M. Burkhardt: Der hansische Bergenhandel im Spätmittelalter

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Titel
Der hansische Bergenhandel im Spätmittelalter. Handel – Kaufleute – Netzwerke


Autor(en)
Burkhardt, Mike
Reihe
Quellen und Darstellungen zur Hansischen Geschichte 60
Erschienen
Köln 2009: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
433 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Cornelia Neustadt, Historisches Seminar, Universität Leipzig

Die Forschungen zum hansischen Kontor in Bergen und die Untersuchung der am Handel mit Norwegen beteiligten Personengruppe erlebten ihre erste Blüte zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Für beides steht der Lübecker Archivar Friedrich Bruns, dessen Publikationen bis heute Standardwerke für dieses Thema darstellen.1 Aufgrund der Auslagerung der Bestände des Archivs der Hansestadt Lübeck – darunter auch des Archivs der Bergenfahrerkompanie – während des Zweiten Weltkrieges und deren Odyssee durch ostdeutsche und sowjetische Archive, die erst zwischen 1987 und 1990 mit einer Rückführung nach Lübeck endete2, bestand für lange Zeit nur wenig Möglichkeit, an Bruns Forschungen anzuknüpfen und diese weiterzuführen. Erst seit die Bestände wieder der Wissenschaft zur Verfügung stehen, sind im letzten Jahrzehnt durch Tagungen verschiedene Forschungsfelder angerissen worden3 und neue Forschungsarbeiten zu diesem Thema entstanden.4

Burkhardt stellt in seiner Untersuchung zum Bergenhandel vor allem dessen Träger in den Vordergrund. Die Ausgangsbasis bildet eine Prosopographie der Lübecker Bergenfahrer zwischen 1360 und 1510, die als vollständiger Katalog auf CD der Publikation beiliegt und auf Grundlage der Lübecker Archivalien (Bergenfahrerarchiv, Niederstadtbuch und Testamente) und der hansischen Quelleneditionen (Hanserezesse, Hansisches Urkundenbuch sowie regionale Urkundenbücher) zusammengestellt wurde. Als Bergenfahrer sind dabei alle Kaufleute erfasst, die nachweisbar am Handel mit Norwegen beteiligt waren, unabhängig davon, ob diese sich der Bergenfahrerkompanie zuordneten. Um das Beziehungsgeflecht innerhalb dieser Personengruppe zu analysieren, wählte Burkhardt drei zeitliche Referenzrahmen, von denen Phase I den Zeitraum von 1360–1400 umfasst, Phase II die Jahre 1440–1470, Phase III ist zwischen 1490 und 1510 angesiedelt. Trotz der unterschiedlichen Dauer dieser drei Referenzrahmen ist diese Einteilung gerechtfertigt, da sie elementaren Einschnitten in der Geschichte der hansischen Niederlassung in Bergen sowie Veränderungen in den Strukturen des Handels entspricht.

Als ein wichtiges Instrument für die Untersuchung selbst nutzt Burkhardt die Methoden der sozialen Netzwerk-Theorie. Die Anwendung dieser Methoden auf die Vielzahl der Verbindungen zwischen den hansischen Kaufleuten wurde bereits 2001 in einem Aufsatz von Stephan Selzer und Ulf Ewert angeregt, bisher aber nur für wenige Beispiele durchgeführt.5 Burkhardt stellt zur genauen Vorstellung seiner Herangehensweise eine theoretische Abhandlung an den Beginn seiner Arbeit, die in Grundbegriffe einführt, das Aufnahmeverfahren der Daten und die Voraussetzungen für die graphische Umsetzung darlegt, aber auch die Grenzen der Anwendbarkeit auslotet.

Der thematische Teil der Arbeit ist zweigegliedert. Der erste Abschnitt behandelt den Handel nach Bergen an sich, die Bedeutung der Niederlassung für verschiedene Städtegruppen, Konkurrenten, Waren, Handelswege sowie die Beziehungen nach Boston. Dabei wird eine herausragende Stellung der Lübecker Bergenfahrer deutlich, hinsichtlich deren Stellung Burkhardt die immer noch rezipierte These von Bruns widerlegt, dass die Bergenfahrer nur von geringem Ansehen waren. Weiterhin ergibt sich aus den Ausführungen die enge Verbindung zwischen Bergen und der hansischen Niederlassung in Boston als ein wichtiger Faktor des Bergenhandels, da das Dreieck Lübeck – Bergen – Boston eine Teilhabe am englischen Tuchmarkt und damit eine höhere Gewinnspanne ermöglichte als der Handel mit den norwegischen Produkten allein. Daher bedeutete der Niedergang des Handels mit Boston in den 1460er-Jahren einen wichtigen Einschnitt in der Geschichte des Bergenhandels und eine Veränderung bei den Teilnehmern am Handel. Darüber hinaus lässt sich zumindest für 1492 und 1496 feststellen, dass viele der Bergenfahrer nicht nur auf Norwegen konzentriert waren.

Der zweite und umfangreichere Abschnitt befasst sich mit der Analyse der Beziehungen der Kaufleute untereinander. Wichtige Untersuchungsfelder sind wirtschaftliche Aktivitäten, rechtliche Beziehungen, Mitgliedschaften in Korporationen, Bruderschaften und Geschlechtergesellschaften, die politischen Aktivitäten sowie die räumliche Nähe, vor allem auf dem Immobilienmarkt in Lübeck. Auch diese Einzeluntersuchungen präsentieren die Bergenfahrer als finanzkräftige, einflussreiche und angesehene Bürger der Stadt. Da sich aber nicht alle Beziehungen spätmittelalterlicher Kaufleute in Form eines Netzwerkes erfassen lassen, treten neben die Netzwerkgraphen immer wieder Vergleichstabellen oder statistische Erhebungen. Vor allem die Vielzahl der sozialen Beziehungen im Rahmen von Fahrtengemeinschaften, Bruderschaften oder Geschlechtergesellschaften lassen sich nur an der Teilnehmerschaft der Bergenfahrer in diesen Zusammenschlüssen festmachen, erlauben aber keine Feststellung gesicherter Kontakte.

Die Netzwerkanalyse wendet Burkhardt zunächst auf die wirtschaftlichen Beziehungen im Rahmen von Handelsgesellschaften oder anderweitig nachweisbaren, gemeinsamen Handelsaktivitäten an. An den graphischen Umsetzungen lässt sich ablesen, dass im Verlauf des 15. Jahrhunderts die Bedeutung von Familienmitgliedern als Handelspartner abnahm und sich zu Beginn des 16. Jahrhunderts die Zahl dieser Partner selbst reduzierte. Auf der anderen Seite nahm die Zusammenarbeit von Kaufleuten außerhalb des Gesellschaftshandels im 15. Jahrhundert stetig zu und erreichte in der letzten Phase ihren Höhepunkt. Die Ausweitung des Gesellschaftsnetzes auf Kaufleute, die nicht Verwandte waren, führt Burkhardt darauf zurück, dass das Prinzip von Treu und Glauben an Bedeutung zunahm und gegenseitiges Vertrauen an die Stelle von Verwandtschaft trat. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts lösten andere Formen der Zusammenarbeit den Gesellschaftshandel langsam ab.

Ähnlich verfährt Burkhardt auch bei der Analyse der Testamentsvormundschaften. Die aus den graphischen Darstellungen erkennbaren Muster verdeutlichen, dass sich die Zusammensetzung der Bergenfahrer gegen Ende des 15. Jahrhunderts veränderte, dass diese weniger auf zentrale Personen im Netzwerk bezogen waren als dies für die beiden früheren Phasen festzustellen ist. Dieser Befund bestätigt sich auch in der Zusammenführung aller erstellten Netzwerkgraphen.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass diese Publikation zwei große Forschungslücken schließt. Sie eröffnet einerseits einen neuen Blick auf den Bergenhandel und die daran beteiligten Kaufleute, wodurch sie die Forschung auf diesem Gebiet weiterführt und neue Ergebnisse zur Stellung der Bergenfahrer in Lübeck und zur Bedeutung von Bergen als Handelsplatz zu Tage fördert. Der beigefügte prosopographische Katalog, der ja über die drei Referenzphasen hinausgeht, stellt dabei ein wichtiges Nachschlagewerk zu Lübecker Kaufleuten des Spätmittelalters dar. Andererseits beschreitet die Arbeit auch Neuland durch die sinnvolle Anwendung neuer Methoden auf die Untersuchung einer Personengruppe. Durch die graphische Repräsentation der Beziehungen lassen sich Entwicklungsmuster und Veränderungen in den Konstellationen ablesen. Am Ende erschließt vor allem die Kombination verschiedener Untersuchungsmodi die Stellung der Bergenfahrer in Lübeck und wichtige Persönlichkeiten, ihre Kontakte untereinander und zu ihrer Außenwelt.

Anmerkungen:
1 Besonders: Friedrich Bruns, Die Lübecker Bergenfahrer und ihre Chronistik, Berlin 1900, und ders., Die Sekretäre des Deutschen Kontors zu Bergen, Bergen 1939.
2 Archiv der Hansestadt Lübeck (Hrsg.), Archiv der Bergenfahrerkompanie zu Lübeck und des Hansischen Kontors zu Bergen in Norwegen von (1278) bzw. 1314 bis 1853, bearb. v. Georg Asmussen / Ulrich Simon / Otto Wiehmann; Lübeck 2002, S. 8.
3 Antjekathrin Graßmann (Hrsg.), Das Hansische Kontor in Bergen und die Lübecker Bergenfahrer. International Workshop, Lübeck 2003; Geir Atle Ersland / Marco Trebbi (Hrsg.), Neue Studien zum Archiv und zur Sprache der Hanseaten, Bergen 2008.
4 Ein weiteres Beispiel dafür ist: Justyna Wubs-Mroczewicz, Traders, Ties and Tensions. The Interaction of Lübeckers, Overijsslers and Hollanders in Late Medieval Bergen, Hilversum 2008.
5 Stephan Selzer / Ulf Ewert, Verhandeln und Verkaufen, Vernetzen und Vertrauen. Über die Netzwerkstruktur des hansischen Handels, in: Hansische Geschichtsblätter 119 (2001), S. 135-162. Ein Anwendungsbeispiel bietet Carsten Jahnke, Netzwerke in Handel und Kommunikation an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert am Beispiel zweier Revaler Kaufleute, Kiel 2003.