Wann ist ein Mensch wirklich tot? Den Ausgangspunkt dieser Studie bildet ein Grundproblem der ärztlichen Diagnostik und der philosophischen Anthropologie, das ungeachtet allen technisch-medizinischen Fortschritts (in Form der Hirntoddebatte) bis in die Gegenwart intensiv und kontrovers diskutiert wird: Die Unfähigkeit einer exakten Todesdiagnose. Denn die Errichtung von Leichenhäusern zur Aufbewahrung von Verstorbenen im Berlin des 19. Jahrhunderts war, wie Nina Kreibig in ihrer nun publizierten Dissertation argumentiert, letztlich der Versuch, auf einer moralischen wie emotionalen Ebene mit den damit einhergehenden Unsicherheiten zurechtzukommen.
Die Studie untersucht die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der Berliner Leichenhäuser und fragt nach deren gesellschaftlichen Hintergründen sowie – unter Aufgreifen von emotionshistorischen Ansätzen – den Praktiken in der Handhabung der neuen Institution. Der Untersuchungszeitraum setzt 1794 an, als das erste Leichenhaus in der Stadt eröffnete, und endet 1871 mit der Reichsgründung, wobei offenbleibt, ob diese wirklich auf sozial- und kulturhistorischer Ebene einen markanten Einschnitt für die Geschichte des Bestattungswesens darstellte (S. 31). Sicherlich wandelte sich dieses gerade seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fundamental, doch ein direkter Zusammenhang mit der Nationalstaatsgründung wäre erst zu belegen – und würde, falls existent, einer detaillierten Betrachtung lohnen.1
Insgesamt untersucht Kreibig 29 Leichenhäuser auf 25 städtischen Friedhöfen und ist hierzu nicht nur in die Untiefen der Berliner Archivlandschaft eingetaucht, sondern hat eine Vielzahl weiterer Quellen (darunter zeitgenössische Literatur, offiziöse Schriftstücke, statistische Erhebungen und Zeitungsberichte) ausgewertet. Darauf aufbauend gelingt es ihr, insbesondere die diskursive Ebene anschaulich darzustellen und breit zu kontextualisieren. Als Triebkraft hinter dem Aufkommen von Leichenhäusern identifiziert Kreibig zunächst neue Unsicherheiten und Ängste einer bestimmten Gruppe von bürgerlichen Personen, die als eine Art historischer Ausläufer der Aufklärung auftraten. Zwar erzeugte diese ungemein viel neues Wissen, auf einen Bereich hatte sie jedoch einen gegenteiligen Effekt, nämlich auf die Interpretation des Todes, da sie das „Sicherheitsversprechen des Jenseits“ (S. 19) nachdrücklich in Frage stellte. Die seit dem 17. Jahrhundert zunehmend dokumentierte Furcht der Menschen vor dem Scheintod, also davor, infolge einer Fehldiagnose lebendig begraben zu werden, war der markanteste Ausdruck der hieraus resultierenden neuen Ungewissheit. Dabei stellte der Scheintod laut Kreibig angesichts der eingeschränkten Möglichkeiten der medizinischen Diagnostik noch weit ins 19. Jahrhundert hinein eine durchaus reale Gefahr dar, auch wenn die hierzu zeitgenössisch geschätzten Zahlen von bis zu einem Scheintodfall auf 1000 Tote stark übertrieben scheinen (S. 85f.). In jedem Fall verfügten Leichenhäuser in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts oft über Weckapparate für Scheintote, permanent anwesende Wächter sollten im Falle eines Wiedererwachsens sofort reagieren können, eine indes teure Praxis, die sich ärmere Menschen nicht leisten konnten. Ohnehin war die Angst vor dem Scheintod im Bürgertum deutlich verbreiteter, wo sie bis in die 1870er-Jahre präsent blieb.
Doch insgesamt lies diese auch infolge neuer ärztlicher Untersuchungsmethoden wie der Feststellung des (fehlenden) Herzschlags mittels eines Stethoskops bereits um die Jahrhundertmitte stark nach. Infolgedessen veränderte sich die Funktion der Leichenhäuser: Waren diese vor 1850 „Asyle von Scheintoten“ (S. 220), so dienten sie anschließend stärker dem „hygienischen Schutz von Lebenden“ (S. 293). Denn fortan dominierte unter dem Eindruck von großen Seuchen und Epidemien wie der Cholera sowie der aufblühenden Hygienebewegung die Angst vor einer von den Leichen ausgehenden Ansteckungsgefahr. In den Berliner Leichenhäusern lösten nun Kühlsysteme die Weckapparate ab, Schutzmaßnahmen gegen den Scheintod traten gegenüber Schutzmaßnahmen vor möglichen gefährlichen Ausdünstungen bei der Aufbewahrung der Verstorbenen in den Hintergrund. Dabei verschmolz ein hygienischer Sicherheitsdiskurs mit sozialen Disziplinierungsmaßnahmen: Leichenhäuser blieben auch in dieser Phase ein bürgerliches Projekt, das vor allem die problematische Situation in den unteren gesellschaftlichen Schichten der Stadt adressierte. Mit ihrer Hilfe sollten die Toten möglichst rasch aus den engen und oft feuchten Wohnungen entfernt werden. Gleichwohl lehnten die Berliner Behörden einen offiziellen Leichenhauszwang ab, der intensiv diskutiert wurde.
Ohne Zweifel liegt hier eine ungemein kenntnisreiche und detaillierte Studie vor: Die Materialfülle ist beeindruckend und auf jeder Seite des Buches scheint die Expertise der Autorin deutlich hervor, nicht nur was die Geschichte der Leichenhäuser selbst angeht, sondern allgemein im Bereich der Sepulkralkultur auf der einen und in der Berliner Stadtgeschichte auf der anderen Seite. Am stärksten sind die Ausführungen dort, wo Kreibig der Frage nach gesellschaftlicher Partizipation im Kontext der Leichenhäuser nachspürt. Sie zeigt die Exklusion bestimmter Gruppen, vor allem der Unterschichten, aus dem Diskurs, unterstreicht die Bemühungen der Kirchengemeinden um eine Resakralisierung, und arbeitet soziale Ungleichheiten im Spiegel der vordergründig egalitären Leichenhäuser heraus, die gerade bei ärmeren Menschen denn auch sehr unbeliebt waren. Nicht zuletzt deshalb waren Leichenhäuser gesamtgesellschaftlich ein randständiges Phänomen: Zwar stieg die Zahl der Berliner Leichenhäuser im Untersuchungszeitraum konstant an und in den 1870er-Jahren existierten mehr als 20 Einrichtungen, doch die Einstellungszahlen blieben vergleichsweise gering: 1842 wurde etwa gerade einmal zwölf Tote in die Berliner Leichenhäuser gebracht und trotz aller Anwerbung durch die Behörden wuchs der prozentuale Anteil in Relation zur Gesamtzahl der Verstorbenen bis 1871 nur langsam von unter 0,1 auf knapp 16 Prozent.
Etwas irritierend wirkt der mitunter kulturkritische Duktus, der sich durch das Buch zieht. Kreibig schließt sich in der Einleitung und einer doch sehr langatmigen „Vorgeschichte“ (die zusammen fast ein Drittel des Buches ausmachen) explizit der These einer Verdrängung des Todes seit dem 19. Jahrhundert an – und macht diese so zu einer analytischen Voraussetzung ihrer Untersuchung statt sie kritisch zu überprüfen. Sie rekurriert dabei stark auf die klassische Darstellung des französischen Historikers Philippe Ariès, die indes bereits zum Zeitpunkt ihrer Publikation Ende der 1970er-/Anfang der 1980er-Jahre aufgrund methodischer Mängel und einer sehr eingeschränkten (auf bürgerliche Höhenkammliteratur beschränkten) Quellengrundlage umstritten war.2 Kreibig schreibt damit in vielerlei Weise die klassische Verlustgeschichte von Tod und Sterben in der Moderne fort und greift dabei en passant sogar über den eigenen Untersuchungszeitraum aus, wenn selbst Hospize als Nachweis für die vermeintliche Ausgrenzung Sterbender in der heutigen Zeit herhalten müssen (obwohl die Hospizbewegung eine genau gegenteilige Zielsetzung hat). Wenn Kreibig im Schlusswort beklagt, dass „die ursprüngliche Funktion der Scheintotenrettung mittels der Leichenhäuser in der Bevölkerung praktisch vergessen ist“ und „nicht in das kollektive Gedächtnis Einzug“ gehalten habe, ja „womöglich bewusst aus diesem verbannt“ (S. 450) worden sei, so dürfte die eigentliche Ursache dafür wohl eher in der von ihr selbst nachgewiesenen zeitgenössischen Randständigkeit dieser Institution liegen und weniger darin, dass der moderne Mensch sich mutmaßlich vom Tod abgewendet hat. Und war der Scheintod gesamtgesellschaftlich tatsächlich so wirkmächtig, dass Verstorbene bis zum Abflauen dieser Ängste Mitte des 19. Jahrhunderts noch „weiterhin als Mitglieder der Gemeinschaft der Lebenden wahrgenommen wurden“ (S. 34)? Für einen bürgerlichen Teildiskurs mag diese These zutreffen, doch es ist schwer vorstellbar, dass in den Elendsquartieren der Stadt solche Erwägungen bei Todesfällen (implizit oder explizit) eine Rolle gespielt haben.
Dabei steckt in dem Buch analytisch mehr, ja die substanziellen Befunde hätten dazu dienen können, um zentrale Prämissen von Ariès und anderen zu hinterfragen oder doch zumindest zu differenzieren. Dass die Errichtung von Leichenhäusern eben keinesfalls einer unbestimmten Gruppe von Menschen mit unklaren Motiven dazu diente, den Tod auszulagern, sondern hinter den Veränderungen handfeste, kultur- und sozialhistorisch viel besser zu greifende Motive wie die bürgerliche Angst vor dem Scheintod und sanitätshygienische Erwägungen standen, belegt Kreibig eindringlich. Hier hätte es sich angeboten, die Ergebnisse stärker in der Geschichte des 19. Jahrhunderts zu verorten. Zentrale neuere kultur- und medizinhistorische Arbeiten zum Lebensende in jenen Dekaden wie die Bücher von Isabel Richter3 und Karen Nolte4, denen eben dies gelingt, werden lediglich kurz in der Einleitung erwähnt, ansonsten aber nicht aufgegriffen. Richters Befund, dass im 19. Jahrhundert keinesfalls der Tod, sondern die Leiche verdrängt wurde, bietet in vielerlei Hinsicht Anknüpfungspunkte zu Kreibigs Feststellung einer Umdeutung von Verstorbenen, die zunehmend zu einer potenziellen Bedrohung für die noch Lebenden stilisiert worden seien. Dies hätte sich für eine weiterführende Diskussion sicher ebenso angeboten wie eine Erörterung des Einflusses der von Nolte aufgezeigten Medikalisierungsprozesse am Lebensende in jenen Jahren auf den sanitätshygienischen Diskurs und vor allem dessen emotionshistorische Manifestierung in den menschlichen Lebenswelten. Damit hätte das analytische Fundament der von Kreibig angestrebten historischen „Neuinterpretation der Institution Leichenhaus“ (S. 30) fraglos weiter gestärkt werden können. Empirisch dagegen liegt nun uneingeschränkt eine fundierte, akribisch recherchierte, sauber operationalisierte und flüssig geschriebene Studie vor, an der für zukünftige Arbeiten zur Geschichte der deutschen Sepulkralkultur kein Weg vorbeiführen wird.
Anmerkungen:
1 Für Italien wurde der Einfluss des nation building auf den Wandel der Sepulkralkultur etwa jüngst am Beispiel der Trauerriten nachgewiesen und analysiert. Vgl. Moritz Buchner, Warum weinen? Eine Geschichte des Trauerns im liberalen Italien (1850–1915), Berlin 2018.
2 Philippe Ariès, Studien zur Geschichte des Todes im Abendland, München 1976; ders., Geschichte des Todes, München 1980.
3 Isabel Richter, Der phantasierte Tod. Bilder und Vorstellungen vom Lebensende im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2010.
4 Karen Nolte, Todkrank. Sterbebegleitung im 19. Jahrhundert. Medizin, Krankenpflege und Religion, Göttingen 2016.