In den vergangenen Jahren sind geistliche Akteure, insbesondere Bischöfe und Erzbischöfe, wieder verstärkt in den Fokus der mediävistischen Forschung gerückt, wobei sich der Mehrwert neuer Untersuchungsansätze zur Geschichte kirchlicher Amtsträger gezeigt hat. Die von Frank Engel vorgelegte Studie richtet nun am Beispiel Kölns den Blick auf Domherren und damit auf Inhaber hoher geistlicher Würden, die als Mitglieder des Domkapitels mit dem amtierenden Bischof interagierten und gemeinsam mit ihm die Entwicklung des Bistums maßgeblich prägten. Den Nutzen rechercheintensiver und deshalb aussagekräftiger Arbeiten zu mittelalterlichen Domkapiteln hat beispielsweise schon die wegweisende Untersuchung Gerhard Fouquets zu Speyer vorgeführt.1 Im Falle Kölns wurde der Forschungsstand der herausgehobenen Bedeutung des Kapitels als einer Institution, die an der Seite mächtiger geistlicher Kurfürsten wirkte und intensiv mit ihnen in Kontakt stand, bislang kaum gerecht: Sieht man von Ulrike Höroldts und Manfred Grotens Arbeiten zum Kölner Domkapitel ab2, so wurden die Domherren bislang vorrangig in Überblicksdarstellungen behandelt.
Diesem Mangel hilft Frank Engel ab, indem er das Kölner Domkapitel im äußerst langen, vielschichtigen Pontifikat des Erzbischofs Dietrich II. von Moers (1414–1463) beleuchtet. Anknüpfend an den von Ulrike Höroldt analysierten Zeitraum ist damit aufgrund der Quellenfülle exemplarisch eine aussagekräftige Teilperiode ausgewählt worden, die differenzierte Ergebnisse auch zu Entwicklungen und Parteibildungen innerhalb des Kapitels im Verlauf von fast fünf Jahrzehnten verspricht. Um die politischen Beziehungen des Kapitels und seinen Aktionsradius strukturiert untersuchen zu können, hat der Verfasser nach der Einleitung und einem Abschnitt zur „Verfassung und personellen Zusammensetzung“ der höchstens 72 Kanoniker zählenden Institution (S. 20) ein großes Hauptkapitel zu den „Außenbeziehungen“ der Domherren (ab S. 41) folgen lassen. In fünf untergeordneten Abschnitten werden diejenigen Akteure untersucht, mit denen die Kanoniker maßgeblich, aber in unterschiedlicher Intensität interagierten.
An erster Stelle wird berechtigterweise Erzbischof Dietrich von Moers behandelt, dessen langes Wirken und die darauf aufbauenden Beziehungen zu den Domherren in mehreren Abschnitten thematisiert werden. Im Fokus stehen neben der Wahl und Dietrichs Wahlkapitulation, die wohl erste eines Kölner Erzbischofs, die Zeit vor, während und nach der Zwischenkapitulation von 1446 einschließlich der Entwicklungen nach der Soester Fehde, die folgenden letzten Herrschaftsjahre des Erzbischofs sowie die wechselseitigen Bemühungen rund um die Regelung seiner Nachfolge. Die Beziehungen zwischen Kapitel und Kirchenfürst erscheinen somit als vielgestaltige Angelegenheit, die finanzielle, verfassungsrechtliche und herrschaftspolitische Fragen gleichermaßen umfasste.
Nach diesen umfangreichen Ausführungen sind die folgenden Abschnitte den Beziehungen des Domkapitels zu den zwölf alten, herausgehobenen Männerstiften der Stadt und des Erzbistums Köln, zur Stadt Köln an sich, wobei neben dem Rat auch die Universität behandelt wird, sowie zu den Herrschaftsträgern in Jülich, Berg, Heinsberg und in Kleve bzw. Mark gewidmet. Diese Analysen behandeln wesentliche Entwicklungen und Ereignisse, die für das Erzbistum Köln unter Dietrich II. von Moers prägend waren, beispielsweise die Soester Fehde und die zunehmende Verpfändungspraxis, und gehen im Fall der behandelten Stifte und Dynastien auf deren einzelne, herausgehobene Akteure, ihre Verflechtungen mit dem Domkapitel und die jeweils erkennbaren Agenden ein.
Die nachfolgende Zusammenfassung nimmt die Ergebnisse dieser Untersuchung auf, wobei sie ein schlüssiges Panorama unterschiedlicher Handlungen, Bemühungen und Ziele der Domherren aufspannt. Bemerkenswert ist der Wandel im Verhältnis zum Erzbischof, der im Vergleich der Wahlkapitulation von 1414 mit der 32 Jahre später ausgehandelten Zwischenkapitulation erkennbar ist und zusammen mit den weiteren Entwicklungen deutlich macht, dass das Domkapitel durchaus versuchte, die Handlungsmöglichkeiten seines Oberhirten auf dem Terrain der Finanzen und Besitzrechte einzuschränken, um die Entstehung dauerhafter Verpflichtungen zu verhindern. An den erzbischöflichen Aktivitäten in anderen Bereichen, etwa bei geistlichen Reformen und hinsichtlich des Konzils von Basel, nahmen dagegen, wenn überhaupt, bei weitem nicht alle Domherren aktiven Anteil, wohl aber an allen Fragen, die mit der Nachfolge Dietrichs verknüpft waren und teilweise noch von ihm selbst angestoßen wurden. Insgesamt scheinen die Kapitulare mit ihrem Drängen auf Beteiligung an richtungsweisenden Entscheidungen des Erzbischofs neben der Erfüllung der eigenen und der Interessen der Kölner Geistlichkeit „eine verantwortungsvollere Regierung“ des Erzbistums angestrebt zu haben (S. 367) – wenngleich sie damit die deutlich zunehmende Verschuldung nicht verhindern konnten. Die Beziehungen des Kapitels zu den zwölf alten Stiften der Diözese gestalteten sich unterschiedlich, wobei die Enge der Kontakte mit der Bedeutung der Stifte für die sich im Laufe der Zeit stellenden herrschaftspolitischen Fragen korrelierte. Hierbei wird deutlich, dass Ereignisse wie die Münsterische Stiftsfehde, die Soester Fehde und weitere regionale Konflikte nicht nur den Erzbischof betrafen, sondern auch einen erheblichen Einfluss auf die Kontakte des Domkapitels zum regionalen Umfeld hatten. Finanzielle Engpässe führten dazu, dass die Domherren den Oberhirten in der Auswahl unter anderem städtischer Gläubiger beraten mussten; auch die benachbarten, teils im Kapitel vertretenen, teils enge Beziehungen zu dieser Institution pflegenden Dynastien positionierten sich zwangsläufig zu diesen Ereignissen, was die Kräfteverhältnisse und Entscheidungsprozesse massiv beeinflussen konnte. Insgesamt kommt Frank Engel zu dem Schluss, dass das Domkapitel Dietrich von Moers in seinem ausgesprochen langen Pontifikat über weite Strecken in herrschaftlichen Fragen wie auch in der Akquise finanzieller Mittel klar unterstützte und daher mit ihm zusammen für diejenige Entwicklung verantwortlich war, die letztlich zur Aushandlung der Rheinischen Erblandesvereinigung im Frühjahr 1463 nach Dietrichs Tod führte.
Bereits an diesen kurzgefassten Ergebnissen klingt an, dass der Verfasser auf eine äußerst breite Quellen- und Literaturbasis zurückgreift. Es wurde eine Fülle von Archivbeständen durchgearbeitet, auch die herangezogenen gedruckten Quellen und die Forschungsliteratur decken das untersuchte Thema gut ab. Über das Repertorium Germanicum wurde zudem die vatikanische Überlieferung einbezogen, wobei vielleicht zu überlegen gewesen wäre, ob nicht auch einzelne Stücke im Original hätten eingesehen werden können. Die gesichtete Quellenüberlieferung ist aber, wie gesagt, äußerst breit und bestens geeignet, um das anspruchsvolle Thema in seiner Gänze abzudecken. Die Resultate der Studie sind schlüssig aufbereitet, auch insgesamt ist das Buch gut lesbar und mit einem Register erschlossen. Bei der Rezeption des Inhalts helfen im Anhang die Biogramme zu den Kölner Domherren im Zeitraum von 1414 bis 1463, die zu jedem Kanoniker die Lebensdaten, Hinweise zum Werdegang und eine Quellen- sowie Literaturauswahl enthalten. Zwar weist Frank Engel darauf hin, dass die Ausführungen „keine umfassende Prosopographie des Domkapitels für den Untersuchungszeitraum“ (S. 373) darstellen, aber als Einstieg in den Personenbestand sowie als Hilfe bei der Textlektüre leisten sie gute Dienste. Dies gilt auch für das ebenfalls im Anhang beigegebene Itinerar Dietrichs von Moers für fünf Stichjahre, das dabei hilft, die räumliche Relation des Oberhirten zum Kapitel einzuschätzen. Frank Engels Studie leistet somit einen sehr wichtigen Forschungsbeitrag zum Kölner Domkapitel, der aufzeigt, wie gewinnbringend Untersuchungsansätze zu den Kollegien der mittelalterlichen Domherren sein können und welche breiten Anknüpfungspunkte diese Forschungen zu kirchen-, dynastie- und regionalgeschichtlichen Fragestellungen haben.
Anmerkungen:
1 Gerhard Fouquet, Das Speyerer Domkapitel im späten Mittelalter (ca. 1350–1540). Adlige Freundschaft, fürstliche Patronage und päpstliche Klientel, 2 Bde. (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte 57), Mainz 1987.
2 Ulrike Höroldt, Studien zur politischen Stellung des Kölner Domkapitels zwischen Erzbischof, Stadt Köln und Territorialgewalten 1198–1332. Untersuchungen und Personallisten (Studien zur Kölner Kirchengeschichte 27), Siegburg 1994; Manfred Groten, Priorenkolleg und Domkapitel von Köln im Hohen Mittelalter. Zur Geschichte des kölnischen Erzstifts und Herzogtums (Rheinisches Archiv 109), Bonn 1980.