünf Kategorien. Da sind zunächst Beiträge, die nicht in dem angeführten Forschungsprojekt entstanden sind, sondern thematisch einschlägig bereits zuvor zu dem Themenkomplex beigetragen haben. Tom Crook beschreibt am Beispiel der englischen Armengesetzgebung, der Gesundheits- und der Bildungspolitik, dass sich im Viktorianischen England eine Vorstellung von Staatlichkeit entwickelte, die den Staat als eigenen Akteur wahrnahm, eine Transformation, aus der nicht nur ein staatlicher Regelungsanspruch erwuchs, sondern gleichermaßen private bzw. nicht-staatliche Organisationen unter Legitimationsdruck stellte. Michael Palmer gibt eine Übersicht über die ungarische Finanzpolitik seit dem Ausgleich 1867 und betont, dass der ungarische Teil der Habsburgischen Doppelmonarchie eine aktive Wirtschaftspolitik vor allem in der Verkehrspolitik betrieb, dass allerdings deutliche Grenzen in Hinblick auf die Modernisierung direkter und indirekter Besteuerung, d.h. in der Fiskalpolitik bestanden. Sandrine Kott fasst die Ergebnisse ihrer großen Studien zur Entstehung des deutschen Sozialstaats im Spannungsfeld von Nationalisierung und, wie Kott es formuliert, einer Art „Labor der sozialen Aushandlung und Demokratisierung“ (S. 234) zusammen.
Eine zweite Gruppe von Beiträgen befasst sich mit der Rolle und Funktion des Souveräns und dem Geflecht personaler Netzwerke. Andreas Enderlin-Mahr untersucht die Rolle der k. u. k. Kabinettskanzlei und arbeitet vor allem anhand des Kabinettskanzleidirektors heraus, wie wichtig Klientelnetzwerke in der politischen Entscheidungsfindung weiterhin blieben. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Anatol Schmied-Kowarzik, der die Auseinandersetzung zwischen dem Präsidenten des Reichsrates Karl Friedrich Freiherr Kübeck von Kübau und dem österreichischen Finanzminister Philipp Freiherr von Krauß über die geeigneten fiskalpolitischen Strategien zur Reduktion des Staatsdefizits herausarbeitet und dabei zweierlei zeigen kann. Zum einen demonstriert er, wie intensiv finanz- und fiskalpolitische Modelle in der Habsburgermonarchie der 1850er-Jahre diskutiert wurden und welches Spektrum an staatlichen Regelungsmechanismen zeitgenössisch denkbar waren. Als zweites zeigt Schmied-Kowarzik, dass der mit unmittelbarem Zugang zum Kaiser versehene Präsident des Reichsrats den Vorteil besaß, dass der Monarch strategisch zu seinen Gunsten intervenierte.
In die dritte Kategorie fallen Beiträge, die sich mit dem Prozess der Verrechtlichung befassen. Marion Dotter sieht für die Habsburgermonarchie im Laufe des 19. Jahrhunderts Tendenzen zu einer Nobilitierungspraxis, in der Erhebungen in den Adelsstand keine intransparenten Willkürakte mehr darstellten, sondern in ordentliche Verfahren eingebunden wurden. Anja Bittner hingegen betont in ihrem Beitrag zur Personalpolitik am preußischen Hof die Grenzen der Verrechtlichung in der höfischen Personalpolitik.
Der größte Teil der Beiträge beschäftigt sich, viertens, mit der Entstehung von Politikfeldern in der Sachpolitik. Felix Gräfenberg zeigt am Beispiel des preußischen Chausseewesens im Vormärz, wie aus einer persönlichen Initiative des Finanzministers Hans Graf von Bülow die staatliche Aufgabe der Bereitstellung und des Erhalts eines Infrastrukturnetzes erwuchs, ein Wandel, wie Gräfenberg überzeugend argumentiert, von einer politisch-strategischen Entscheidung, in die der Monarch eingebunden war, hin zu einer staatlich-bürokratischen Aufgabe, die keiner unmittelbaren Intervention bedurfte. In den Beiträgen von Nadja Weck und Clemens Ableidinger wird deutlich, wie groß und heterogen die Gruppe der an einem Politikfeld beteiligten Akteure ausfallen konnte. Weck zeigt anhand der Eisenbahnpolitik im cisleithanischen Teil der Habsburgermonarchie, wie nach einer Phase des privatwirtschaftlichen Ausbaus des Eisenbahnwesens und dem Bankrott privater Bahngesellschaften aus einem staatlichen Rettungsschirm das Monopol einer Staatsbahn entstand. Clemens Ableidinger untersucht in seiner Abhandlung zur Psychiatrie in der Habsburgermonarchie, wie sich Ärzte und Psychiater mit der oftmals bestens politisch vernetzten Anti-Psychiatriebewegung auseinandersetzen mussten. Hinzu kamen die unterschiedlichen Interessen von Landes- und Zentralregierung. Vergleichbare Verhandlungsmechanismen beschreibt Milan Hlavačka in seinem Beitrag zu der Frage der Gehälter von Ärzten im böhmischen Gesundheitswesen, genauer der Bezirksärzte in den Bezirkskrankenhäusern. Ruslan Mitrofanov schließlich argumentiert, dass das Attentat auf den russischen Zaren Alexander II. im Jahr 1884 zu einer Politisierung des Prozesses der Einweisungen und Entmündigungen führte. Allerdings stießen zentralstaatliche Versuche, die politische Opposition über eine Einweisung kaltzustellen, vielfach auf der Ebene der lokalen psychiatrischen Einrichtungen auf Widerstand.
Nur schwer einzuordnen ist, fünftens, der den Band abschließende Beitrag des Politikwissenschaftlers Jan P. Vogler, der anhand statistischer Methoden nachzuweisen versucht, dass sich innerhalb der polnischen Verwaltung des 21. Jahrhunderts Unterschiede entlang der historischen Teilungsgrenzen ausmachen lassen. Intellektuell durchaus anregend, methodisch irgendwo zwischen originell und Widerspruch erregend, argumentiert Vogler, dass die verschiedenen Grade an Effizienz und Attraktivität der modernen Bürokratie aus der vormals russischen, österreichischen oder preußischen Verwaltungstradition zu erklären sind.
Unabhängig von der Frage, ob es sinnvoll ist, sich auf eine Interpretation einzulassen, bietet der Band einen geeigneten und durchaus originellen Ansatzpunkt, um die Entstehung des modernen Staates als kontingenten und ergebnisoffenen Prozess zu diskutieren. Man muss dabei nicht allen Ergebnissen zustimmen. Doch zeigt sich anschaulich, wie langwierig Wandlungsprozesse verliefen und wie sie selbst Auswirkungen auf die Ausformung von Staatlichkeit besaßen.