A. Steinsiek (Hrsg.): Ferdinand Gregorovius

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Titel
Ferdinand Gregorovius in seinem Jahrhundert. Der Historiker und Schriftsteller neu gelesen. Aus Anlass der Edition der Briefe und des 200. Geburtstages


Herausgeber
Steinsiek, Angela
Reihe
Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte
Erschienen
Köln 2023: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
361 S.
Preis
€ 55,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Karsten Lorek, German Department, Silpakorn University, Nakhon Pathom

Ein neuer Sammelband zu Ferdinand Gregorovius geht auf eine gleichnamige Tagung in Rom zurück und für beide, Tagung wie Publikation, gab es einen doppelten Anlass: der 200. Geburtstag des Historikers im Jahr 2021 und eine neue, digitale Briefedition, die am Deutschen Historischen Institut (DHI) in Rom entstanden ist.1 Jeweils vor genau 30 Jahren, damals aus Anlass des 100. Todestages, veranstaltete das DHI bereits eine Tagung zu Gregorovius und gab einen Sammelband heraus, der naheliegenderweise das gegenseitige Verhältnis des Autors und Italiens zum Thema hatte.2 Obwohl, wie Martin Baumeister, Direktor des römischen DHI, in seiner Vorbemerkung formuliert, Gregorovius „weitgehend im Schatten [von] Gründungs- und Leitfiguren“ (S. 9) wie Leopold von Ranke, Johann Gustav Droysen (nicht „von Droysen“ (ebd.)), Theodor Mommsen und Jacob Burckhardt steht, hat das wissenschaftliche Interesse an Gregorovius in den letzten 10, 15 Jahren eher wieder zu- als abgenommen, wenn man etwa darauf blickt, dass neben der Vorbereitung der digitalen Briefedition am DHI zwei weitere Editionen am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt entstanden sind.3 Im Untertitel macht der Sammelband die Sonderstellung Gregorovius’ als „Historiker und Schriftsteller“ zum Thema, der mit seinem Selbstverständnis als Dichter auf Distanz zur „akademischen Geschichtsschreibung“ (S. 20) gegangen ist, und erhebt den Anspruch, dass der Autor mit größerem zeitlichen Abstand „neu gelesen“ werden soll.

Sieht man von den einleitenden Texten ab, versammelt der Band 16 Beiträge, wobei es sich beim letzten um eine Auswahl von 22 Artikeln der Berliner „National-Zeitung“ handelt, für die Gregorovius in den 1860er-Jahren als Korrespondent aus Rom berichtet hat. Obwohl manche der übrigen Beiträge in sich vielschichtig sind, lässt sich die thematische Spannbreite des Bandes folgendermaßen skizzieren: Zwei Beiträger befassen sich mit Einzelaspekten von Gregorovius’ Hauptwerk, seiner achtbändigen „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“ (1859–1872). Rund ein Viertel des Bandes bilden aufschlussreiche Vergleichsstudien, die Gregorovius ins Verhältnis zu Theodor Mommsen, Felix Dahn und Richard Wagner setzen; und mit Einschränkungen ist auch der Aufsatz über die Darstellung der Villa Hadriana eine Vergleichsstudie zu Gregorovius und Burckhardt, auch wenn der Titel dies nicht erkennen lässt. Zwei wichtige Forschungsbeiträge umkreisen die ambivalente Perspektive Gregorovius’ auf den Katholizismus und auf das Judentum. Daneben stehen, gewissermaßen im zweiten Teil des Sammelbandes, Aufsätze zu Gregorovius’ selbstbewussten Verhandlungen mit der J. G. Cotta’schen Buchhandlung, zum Briefwechsel mit dem Bologneser Grafen Giovanni Gozzadini und dessen Frau, zur (gegenüber Rom letztlich klar untergeordneten) Bedeutung von Florenz für Gregorovius, zur Arbeit des Historikers in italienischen Archiven bzw. Bibliotheken, zu den Gregoroviusiana in der Bayerischen Staatsbibliothek sowie zwei Beiträge, welche die digitale Briefedition vorstellen.

Die Herausgeberin Angela Steinsiek hat darauf verzichtet, die verschiedenen Texte des Bandes einzuordnen und zu erläutern, welchen besonderen Beitrag sie zum recht allgemeinen Thema „Ferdinand Gregorovius in seinem Jahrhundert“ oder zum im Untertitel formulierten Programm leisten. Ihre Einführung schlägt in Bezug auf Gregorovius’ Hegel-Rezeption einen durchaus anderen Ton an (S. 14 f.; auch S. 155 f.; 169) als spätere Beiträge, die – v. a. in der Zusammenschau – zu differenzierteren Beurteilungen kommen (vgl. z. B. Baumeister, S. 84–88; Lach, S. 147). Man muss hier sicherlich zwischen einer starken hegelianischen Prägung einerseits und der Ablehnung eines dogmatischen Hegelianismus andererseits unterscheiden, wobei Gregorovius’ mitunter scharfen Absetzbewegungen von Hegel auch in ihrem jeweiligen Kontext zu lesen sind. Wer den Band als Nicht-Expert/in zur Hand nimmt, dem/der wäre als Einstieg in die Gesamtthematik vielleicht Baumeisters Studie zu Gregorovius’ Perspektive auf Katholizismus, Papsttum und Rom zu empfehlen: ein anspruchsvoller Text, dem gleichwohl das Kunststück glückt, einen wertvollen Forschungsbeitrag und zugleich eine gute Einführung in die Gedankenwelt des (national)liberalen Kulturprotestanten Gregorovius zu liefern.

Überhaupt gelingt es den verschiedenen Verfasser/innen häufig sehr gut, ihre Spezialstudien in allgemeine Reflexionen zu überführen, die auf Grundtendenzen des Gregorovius’schen Werkes verweisen. Dies ist insbesondere im ersten Teil der Fall, der gewissermaßen mit Patrick Bahners’ Aufsatz zur Villa Hadriana endet – ein weiterer Höhepunkt des Buches, der Gregorovius’ besondere historiographische Ästhetik unter anderem im unterschiedlichen Blick Gregorovius’ und Burckhardts auf die Ruine der Residenz herauszuarbeiten sucht. Hanno-Walter Kruft, selbst an der ersten Tagung in Rom beteiligt, hat seinerzeit darauf hingewiesen, dass „[d]ie ostpreußische Frühzeit und die späten Münchner Jahre“ außen vor geblieben seien.4 Bedauerlicherweise war das bei der Nachfolgetagung nicht sehr viel anders. Allerdings haben einzelne Autor/innen v. a. jene Frühzeit im Blick und so kommt die Bedeutung, die Gregorovius’ journalistische Tätigkeit in Königsberg, seine revolutionären Hoffnungen und die Enttäuschung über die gescheiterte(n) Revolution(en) von 1848 für seine weitere Entwicklung und seine Geschichtskonzeption hatten, gelegentlich zur Sprache (z. B. S. 15; 28 f.; 47; 76 f.).

Mit seinem Titel hat sich der Sammelband eine weitere Beschränkung auf das 19. Jahrhundert auferlegt. Studien zur späteren Gregorovius-Rezeption finden sich daher nicht.5 Ausdrückliche Würdigung findet lediglich die weitere Rezeption des problematischen Essays „Der Ghetto und die Juden in Rom“ aus dem Jahr 1853 (bei Wassilowsky, S. 98–102). Allerdings gibt es natürlich ein Bewusstsein dafür, dass die eigene Zeit die Perspektive auf den Gegenstand, hier Gregorovius, verändert. Markus Bernauer weist in einem Exkurs zur Hermeneutik sogar ausdrücklich auf die anhaltende bzw. neue Aktualität von Gregorovius’ Darstellung des Volkstribunen Cola di Rienzo hin – eine Aktualität, die sich ebenso aus den Totalitarismus-Erfahrungen des 20. Jahrhunderts wie aus „politischen Inszenierungen [der] Gegenwart“ speise (S. 131). Und Simon Strauß sieht eine gedankliche Nähe zu Hayden White, wenn er von Gregorovius’ Prinzip, auch auf Legenden zurückzugreifen und Quellen allgemein als „aktiv“ zu betrachten, spricht (S. 30). Obwohl Gregorovius’ Geschichtskonzeption auf „eine idealistisch-klassizistische Vorstellung“ (Steinsiek in der Einführung, S. 19) zurückgehen mag und die meisten Historiker heute den Anspruch, das mittelalterliche Rom gleichsam in seiner Totalität erzählerisch zu rekonstruieren, als ebenso naiv wie vermessen zurückweisen würden, weist Gregorovius’ Idee einer ganzheitlichen Kulturgeschichte über ihre Zeit hinaus. Sie ließe sich gewinnbringend nach ihrem Verhältnis zu kulturwissenschaftlichen Theorien und Methoden des 20. und 21. Jahrhunderts befragen, zumal Gregorovius sich nicht nur im Klaren über die Nicht-Identität von Rekonstruktion und historischer Wirklichkeit war, sondern offenbar auch den „Mehrwert“ (Bahners, S. 180) erkannt hat, der sich bei dieser Art Rekonstruktion ergeben kann.

Was die Leser/innenfreundlichkeit des Sammelbandes und seinen praktischen Nutzen v. a. für Expert/innen aus benachbarten Gebieten betrifft, ist in erster Linie das Fehlen eines Registers zu bedauern. Über ein gutes Register ließen sich, um nur ein paar Beispiele zu nennen, leicht die bereits erwähnten Ausführungen zur Geschichtsphilosophie – zur Bedeutung Hegels und teleologischer Konzeptionen bei Gregorovius – auffinden, verschiedene Passagen zu Burckhardt und Mommsen (die nicht nur in den ihnen gewidmeten Beiträgen thematisiert werden) oder zu Gregorovius’ Doktorvater Karl Rosenkranz (zu diesem recht ausführlich Bahners, S. 194–199). Aus Perspektive der Gregorovius-Forschung hätte man sich zwar manche thematische Ergänzung gewünscht, aber in der nun vorliegenden Gestalt bietet der Band eine schöne Melange aus fachkundigen Analysen, soliden Quellenstudien und Beiträgen, deren Aufnahme mehr oder weniger dem Feieranlass – dem Launch der digitalen Briefedition – geschuldet ist. Sympathisch ist, dass das Buch nicht den Eindruck zu erwecken sucht, alle gegenwärtigen Fragen beantworten zu können, sondern es sich vielmehr dem vornehmsten Ziel eines solchen Unternehmens verpflichtet zu fühlen scheint: zu neuen Fragestellungen und Forschungen anzuregen.

Anmerkungen:
1 Ferdinand Gregorovius, Poesie und Wissenschaft. Gesammelte deutsche und italienische Briefe, hrsg. von Angela Steinsiek, <https://gregorovius-edition.dhi-roma.it> (26.06.2023). Die Briefedition wird noch komplettiert.
2 Arnold Esch / Jens Petersen (Hrsg.), Ferdinand Gregorovius und Italien. Eine kritische Würdigung (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 78), Tübingen 1993.
3 Ferdinand Gregorovius, Briefe nach Königsberg. 1852–1891, hrsg. von Dominik Fugger und Nina Schlüter, München 2013; Ferdinand Gregorovius, Europa und die Revolution. Leitartikel 1848–1850, hrsg. von Dominik Fugger und Karsten Lorek, München 2017.
4 Vgl. Hanno-Walter Kruft, Der Historiker als Dichter. Zum 100. Todestag von Ferdinand Gregorovius. Öffentlicher Vortrag, gehalten am 2. Dezember 1991 (Bayerische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse: Sitzungsberichte; Jg. 1992, H. 2), München 1992, S. 3.
5 Vgl. zur literarischen Rezeption: Julia Illgner, Der Biograph Ferdinand Gregorovius und seine literarische Rezeption, in: Dominik Fugger (Hrsg.), Transformationen des Historischen. Geschichtserfahrung und Geschichtsschreibung bei Ferdinand Gregorovius, Tübingen 2015, S. 75–104; Karsten Lorek, Legendarische Wirklichkeit und erdichtete Geschichte. Überlegungen zur Gregorovius-Rezeption in Thomas Manns Gregorius-Roman Der Erwählte, in: Fugger (Hrsg.): Transformationen, S. 105–129.

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