Unter dem Eindruck der Bologna-Reform und verschiedener PISA-Hiobsbotschaften wurde das Verhältnis von Wirtschaft und Bildung über einen längeren Zeitraum als eine Geschichte fortschreitender Ökonomisierung gelesen. Das Pädagogische, so der Tenor, als eigentlich autonomer und an humanistisch begründeten Zwecken orientierter Bereich, stehe unter Druck und werde fortschreitend ökonomischen Zwängen untergeordnet. Entsprechende Studien fokussierten häufig im Anschluss an die sozialwissenschaftliche Subjektivierungsforschung die Instrumentalisierung der Pädagogik für ökonomische Zwecke.1 Erst in den letzten Jahren haben sich sowohl die Geschichtswissenschaften als auch die historische Bildungsforschung vor dem Hintergrund einer neuerlichen Hinwendung zur (Kultur-)Geschichte der Arbeit ebenfalls wieder für die Geschichte der Berufsbildung und der Weiterbildung sowie – allgemeiner – für das Verhältnis von Wirtschaft und Bildung interessiert. Dazu beigetragen haben nicht zuletzt maßgebliche methodische Impulse aus der Schweiz.2
In diesem Kontext bewegt sich die vorliegende Monografie von Michael Geiss, die auf sein Habilitationsprojekt an der Universität Zürich zurückgeht. Aus der historischen Bildungsforschung kommend, dreht Geiss gängige Ökonomisierungsnarrative produktiv um, indem er nach dem Ort des Pädagogischen im Bereich der Wirtschaft fragt. Es geht ihm darum, wann, wie und von wem ökonomische Probleme pädagogisch gefasst wurden und mit pädagogischen Mitteln gelöst werden sollten, also um einen „unwahrscheinliche[n] Fall pädagogischer ‚Entgrenzung‘“ (S. 12). Konzeptionell ordnet der Autor sein Vorhaben in die Geschichte historischer Zukünfte ein. Er versteht dazu das Pädagogische als einen Modus des Umgangs mit Kontingenz im Wirtschaftsleben. Dieser Aspekt findet sich im Verlauf der Studie allerdings nur unsystematisch wieder. Als Untersuchungsgebiet dient ihm die Schweiz vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis etwa in die 1980er-Jahre. Als Untersuchungsgegenstände und Quellen nutzt er vor allem die Überlieferung des Zentralverbandes Schweizerischer Arbeitgeber-Organisationen, des Schweizerischen Handels- und Industrie-Vereins (Vorort), des Vereins Schweizerischer Maschinen-Industrieller sowie des Arbeitgeberverbands schweizerischer Maschinen- und Metallindustrieller. Die Gewerkschaften und deren Bildungsbemühungen klammert er aus. Die Studie läuft auf das Argument hinaus, dass Ökonomie und Bildung nicht in einer antagonistischen, sondern vielmehr in einer symbiotischen Beziehung zu lesen sind. Seine Befunde bündelt Geiss zu der These, dass „privatwirtschaftliche Bildungs- und Erziehungsambitionen tiefer mit der Kultur und Praxis kapitalistisch verfasster Gesellschaften verbunden sind, als man vielleicht auf den ersten Blick vermuten könnte“ (S. 35).
Das Spektrum der empirischen Ergebnisse liest sich beeindruckend und eröffnet ein breites Panorama auf die Wirtschafts- und Bildungsgeschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert. Chronologisch deckt Geiss eine immense Breite verschiedener Felder wirtschaftlichen Handelns ab. Zum Teil betrachtet er etablierte Themen des Verhältnisses von Wirtschaft und Bildung. In den Blick geraten zum Beispiel die Institutionalisierung der Lehrlingsausbildung ab dem späten 19. Jahrhundert, die Weiterbildung von Führungskräften ab der Zwischenkriegszeit oder der transatlantische Siegeszug der Business Schools in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Auch die Euphorie für Umschulungsprogramme in den Diskussionen um die „postindustrielle Gesellschaft“ der 1960er- und 1970er-Jahre wird analysiert. Durch seine detaillierte Analyse kann Geiss beispielsweise für die ebenfalls behandelte Rationalisierungsdiskussion der Zwischenkriegszeit mit weiterführenden Ergebnissen aufwarten. Er interpretiert den Rationalisierungsdiskurs als pädagogisches Projekt, das die wirtschaftlichen Probleme der Zwischenkriegszeit durch die Erziehung und (Selbst-)Bildung der Arbeitskräfte sowie des Leitungspersonals und der Unternehmensführungen zu bewältigen beabsichtigte. Rationalisierung, Effizienzdenken und die „Menschenführung“ der 1930er-Jahre, in denen die USA und das „Dritte Reich“ als Vorbild dienten, versteht Geiss als grundlegende pädagogisch-ökonomische Projekte zur Erneuerung der Schweizer Gesellschaft. Daneben geraten aber auch andere Bereiche in den Fokus wie die unternehmerische Sozialfürsorge, die Konsumerziehung in Form der Aktion „Schweizerwoche“, die ab 1917 zum Kauf Schweizer Produkte aufrief, oder die Frauenerwerbstätigkeit. Des Weiteren untersucht Geiss die Arbeit der Wirtschaftsverbände als Instrument zur Erziehung der Unternehmer oder auch die Genese des Informatikunterrichts. Über diese und weitere Felder entsteht ein facettenreiches Kaleidoskop der privatwirtschaftlich organisierten Bildungsanstrengungen im 20. Jahrhundert, das deren Breite und Vielseitigkeit illustriert. Geiss kann zeigen, dass ökonomische Konflikte in diesen Feldern im Modus des Pädagogischen ausgetragen wurden: von Auseinandersetzungen zwischen Industrie und Handwerk in der Industrialisierung über den Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit bis hin zur Frage nach den Grenzen staatlicher Forschungsförderungs- und Technologiepolitik in den 1970er-Jahren.
Allerdings geraten durch die an sich überzeugende Betonung der „Vielfalt“ (S. 350) der pädagogischen Maßnahmen übergreifende Perspektiven und längere Entwicklungslinien in den Hintergrund. Zwar beobachtet Geiss abschließend für das 20. Jahrhundert neben der hohen Bedeutung der internationalen Verflechtung einen Trend von Erziehungsansprüchen zu „eher kognitiv ausgerichteten Bildungs- und Wissensvorstellungen“ (S. 355). Ein spezifisches Feld, an dem er diese Entwicklung über das 20. Jahrhundert hinweg untersucht, bietet er in seiner Studie jedoch nicht an. So geraten Problematisierungen ökonomischer Phänomene im Modus des Pädagogischen im Moment ihres Auftretens in den Blick. Die weitere Entwicklung oder auch die Dethematisierung beziehungsweise die Grenzen des Pädagogischen treten allerdings in den Hintergrund. Es entsteht der Eindruck, das Pädagogische kontaminiere im Laufe des 20. Jahrhunderts immer mehr Felder des Wirtschaftens. Hier liegt zumindest die Frage nahe, ob es sich nicht eher um Thematisierungs- und Problematisierungskonjunkturen handelte, die mit Phasen beschleunigten wirtschaftlichen Wandels (etwa in den 1920er- und 1970er-Jahren) korrespondierten und darin eine mindestens europäische Dimension besaßen. Gleichzeitig stellt sich damit das Problem, wie sich das Pädagogische im Feld der Wirtschaft eigentlich bestimmen lässt. Geiss arbeitet etwa beispielhaft heraus, dass sich auch die Maßnahmen und Impulse zur Organisierung der Arbeitgeberschaft in Unternehmensverbänden, zumindest zeitweise, eines „pädagogische[n] Argumentarium[s]“ (S. 81) bedienten. Die Schlussfolgerung, korporatistische Formen der Wirtschaftsorganisation seit dem späten 19. Jahrhundert generell als pädagogische Maßnahme zu lesen (vgl. zum Beispiel S. 88, 149, 174), läuft allerdings Gefahr, die Sprache der Quellen zum Analysewerkzeug zu erheben. Diese Unschärfe trägt zur Entgrenzung des Untersuchungsgegenstandes bei. Der Begriff der „Pädagogischen Ambitionen“ fasst so alles – von der anthroposophischen Denkschrift zur Reform des Kapitalismus mit pädagogischen Mitteln (S. 239) bis zur Entwicklung und Finanzierung des Berufsbildungssystems und dessen Reformen. Hier hätte sich eine weitere Differenzierung angeboten, etwa über die Geschichte historischer Zukünfte und Zukunftsbezüge. Zugleich kann Geiss zeigen, dass das Spannungsfeld von Wirtschaft, Pädagogik und Zukunft ins Zentrum der korporatistischen Wirtschaftsorganisation der Schweiz im 20. Jahrhundert führt. Die Anrufung des Pädagogischen im Bereich der Wirtschaft berührte immer sehr rasch grundsätzliche Fragen der Organisation der Wirtschaft sowie der Zukunft der Arbeit. So holt Geiss die Geschichte des Verhältnisses von Wirtschaft und Bildung aus der Ecke der Institutionen-, Bildungsgang- und Ideengeschichte einzelner Pädagog:innen und interpretiert sie als zentrale Schnittstelle zwischen Wirtschaft und Gesellschaft.
Es ist ein wesentliches Verdienst der Studie, dass sie das Verhältnis von Pädagogik und Ökonomie nicht in einer Geschichte der Instrumentalisierung des einen durch den anderen vereinseitigt. Die methodisch weiterführende Perspektive, die Geiss anbietet, versteht beide Bereiche als unscharf voneinander getrennt und untrennbar ineinander verwoben – als ein Spannungsfeld wechselseitiger Bezugnahmen. Daraus ergaben sich im Laufe des 20. Jahrhunderts verschiedene institutionelle, organisatorische und rechtliche Konstellationen. Geiss‘ Arbeit schließt an eine ganze Reihe jüngerer Publikationen zur Geschichte von Arbeit und Bildung an, die lineare Ökonomisierungsnarrative in Frage stellen. Besonders konzeptionell ist der Arbeit auch in den Feldern der Geschichtswissenschaften, die sich mit dem Verhältnis von Arbeit und Bildung beschäftigen, eine breite Rezeption zu wünschen.
Anmerkungen:
1 Vgl. zum Beispiel Nico Hirrt, The Three Axes of School Merchandization, in: European Educational Research Journal 3 (2004), S. 442–453; Uwe H. Bittlingmayer, „Wissensgesellschaft“ als Wille und Vorstellung, Konstanz 2005, S. 199–261.
2 Vgl. zum Beispiel Brigitta Bernet / David Gugerli, Sputniks Resonanzen. Der Aufstieg der Humankapitaltheorie im Kalten Krieg – eine Argumentationsskizze, in: Historische Anthropologie 19 (2011), S. 433–446; Malte Bachem, Beruf und Persönlichkeit. Eine Geschichte von Stabilität und Flexibilität im 20. Jahrhundert, Diss. Zürich 2016, https://doi.org/10.3929/ethz-a-010606103 (14.03.2024).