Musik erscheint als Teil der Kultur einer Gesellschaft auf den ersten Blick mit positiven Eigenschaften belegt zu sein. Dass sie durchaus als Macht- und Folterwerkzeug dienen kann und in diesem Sinne missbraucht wurde, haben die Forschungen am Beispiel der nationalsozialistischen Konzentrationslager offen gelegt. In der deutschen Konzentrationslager-Forschung wurde zur Darstellung von Opfer- und Täterrollen sowie dem Lageralltag die Rolle der Künste und der Musik im Speziellen verstärkt erst ab den 1980er-Jahren in den Blickpunkt genommen, als englische und deutsche Liedanthologien aus den Konzentrationslagern erschienen.1 Lenkten verschiedene Disziplinen wie Musikwissenschaft, Soziologie oder Volkskunde bereits ihre Interesse auf Musikformen in den Konzentrationslagern, so pflegt die Geschichtswissenschaft bis heute anscheinend eine gewisse Reserviertheit dem Thema gegenüber und ließ die Möglichkeiten, Musik als historische Quelle auszuwerten, weitgehend unberücksichtigt.2
Juliane Brauers Studie entstand 2007 als Dissertation am Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften der Freien Universität Berlin. Sie hebt sich in der Schriftenreihe der Stiftung Brandenburgischer Gedenkstätten heraus, indem hier erstmalig ein kultureller Aspekt zum KZ Sachsenhausen verhandelt wird. Darüber hinaus stellte sie eine der wenigen Arbeiten dar, die in einem größeren Umfang monothematisch den musikalischen Aspekt in einem einzelnen Konzentrationslager behandeln.3 Als Ziel ihrer Arbeit definiert Brauer die Darstellung dessen, „wie sich Macht und Ohnmacht historisch anhörten“ (S. 12), wobei zunächst generell nach dem musikalischen Klang von (Ohn-)Macht zu fragen wäre. Genauso wie der Untersuchungsgegenstand wirkt bereits das Titelbild verstörend, greift es doch die Spannung zwischen Kunst und Gewalt und das Undenkbare ihrer Vereinbarkeit auf. Das Aquarell des tschechischen Malers und Überlebenden Vladimir Matejka entstand vor 1945 und zeigt einen tschechischen Chor in Sträflingskleidung und mit kahlgeschorenen Köpfen beim Gesang im Konzentrationslager Sachsenhausen. Am Beispiel dieses Konzentrationslagers sollen die physischen (Lebensbedingungen) und die psychischen Dimensionen (symbolische Handlungsweisen und subjektive Vorstellung) der Lebenswelten im KZ herausgearbeitet werden. Im Mittelpunkt steht die Frage nach den Dimensionen von Musik, die sowohl als Element des strategischen Überlebenswillen der Opfer als auch der Gewalt der Täter verstanden wird. Als Grundlage der Untersuchung dienen Lieder, die im KZ entstanden oder gesungen wurden. Brauer konnte auf einen beachtlichen Bestand musikalischer Sammlungen von über 20 Liederbüchern und 122 weiteren dokumentierten Liedern zurückgreifen. Hinzu kommen Selbstzeugnisse von Überlebenden und Zeitzeugen in Erinnerungsberichten, teilweise von der Autorin geführten Interviews oder Tagebüchern.
Unter kulturhistorischen Fragestellungen soll Musik als „kultureller Code für die Analyse der psychischen Struktur“ (S. 36) der Häftlingsgruppen dienen. Dazu richtet Juliane Brauer den Blick auf die größeren Häftlingsgruppen wie deutsche Kommunisten, tschechische Studenten, Polen, Norweger, Juden sowie die Zeugen Jehovas, aber auch auf Einzelschicksale im Stammlager Sachsenhausen und in den Außenlagern. Die Untersuchungsbereiche gliedern sich in vier Sektoren. Zu Beginn wird die Seite der Machthaber, der SS, und ihre Funktionalisierung bzw. Pervertierung der Musik als „Herrschaftstechnik und Ritual“ durch befohlenes Musizieren und Singen zu Gewaltakten und Hinrichtungen dargestellt. Das befohlene Singen entwickelte sich zum Ort der Schikane und kollektiven Erniedrigung bis hin zur Selbstdemütigung mit Todesfolge.
Daran anschließend wird „Musik als Alltagsstrategie“ in Form freiwilliger musikalischer Aktivitäten in Chören, Instrumentalensembles und Musikabenden innerhalb der einzelnen Häftlingsgruppen analysiert. Beachtlich ist hier, dass die norwegischen Häftlinge aufgrund ihrer vermeintlichen Zugehörigkeit zur „arischen“ Rassen einen äußerst privilegierten Status unter den Häftlingen besaßen. So unterschied sich ihr Liedkanon dadurch, dass sogar gedruckte Liederbücher existierten, in denen sich nur traditionelle, nationalpatriotische Gesänge befanden und keine im Lager entstandenen Kompositionen, die wie bei den anderen Häftlingsgruppen die Sehnsucht nach der Heimat oder die Gegenwart des Todes thematisierten.
Der dritte große Teil „Ambivalenzen: Musik und Gewalt“ stellt die jüdischen Häftlinge und die Zeugen Jehovas in den Mittelpunkt. Gegen sie richteten sich spezielle Gewaltrituale durch Musik, indem die deutschen Juden gezwungen wurden, während körperlicher Bestrafung deutsche Volkslieder zu singen, womit ihnen ein Teil ihrer kulturellen Identität genommen wurde. Im letzten Großkapitel werden „nationale und internationale Dimensionen“ der Musik in Sachsenhausen in den Blick genommen. Gruppenübergreifende musikalische und kulturelle Aktivitäten, die häufig zu Weihnachten stattfanden, betonten den internationalen Charakter, wodurch z.B. das deutsche „Moorsoldatenlied“ Eingang in die Liederbücher anderer Nationen fand.
In ihrem Fazit verweist Juliane Brauer auf drei Wirkungsebenen von Musik im Konzentrationslager: die individuelle physische Macht, in der musikalische Gewalt durch die Machthaber darauf abzielt, dem Einzelnen oder der Gruppe physische oder psychische Gewalt anzutun (Singen zur Brechung der Persönlichkeit, Singen bis zur Erschöpfung). Die Häftlinge nutzten in dieser Situation jedoch auch die positive Macht der Musik zur Motivation und als Bewältigungsstrategie für erlittene körperliche und seelische Verwundungen. Die zweite Wirkung – die sich meiner Meinung nach nur unscharf gegen die erste abgrenzt – zielt durch Musizieren und Komponieren auf die persönliche und kollektive Überlebensstrategie mit identitäts- und kulturerhaltender Funktion ab, da durch Musik dem Unaussprechlichen der Lebenssituation eine Sprache verliehen werden konnte. Als drittes übernahm Musik eine soziale Funktion für die Häftlingsgemeinschaft, indem sie gleichzeitig Überlebenshilfe für die Gruppe und Artikulation von sozialer (Ohn-)Macht innerhalb der Lagergesellschaft bedeutete.
Bereits in ihrem Ausblick streicht Juliane Brauer die Grenzen ihrer Studie selbst heraus. Durch die Abhängigkeit der Quellenlage von den Erinnerungen und Aussagen der Häftlinge und Zeitzeugen konnten bis hierher nur jene persönlichen Schicksale erfasst werden, die sich innerhalb einer Gruppe abspielten. Damit erscheint es schwierig, sich ein Bild über die Bedeutung der Musik für jene zu verschaffen, die als Häftlinge relativ isoliert im Lager lebten, wie z.B. die „Asozialen“. Genauso konnte bei Brauer keine Annäherung an jene Häftlinge erfolgen, für die Musik keine Rolle zur Bewältigung des Alltags spielte.
Die Studie von Juliane Brauer wird durch ihren sinnvollen, weiträumigen methodischen Ansatz Nachfolger finden. Besonders lobenswert ist ihre Vorgehensweise, nicht nur als Historikerin, sondern auch als Musikwissenschaftlerin zu agieren. So werden neben den Liedtexten auch die Komposition selbst, die bisweilen auf der Emotionsebene die aussagekräftigere Komponente darstellt, durch Kurzanalysen mit in den Diskurs einbezogen, eine Technik, die in der Geschichtswissenschaft noch auf eine ausgedehntere Nutzung und Entdeckung wartet. Entsprechend hilfreich ist der Anhang, in dem sich verschiedene Übersichten über Art und Inhalt der musikalischen Aktivitäten in Sachsenhausen finden. Dazu gehören Tabellen zu Häftlingsensembles mit Mitglieder- und Funktionslisten ebenso wie Aufstellungen über Einzelmusiker und ihr musikalisches Wirken. Leider wird hier das Repertoire der Kapellen, Orchester und Chöre nicht summarisch zusammengetragen, sondern muss vom Leser im Verlauf der Studie mühsam selbst erarbeitet werden. Komponisten und Werke werden episodisch genannt, es findet jedoch keine Einordnung statt. So hätte es beispielsweise eines Kommentars bedurft, dass die norwegischen Gefangenen ein Swing-Trio gründen konnten, das bevorzugt amerikanische Schlager präsentierte. Sowohl der Swing („Swing tanzen verboten“) als auch der amerikanische Schlager gehörten zu der von den Nationalsozialisten verfemten und nicht geduldeten Musik, so dass diese (von der SS unerkannte) musikalische Provokation sicherlich einen Machtfaktor der Opfer darstellte. Denn: stehen die KZ-Lieder zwar erklärtermaßen im Mittelpunkt der Betrachtung bei Brauer, so verweist der Titel der Arbeit „Musik im Konzentrationslager Sachsenhausen“ eigentlich auf deutlich mehr, das jedoch nur sporadisch mitgeteilt wird. Generell ist als Manko der Musik in der KZ-Forschung zu bedauern, dass bisher kaum Studien zur Instrumentalmusik für den Bereich der Kunstmusik wie der Populären Musik entstanden sind. Eine weitere Ungenauigkeit betrifft Juliane Brauers Ansatz zur Nutzung der Oral History, der weder auf ihre Möglichkeiten noch auf ihre Grenzen für die Untersuchung hin abgeklopft wird. Stattdessen findet sich der lapidare Hinweis auf die Einhaltung der Regeln der Führung von lebensgeschichtlichen Interviews nach der im Vergleich zu der Zahl aktuellerer Studien nicht mehr ganz taufrischen Publikation von Gabriele Rosenthal aus dem Jahr 1993.4 Bedauernswerterweise wurde dem Buch kein Register beigegeben, was bei einer Flut insbesondere von Personennamen die Handhabung enorm erleichtert hätte.
Als weiterführender Impuls muss aus der Dissertation von Juliane Brauer in jedem Fall die Frage aufgeworfen werden, welche Dimensionen Musik annehmen kann. Ist sie per se „gut“ und wird erst „schlecht“ durch den Missbrauch der Mächte? Auf die Aktualität dieser Fragestellung weist nicht nur die Arbeit von Brauer, sondern auch die öffentliche wissenschaftliche Diskussion hin, darunter das Symposium „Böse. Macht. Musik“ der Universität Oldenburg im Oktober 2008. Wie am Beispiel Sachsenhausen nachzuvollziehen war, erscheint es nur logisch, dass Musik ihre dunkle, undenkbare Seite in einem Konzentrationslager entfalten konnte – einem Ort, der ebenfalls undenkbar erschien.
Anmerkungen:
1 Beispielsweise Soshana Kalisch / Barbara Meister, Yes we sang! Songs of the Gettos and Concentration Camps, New York 1985; Ellinor Lau / Susanne Pampuch, Draußen steht eine bange Nacht. Lieder und Gedichte aus dem Konzentrationslager, Frankfurt am Main 1994; Günther Morsch (Hrsg.), Sachsenhausen-Liederbuch. Originalwiedergabe eines illegalen Häftlingsliederbuches aus dem Konzentrationslager Sachsenhausen, Berlin 1995.
2 Eckard John, Musik und Konzentrationslager. Eine Annäherung, in: Archiv für Musikwissenschaft 48 (1991), S. 1-36; Guido Fackler, „Des Lagers Stimme“. Musik im KZ. Alltag und Häftlingskultur in den Konzentrationslagern 1933 bis 1936. Mit einer Darstellung der weiteren Entwicklung bis 1945 und einer Biblio-/Mediographie, Bremen 2000; Ingo Schultz, Komponiert und geprobt im KZ Theresienstadt: „Der Kaiser von Atlantis oder Die Tod-Verweigerung“ von Viktor Ullmann, in: Barbara von der Lühe u.a.: Musiktheater im Exil der NS-Zeit. Bericht über die internationale Konferenz am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Hamburg 3. bis 5. Februar 2005, Hamburg 2007, S. 323-339.
3 Zu nennen sind Ulrike Migdal, Und die Musik spielt dazu. Chansons und Satiren aus KZ Theresienstadt, Zürich 1986; Gabriele Knapp, Das Frauenorchester in Auschwitz: musikalische Zwangsarbeit und ihre Bewältigung, Hamburg 1996; Szymon Laks, Musik in Auschwitz, Düsseldorf 1998 oder Lubomír Peduzzi, Musik im Ghetto Theresienstadt. Kritische Studien, Brno 2005.
4 Gabriele Rosenthal, Erlebte und erzählte Lebensgeschichte. Gestalt und Struktur biographischer Selbstbeschreibung, Frankfurt am Main 1993.