Ph. Batthyány: Thrasymachos: ›Der Glücklichste ist der Tyrann‹

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Titel
Thrasymachos: ›Der Glücklichste ist der Tyrann‹. Sokrates und der Sophist über Gerechtigkeit in Platons Politeia


Autor(en)
Batthyány, Philipp
Reihe
Philosophische Schriften
Erschienen
Anzahl Seiten
550 S.
Preis
€ 89,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Helga Scholten, Fakultät für Geschichtswissenschaften Historisches Institut, Alte Geschichte, Ruhr-Universität Bochum

Platon lässt Sokrates gleich im ersten Buch seiner Politeia die Kern- und Ausgangsfrage „Was ist Gerechtigkeit?“ formulieren, woraus sich eine heftige Diskussion entwickelt. Eine wesentliche Rolle spielt Thrasymachos, der Sophist aus Chalkedon, indem er vehement seinen Standpunkt vertritt, Gerechtigkeit sei allein der Vorteil des Stärkeren, weshalb in Konsequenz der Tyrann der Glücklichste in der Polis sei. Im Konzept der Politeia übernimmt er die literarische Funktion als Gegenpart des Sokrates und dessen Gerechtigkeitsvorstellung, wobei er zentrale Themen anspricht, ohne sie zu Ende zu diskutieren. Auf diese Weise sind jedoch alle Aspekte genannt, die den Dialog in den folgenden neun Büchern bestimmen.

Batthyány fragt nach der Bedeutung des Thrasymachos für die Klärung der Gerechtigkeitsfrage in Platons Politeia. Er verfolgt das Ziel, die Gerechtigkeitsdefinition des platonischen Thrasymachos zu erfassen, wobei er vergleichend die fragmentarisch überlieferten Äußerungen des historischen Thrasymachos prüft. Aufgrund der problematischen Überlieferungssituation und der literarischen Überzeichnung durch Platon lässt sich der reale Thrasymachos zwar schwer fassen, sicher ist jedoch, dass dieser im letzten Viertel des 5. Jh. v.Chr. Einfluss auf politische Debatten in Athen nahm. Erstaunlicherweise handelt es sich um die erste Monografie zu diesem bekannten Sophisten, dessen Bedeutung auch für das Verständnis der Politeia, eines der zentralen Werke der Philosophiegeschichte, kaum geringgeschätzt werden kann. Weder dem platonischen noch dem historischen Thrasymachos wurde bisher in dieser Form Aufmerksamkeit geschenkt. Die meisten philosophischen Interpretationen des Dialogs belassen es bei textimmanenten Deutungen des Thrasymachos und seiner Haltung zur Gerechtigkeit (S. 35). Nach der Einleitung (S. 15–63), in der die Bedeutung des Thrasymachos, der Forschungsstand sowie die Zielsetzung formuliert ist, folgen vier Hauptkapitel.

Teil I (S. 64–129) bietet eine „Hinführung zur Gerechtigkeitsdefinition von Thrasymachos“, indem zunächst der Aufbau des Gesprächs erläutert wird. Einen anschaulichen Eindruck von der Methodik Platons bietet die Erörterung der Verwendung von Tiersymbolik, die dem Leser das „Wilde“ in der Persönlichkeit des Thrasymachos suggerieren soll. Zentral für den Dialog ist die Gerechtigkeitsfrage, wobei „Geld“, das Streben danach (pleonexie), ein Leitmotiv darstellt. Sokrates argumentiert, dass Gerechtigkeit wertvoller sei, was als kritische Anspielung auf die Honorarforderungen der Sophisten verstanden werden kann (S. 107, 120). Thrasymachos bietet dagegen eine rein deskriptive, an der Realität orientierte Gerechtigkeitsdefinition (S. 125).1 Am Ende kristallisieren sich Batthyány zufolge „sieben Explikationen der Gerechtigkeit von Thrasymachos“ heraus, die im zweiten Teil ausführlich diskutiert werden (S. 130–299).

Die erste bezieht sich auf die Formulierung „nicht anders als“, was eine strikte Reduktion bedeutet: Nichts als der Vorteil des Stärkeren ist gerecht. Die zweite erörtert den Begriff des Stärkeren, die dritte den des Vorteils. Es folgen Erläuterungen zu den Beziehungen zwischen Gerechtigkeit und Gesetz (4), zum „Mehrhabenwollen“ (pleonexie) (5), zum Verhältnis von Gerechtigkeit und Glück (6) sowie Gerechtigkeit und Tugend (7). Themen wie die Politisierung von Gerechtigkeit, Rechtspositivismus und Naturrecht sowie die „pleonexie“ als „seelisches“ Problem, um nur einige Aspekte aufzugreifen, werden von Batthyány ausführlich diskutiert. Die Unvereinbarkeit der Auffassungen der Gesprächspartner zeigt sich überaus deutlich, wenn Thrasyamchos den Tyrannen als glücklichsten Menschen bezeichnet, denn ein am eigenen Vorteil ausgerichtetes Leben bedeute Glück und so sei es tugendhaft, die eigene Überlegenheit auszunutzen. (S. 298). Es ist beeindruckend, wie Philipp Batthyány „im Herzstück dieser Untersuchung“ (S. 61) die Gerechtigkeitsdefinition des Sophisten Wort für Wort aufgreift und dem Leser die Gedankenwelt nicht nur Platons, sondern auch des historischen Thrasymachos näherbringt.

Teil III widmet sich dem „Unglück des Thrasymachos“ (S. 300–403), dem Nachweis des Unglücks des Ungerechten. Batthyány bietet Erklärungen für den Rückzug des Thrasymachos aus dem Dialog, sechs mögliche Bedeutungen des Verstummens (S. 307–333). Sokrates demonstriert am Beispiel der Seele des Thrasymachos das Unglück der tyrannischen Seele, die – wenn sie überhaupt leidet – an sich selbst leidet (S. 380, 402). Die Ausführungen zum Narzissmus-Begriff dienen abschließend einer genaueren Betrachtung der Persönlichkeitsmerkmale des platonischen Thrasymachos.

Der vierte und letzte Teil (S. 404–477) widmet sich dem realen Thrasymachos. Fragmente, Testimonia und Forschungsergebnisse sind Gegenstand dieses Kapitels, zum Zweck eines Vergleichs zwischen der historischen und literarischen Persönlichkeit. Die instruktiven Erläuterungen zum Leben und Werk des Sophisten stützen sich auch auf Testimonia, die im Standartwerk von Diels und Kranz keine Berücksichtigung fanden, was eine wertvolle Ergänzung zum Bild des Sophisten bietet.2 Thrasymachos erscheint als kreativ, politisch interessierter und informierter Mensch, der sich durch eine rege Forschungs- und Lehrtätigkeit auszeichnete (S. 420). Außerdem fungierte er als politischer Berater (S. 452). Er war kein Zyniker, wie Platon ihn charakterisierte, sondern ein kritischer Geist, der die harte Realität beschrieb, dabei keinen Rechtspositivismus befürwortete, so die überzeugende Interpretation Batthyánys. Einen Tyrannen hätte er kaum als glücklichsten Menschen bezeichnet. Er appellierte angesichts schlechter Zeiten zur Umkehr, mahnte zur Gerechtigkeit und zum panhellenischen Denken sowie zur Veränderung. Sein Vorschlag bestand in einer Rückbesinnung auf die „patrios politeia“, womit er offensichtlich die Verfassung vor den Reformen des Ephialtes und Perikles 462/1 meinte.3 Diese Überlegungen datieren in die Zeit des oligarchischen Umsturzes 411/10, für den Thrasymachos als Berater Kleitophons theoretische Vorarbeiten leiste. Sein Appell, zur „patrios politeia“ zurückzukehren, ein offenbar von ihm geprägter Begriff, wurde jedoch zur Rechtfertigung der neu installierten oligarchischen Herrschaft missbraucht. Wann sich Thrasymachos enttäuscht von dem politischen Geschehen abwandte, ob 411/410 oder nach dem Sturz der Demokratie 404, als man sich erneut auf die „patrios politeia“ berief, bleibt ungewiss. Am Ende verdrängte Platon mit seiner wirkmächtigen Politeia die Erinnerung an den realen Thrasymachos nahe zu vollständig. Im Gedächtnis blieb dieser als Befürworter von Geldgier, Eigennutz, Ungerechtigkeit und Tyrannis. Eine Wertung dieser Darstellung Platons vorzunehmen, in welcher die Eigenschaften des historischen Thrasymachos literarisch überzeichnet seien, mache wenig Sinn, so Batthyány. Es entspreche nicht der Intention des Autors, sich um historische Korrektheit zu bemühen, sondern ein Werk der Philosophie zu verfassen. Außerdem seien Ähnlichkeiten mit der Persönlichkeit des historischen Thrasymachos vorhanden (S. 480). Diese herauszuarbeiten ist eines der Verdienste der vorliegenden Studie. Ergänzen ließe sich, dass die Stilisierung des starken Kontrastes zwischen Sokrates und Thrasymachos zudem der Distanzierung des Sokrates vom Vorwurf, ein Sophist gewesen zu sein, diente.4

Teil IV endet mit einem Ausblick auf die Rezeptionsgeschichte der Politeia und Entfremdung vom realen Thrasymachos am Beispiel Schopenhauers. Dieser instrumentalisierte seinerseits den platonischen Thrasymachos für seine philosophischen Überlegungen (S. 481–485). Das kurze, präzise formulierte Schlusswort (S. 485–87) greift die Ergebnisse, die unterschiedlichen Deutungen der vier Hauptteile auf und führt die Fäden der Interpretation zusammen. Es folgt ein umfangreiches Literaturverzeichnis, ein Personen- und Sachregister sowie ein Stellenverzeichnis.

Batthyány legt mit seiner Monografie eine sorgfältige, den Leser fesselnde Interpretation des platonischen Dialoges und der Fragmente der Werke des Sophisten vor, womit er eine wichtige Forschungslücke schließt. Auf eindrückliche Weise wird die Vielstimmigkeit des platonischen Thrasymachos herausgearbeitet, die auf verschiedene Lesarten des Dialoges verweist. Die überzeugende Interpretation der Fragmente zeigt am Ende nochmals, wie Platon die historische Person als Funktionsträger seiner Darstellung einsetzt. Die ausgesprochen anregende philosophische Studie spricht gleichermaßen Interessierte an Philosophie, Philosophiegeschichte, Sophistik und Alter Geschichte, speziell der griechischen Geistesgeschichte des 5. und 4. Jh. v.Chr. an. Sie lässt sich als ein Plädoyer für einen interdisziplinären Zugang zu den Werken Platons verstehen. Darüber hinaus bleibt zu hoffen, dass weitere Studien dieser Art folgen.

Anmerkungen:
1 Plat. Pol. 338c2-3.
2 Hermann Diels, Walther Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker, Bd. 2, Berlin 1952, 6. Aufl., ND Dublin 1966/67 (1. Aufl. 1903).
3 Batthyány geht von einer Datierung zwischen 470 und 450 aus, doch mit den Reformen des Ephialtes und Perikles 462/61 setzte eine bahnbrechende Entwicklung zur „demokratia“ ein, die der attischen Bürgerschaft eine zunehmend souveräne Entscheidungsgewalt übertrug. Eben diese Regierungsgewalt in Händen attischer Bürger fand nach dem Scheitern der Sizilischen Expedition 413 v.Chr. ihre harte Kritik. Zur Geschichte Athens im 5. Jh. v.Chr. vgl. jetzt: Werner Riess (Hrsg.), Colloquia Attica II. Neuere Forschungen zu Athen im 5. Jahrhundert v.Chr., Stuttgart 2021; Raimund Schulz, Uwe Walter, Griechische Geschichte. ca. 800–322 v.Chr., 2 Bd., Berlin, Boston 2022.
4 Als Sophist brachte ihn Aristophanes bereits 423 v.Chr. in seiner Komödie „Die Wolken“ auf die Bühne.

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