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Title
Endlich wieder Mensch sein. Feldpostbriefe und Gefangenenpost des Deserteurs Hans Stock 1943/44


Editor(s)
Ebert, Jens; Jander, Thomas
Series
Schreiben im Krieg – Schreiben vom Krieg 3
Published
Berlin 2009: Trafo Verlag
Extent
260 Seiten
Price
EUR 39,80
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Kim Wünschmann, Birkbeck College, University of London

Militärgeschichtliche Forschung zu Desertion und Verweigerung hat seit ihren Anfängen in den 1980er-Jahren eine gesellschaftspolitische Brisanz. Bereits die bahnbrechende Studie zur Wehrmachtjustiz von Manfred Messerschmidt und Fritz Wüllner stieß eine nachhaltige Kontroverse um den Unrechtscharakter der NS-Militärjustiz an und brach mit einem das Thema lange Jahrzehnte umgebenden Tabu.1 Die als „Vaterlandsverräter“ und „Feiglinge“ diffamierten Deserteure der Wehrmacht begannen in jenen friedensbewegten Zeiten auf ihre Rehabilitierung zu pochen. Es dauerte allerdings bis zum Jahr 2002 bis der Deutsche Bundestag ein entsprechendes Gesetz verabschiedete. Die Entschädigung der so genannten ‚Kriegsverräter‘ steht dabei bis heute aus, und die Wissenschaft begleitet die politische Entwicklung weiterhin kritisch.2 Nachdem die Forschung aufgrund ihrer geschichtspolitischen Selbstverpflichtung zuerst systemorientiert war und schwerpunktmäßig den Militärjustizapparat in den Blick nahm, weitet sich in letzter Zeit das Feld. Nicht nur wird vermehrt komparatistisch gearbeitet, vor allem tritt die individuelle Perspektive der Deserteure stärker in den Mittelpunkt der Untersuchungen.3 Stellvertretend für diesen Trend sei auf die herausragende Studie von Magnus Koch hingewiesen, die neben dem traditionellen Quellenkorpus, bestehend aus den Ermittlungs- und Strafakten der Wehrmachtjustiz, erstmals auch ganz stark mit Selbstzeugnissen der Betroffenen arbeitet.4 Eine Ergründung der Motive und des Selbstverständnisses von Deserteuren, das Ausloten von individuellen Handlungsspielräumen und Entscheidungsprozessen gestaltet sich, nicht zuletzt wegen des Mangels an zeitgenössischen Selbstzeugnissen, oft schwierig. In dieser Hinsicht äußerst relevant und hilfreich erweist sich nun die von Jens Ebert und Thomas Jander herausgegebene Dokumentation der Feldpostbriefe und Gefangenenpost des Deserteurs Heinz Stock aus den Jahren 1943/44. Ganz bewusst will sie einen Beitrag leisten zur Motivforschung von Wehrmachtdeserteuren.

Die Herausgeber der aus etwa 400 Briefen bestehenden Korrespondenz schöpften diese eindrucksvolle Quelle aus den Beständen des Feldpost-Archivs, angesiedelt beim Museum für Kommunikation Berlin. Seit 2001 entsteht hier eine umfangreiche Sammlung von Lebensdokumenten aus dem Zweiten Weltkrieg, die das vorliegende Buch nun ins Licht der Öffentlichkeit rückt.5 In seiner gelungenen Einleitung, die den Briefwechsel Hans Stocks mit Eltern, Verwandten und Freunden biographisch kontextualisiert und in die Forschungsdiskussion einbettet, weist Thomas Jander sachkundig auf den zentralen Wert der Quelle Feldpostbrief zum Verständnis von Ansichten und Mentalitäten der „einfachen Soldaten“ hin (S. 9ff.). Feldpostbriefe waren der „‚Kitt’ der Kriegsgesellschaft“ 6, sie fungierten als (Über)lebenszeichen, aber auch als Rückzugsräume in die Individualität in Situationen existentieller Bedrängnis. Sie als historische Quelle ernst zu nehmen, empfehlen Ebert und Jander. Tatsächlich ist das Material durch die sehr dichte Überlieferung und besondere Qualität geeignet, aufschlussreiche Innenansichten in die Beweggründe eines jungen Mannes zu liefern, der sich dem nationalsozialistischen Krieg entzogen hat. Dass das vorliegende Material, wie Jander selbst defensiv einräumt, „kein repräsentatives Beispiel für einen ‚normalen’ Feldpost-Briefwechsel“ oder die Kriegserfahrung „der meisten deutschen Soldaten“ z.B. an der Ostfront sei (S. 11,16f.), ist dabei keineswegs ein Mangel der Publikation. Vielmehr unterstützt diese Feststellung die bereits aus der Studie von Magnus Koch hervortretende Erkenntnis, dass es „den“ typischen Deserteur eben nicht gegeben hat und sich in Sachen Motivforschung eine auf den Einzelfall gestützte Methode als einzig fruchtbar erweist.

Hans Stock (1922-1971), aufgewachsen in einer Berliner Künstlerfamilie, die dem Nationalsozialismus ablehnend gegenüberstand, wurde im April 1941 zur Wehrmacht eingezogen. Gute persönliche Beziehungen seiner Eltern zu einem Luftwaffenoffizier ermöglichten ihm, nach der Grundausbildung zunächst in seiner Heimatstadt zu bleiben. Stock arbeitete als Kameraassistent für die Hauptfilmstelle des Reichluftfahrministeriums in Lankwitz. Im Frühjahr 1943 wurde er zum Heer, genauer zur 44. Infanteriedivision, kommandiert. Dieser ursprünglich österreichische Verband war durch die Niederlage in Stalingrad zerschlagen worden und sollte nun an der Westfront neu aufgestellt werden. Mit Stocks Versetzung nach Belgien setzt der intensive Briefwechsel ein, den er vor allem mit seiner Mutter bis zur Heimkehr aus US-amerikanischer Gefangenschaft am 26. März 1946 führen sollte. Die Stationen seines Kriegseinsatzes waren nach Belgien zunächst Norditalien, wo er nach der Kapitulation der Achsenmacht im Spätsommer 1943 an der Entwaffnung der italienischen Armee beteiligt war. Im Anschluss wurde Stocks Einheit in den Bergen Sloweniens und Kroatiens zur Partisanenbekämpfung eingesetzt. Zum Jahreswechsel 1943/44 schließlich wurde die 44. Infanteriedivision in die Gegend von Monte Cassino verlegt. Stock fand sich inmitten eines verheerenden Kampfschauplatzes wieder: die Schlacht um Monte Cassino dauerte vier Monate und war mit über 30 000 Gefallenen eine der verlustreichsten des Zweiten Weltkriegs. Buchstäblich auf dem Schlachtfeld gelang es dem jungen Soldaten, sich von seiner Truppe abzusetzen, und nachdem er sich über Nacht in einem verlassenen Hirtenhaus versteckt gehalten hatte, ließ Stock sich am Morgen des 1. Februar 1944 von amerikanischen Verbänden gefangen nehmen.

Die Korrespondenz liefert eine ganze Reihe von interessanten Einblicken in die soldatische Erlebnis- und Erfahrungswelt. Vor allem die Beschreibungen von Stocks Einsatz als Besatzungssoldat im Westen lassen schließen, dass die Stationierung dort nicht zuletzt auch eine touristische Dimension hatte. Ausflüge in umliegende Orte, Besichtigungen kultureller Stätten, kulinarische Exkursionen und vor allem die, wie es die Herausgeber treffend benennen, langen „shopping-Berichte“ (S. 23) bestimmen den Schriftwechsel mit der Heimat. Auch Stock schickte Textilien, Lebensmittel und Luxuswaren ins Reich. Die Themen des Schriftverkehrs verändern sich merklich mit Stocks Verlegung ins unmittelbare Kriegsgebiet. Angesichts mangelnder Versorgung, notdürftiger Unterbringung und riskanten Kampferfahrungen häufen sich nun Beschwerden und freimütige Unmutsäußerungen. Die von der Wehrmacht auf dem Balkan im Zuge der Partisanenbekämpfung begangenen Verbrechen wie Plünderungen und Erschießungen werden vor allem in seinem Brief an den Vater vom 4. November 1943 offen geschildert (S. 181ff.). Auch der Männergemeinschaft Wehrmacht begegnet Stock mit Abscheu: Bordellbesuche und Alkoholexzesse der Kameraden erregen seinen Widerwillen genauso wie die Willkür der Vorgesetzten. Seine Ablehnung des Krieges und die unverhohlene Kritik an Staat und Armee werden immer deutlicher, auch nachdem er vom Tod seines geliebten Freundes beim Einsatz in Afrika erfahren hat. Stetig „hofft“ Stock auf die Bombe, die das elterliche Haus in Berlin treffen und ihm Heimaturlaub verschaffen sollte. Die Absicht zu desertieren wuchs und er teilte sie zuletzt in einem Brief vom 2. Januar 1944 mit: „Ich will auf jeden Fall weg von hier. Ob das nun Bombe, Krankheitsfall [...] oder sonst was ist, ist mir ganz gleich, aber ich will weg.“ (S. 221)

Der Entschluss der Herausgeber, die Originalform der Dokumente zu bewahren und sich mit redaktionellen Eingriffen zurückzuhalten, unterstützt die Authentizität der Sammlung und hat dank der grammatikalischen und orthographischen Sicherheit der Schreiber keinen negativen Einfluss auf die Lesbarkeit der Briefe. Dass die Briefe aus der Heimat ebenfalls in die Dokumentation eingeflossen sind, ist zu begrüßen. Wichtige Rückschlüsse darauf, wie die Zivilbevölkerung den Bombenkrieg erlebt hat, lassen sich so ziehen. Einzige Schwäche der Edition bleibt es, in der Kontextualisierung des Quellenmaterials nicht weit genug gegangen zu sein. Einige der in den Briefen immer wieder auftauchenden Personen aus Stocks Umfeld hätten im Vorfeld eingeführt werden können, um Verwirrungen zu vermeiden. Auch ist bei Briefen aus der Heimat manchmal nicht eindeutig, wer der Schreibende ist – eine Unklarheit, die durch eine entsprechende Fußnote hätte beseitigt werden können. Vor allem ist es aber das reproduzierte Bildmaterial, das dringend beschriftet und kontextualisiert werden sollte. Die sehr komplexen Abbildungen als bloße Illustration dem Text unkommentiert beizustellen, funktioniert nicht.

Dennoch, diese marginale formelle Kritik mindert nicht den positiven Gesamteindruck der Dokumentation. Es ist ein wichtiges Buch, weil es eindrucksvoll und „von innen“ über Emotionen und Gedanken eines jungen Soldaten im Kriegseinsatz aufklärt. Die pazifistische Botschaft von Stocks Briefen ist nachdrücklich, und sie sollte über den Forschungsraum hinaus rezipiert werden.

Anmerkungen:
1 Manfred Messerschmidt / Fritz Wüllner, Die Wehrmachtjustiz im Dienste des Nationalsozialismus. Zerstörung einer Legende, Baden-Baden 1987.
2 Vgl. Wolfram Wette / Detlef Vogel (Hrsg.), Das letzte Tabu. NS-Militärjustiz und ‚Kriegsverrat’, Berlin 2007. Hannes Metzler, Ehrlos für immer? Die Rehabilitierung der Deserteure der Wehrmacht. Ein Vergleich von Deutschland und Österreich unter Berücksichtigung von Luxemburg, Wien 2007.
3 Für einen Einblick in neueste Forschungen vgl. Maria Fritsche / Christa Hämmerle (Hrsg.), Deserteure. Themenheft der Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit, 2 (2008).
4 Magnus Koch, Fahnenfluchten. Deserteure der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg. Lebenswege und Entscheidungen, Paderborn 2008, dazu: Thomas Kühne: Rezension, in: H-Soz-u-Kult, 01.04.2009 <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2009-2-002> (14.07.2009)
5 <http://www.feldpostsammlung.de> (14.07.2009).
6 Aribert Reimann, Wenn Soldaten vom Töten schreiben. Zur soldatischen Semantik in Deutschland und England, 1914-1918, in: Thomas Kühne / Peter Gleichmann (Hrsg.), Massenhaftes Töten. Kriege und Genozide im 20. Jahrhundert, Essen 2004, S. 307-319, hier S. 311.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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