R. Zehetmayer: Die Entstehung des Landes (Nieder-)Österreich und des Landesbewusstseins seiner Bewohner im hohen Mittelalter

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Titel
Die Entstehung des Landes (Nieder-)Österreich und des Landesbewusstseins seiner Bewohner im hohen Mittelalter.


Autor(en)
Zehetmayer, Roman
Reihe
Forschungen zur Landeskunde von Niederösterreich
Anzahl Seiten
336 S.
Preis
€ 26,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Csendes, Geschichte des Mittelalters und Historische Hilfswissenschaften, Universität Wien

Pünktlich zum Jubiläum „100 Jahre Bundesland Niederösterreich“ widmet sich dieses Werk einem Thema, mit dem sich bereits drei Generationen von Forscher:innen auseinandergesetzt haben. Den Ausgangspunkt bildete dabei Otto Brunner, der 1939 in seinem Buch „Land und Herrschaft“ die überkommene Auffassung, Land als Herrschaftsgebiet eines Landesherrn zu definieren, zurückwies und im Land ein Gebiet einheitlichen Rechts sah. Die Folgediskussion, die auch andere Teile des Reiches in Betracht zog, richtete sich überwiegend gegen eine Verallgemeinerung von Brunners Ansatz, der von spätmittelalterlichen Verhältnissen ausgegangen war und konzentrierte sich auf Fragen, wie die Rolle des Landesfürsten oder die Interessensgemeinschaft von Landesfürsten und Adel bei der Entstehung eines Landes zu bewerten wären. Zehetmayer stellt dies in einem einleitenden Kapitel übersichtlich dar. Zu Beginn unseres Jahrhunderts war unter kulturgeschichtlichen Aspekten vermehrt die Bedeutung einer Bewusstseinsbildung in die Debatte eingebracht worden, die das Land als „Erinnerungsraum“ zu definieren versucht (Schneidmüller 2005) – ein Ansatz den auch der Autor aufgreift. Zehetmayer, Landesarchivdirektor und Herausgeber des Niederösterreichischen Urkundenbuchs – derzeit wohl der beste Kenner der Materie – fasst in einem einleitenden Kapitel („Was ist im Mittelalter unter einem Land zu verstehen?“) als Ergebnis der bisherigen österreichischen Geschichtsforschung zusammen, dass ein Zeitraum von rund 200 Jahren (zwischen 1000 und 1200) als Entstehungszeit des Landes (Nieder-)Österreich eingeschätzt wird. Das bringt ihn dazu, bei seiner Arbeit chronologisch in sechs Abschnitten vorzugehen und die Periode vom 9. Jahrhundert bis zum Tod Leopolds III. 1136 zu betrachten.

Mit der Karolingerzeit beginnend, werden jeweils Verfassungsstruktur und Ereignisgeschichte behandelt, die wichtigen Akteure vorgestellt und Fragen nach einer Interessensgemeinschaft, die in Landesversammlungen zum Ausdruck kommen könnten, sowie nach einem „Wir“-Bewusstsein gestellt. Wohl sind Abgrenzungstendenzen zu Bayern bemerkbar, doch war der Adel noch überwiegend im bayerischen Kernland verankert und zerstritten, sodass sich kaum ein Interessensverband bilden konnte. Nach dem Zusammenbruch der karolingischen Mark 907 und der Ungarnperiode konnte die frühe Babenbergermark, die unter dem starken Einfluss der Könige (die über reiches Fiskalgut verfügten) und der bayerischen Herzöge stand, nur auf wenigen Kontinuitäten aufbauen. Auch der Adel, der am Aufbau mitwirkte, hatte noch eine starke Bindung an das bayerische Kernland. Erstmals ist auch die volkssprachliche Bezeichnung des Landes Ostarrichi überliefert, die den lateinischen Bezeichnungen in den Quellen entspricht, über deren Alter freilich keine begründete Aussage möglich ist. Eine wichtige Periode für die Entwicklung des Landes Österreich, davon ist auch der Rezensent überzeugt, war das 11. Jahrhundert. Mit der Thronbesteigung König Heinrichs II., der dabei auf die Babenberger zählen konnte, nimmt der Einfluss der bayerischen Herzöge auf die Mark deutlich ab. Dagegen konnten die Markgrafen nicht zuletzt durch die Kämpfe gegen Ungarn einen zunehmenden Handlungsspielraum gewinnen, Markgraf Adalbert ging dadurch auch als herausragende Persönlichkeit in die Familientradition ein. Zudem begannen die Adeligen und noch mehr die Ministerialität ihren Schwerpunkt in der Mark zu sehen. Das Königtum, vor allem in der Person Heinrichs III., war allerdings noch stark in der Mark engagiert und es kamen mit ihm noch Adelsfamilien aus Bayern in die Mark, um sich an der Kolonisation zu beteiligen. Der Markgraf verfügte jedoch bereits über die stärkste Gefolgschaft und vermochte diese auch auszubauen. Während in der Historiographie, deren Autoren entfernt lebten, die Mark noch immer als fester Teil Bayerns gesehen wurde, bezeugen die Urkunden bereits den regelmäßigen Gebrauch des Landesnamens. Unter Markgraf Leopold II. lässt sich eine intensivere Entwicklung zu einem Interessensverband in der Mark beobachten. Als deutlicher Beleg sind die Auswirkungen des Investiturstreits auf die Mark zu betrachten, indem es Leopold gelang, bei seinem Abfall von Heinrich IV. den Landesadel hinter sich zu versammeln, ungeachtet der dramatischen Folgen, die das nach sich zog. In dieser Periode ist auch erstmals explizit von einem Recht eben dieses Landes („ius illius terrae“) die Rede und auch der Name Österreich verdrängt in den Königsurkunden die früheren lateinischen Bezeichnungen. Zehetmayer resümiert zurecht, dass sich nicht zuletzt durch die politischen Ereignisse eine „Schicksalsgemeinschaft“ gebildet hatte.

In den bisherigen Forschungsdiskussionen hat man in der Entwicklung der Mark zum Land in der Herrschaft Markgraf Leopolds III. vielfach die entscheidende Phase gesehen. Der 1485 heiliggesprochene Markgraf vermochte in der Tat durch seinen Parteiwechsel 1105 zu Heinrich V. und die Heirat mit dessen Schwester Agnes sein Ansehen im Reich nachhaltig zu steigern und die Unabhängigkeit von Bayern zu festigen. Auch Eheverbindungen seiner Schwestern zu den Nachbarländern Böhmen und Steiermark hatten dazu beigetragen. Das Einvernehmen mit dem Adel war weitgehend gut und stabil, wie die zahlreichen Landesversammlungen zu beweisen scheinen, die auch regional anerkannte Rechtsgewohnheiten („consuetudines“) erkennen lassen. Das „Wir“-Bewusstsein lässt sich aber auch daran festmachen, dass in Quellen zwischen Österreichern und Bayern unterschieden wird. In dieser Zeit entstehen auch im Land erste historiographische Leistungen. Zehetmayer berücksichtigt bei der Beurteilung Leopolds III. zurecht einen von Max Weltin geäußerten Einwand, dass die nach 1100 markant ansteigende Menge an urkundlichen und historiographischen Quellen das Handeln des Markgrafen ungleich deutlicher hervortreten lässt, als das bei seinen Vorgängern der Fall war. Der Markgraf konnte sich auf eine zahlreiche Ministerialität stützen, die die Erschließung des Landes vorantrieb. An diesem Ziel waren auch die Klostergründungen Klosterneuburg und vor allem Heiligenkreuz und Klein-Mariazell ausgerichtet. Die wirtschaftliche Bedeutung der Mark lässt sich am Aufkommen einer Münzprägung in Krems feststellen. Zusammenfassend vertritt Zehetmayer die begründete Ansicht, dass zum Zeitpunkt des Todes von Leopold III. von einem Land Österreich gesprochen werden kann.

Das Schlusskapitel „Epilog: Das Privilegium Minus und die Entstehung des Landes“ behandelt im Überblick die Nachfolgegeneration Leopolds III., die vorübergehend durch Leopold IV. und Heinrich II. die bayerische Herzogswürde erlangte, diese aber nicht bewahren konnte. Dem neuen König Friedrich I. kam es darauf an, im Osten des Reichs Stabilität herzustellen und für Heinrich II. – der in Bayern an Handlungsspielraum eingebüßt hatte – eine den Honor des Herzogs wahrende Lösung zu finden, die eben in der Erhebung Österreichs zum Herzogtum bestand. Man kann das als „staatsrechtliche“ Abtrennung betrachten. Zehetmayer setzt sich dabei besonders mit der Forschungsmeinung auseinander, dass vor allem der Gerichtsparagraf des Privilegium Minus, der jegliche Gerichtsbefugnis vom Herzog abhängig machte, der entscheidende Schritt zur Landwerdung gewesen sei. Hier folgt er wieder Weltin, der auch für die Gerichtsorganisation durch die Erhebung zum Herzogtum keine Veränderungen der Strukturen, wie sie in der Mark zu diesem Zeitpunkt gegeben waren, sehen konnte.

Wie das umfangreiche Literaturverzeichnis (S. 276–318) zeigt, wurde das Thema vielfach intensiv bearbeitet. Die dabei zum Ausdruck kommende Forschungsentwicklung resümiert Zehetmayer in seinem Buch kritisch abwägend. Es ist aber vor allem das systematische Überprüfen der Gesamtheit der Quellen im Hinblick auf ein wachsendes regional bezogenes Selbstverständnis, das sich als überaus ertragreich erweist. Das Buch ist gut gegliedert, die großen Kapitel sind in sich abgeschlossen. Ein übersichtliches Register ist eine wesentliche Hilfe. Autor und Verein für Landeskunde von Niederösterreich haben dem Bundesland Niederösterreich und der Forschung ein wertvolles Geschenk bereitet.

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