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Titel
Politische Medizin. Das Ministerium für Gesundheitswesen der DDR 1950 bis 1970


Autor(en)
Braun, Jutta
Erschienen
Göttingen 2023: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
504 S., 59 Abb.
Preis
€ 42,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Trabalski, Forschungsbereich Bergbaugeschichte, Deutsches Bergbau-Museum Bochum

Jutta Brauns Studie zur Geschichte des Ministeriums für Gesundheitswesen der DDR reiht sich ein in die langjährige Konjunktur deutscher Behördenforschung, deren zäsuraler Fluchtpunkt das Jahr 1945 ist. Sie hebt sich jedoch dadurch ab, dass sie den deutschen Staat östlich des Eisernen Vorhangs in den Blick nimmt.

Den beiden deutschen Gesundheitsministerien war gemein, dass sie nach Gründung der Bundesrepublik respektive der DDR nicht auf eine Vorgängerorganisation aufbauten, sondern dass mit ihnen erstmals Ressorts auf höchster staatlicher Ebene für die Gesundheit der Bevölkerung geschaffen wurden. Brauns Darstellung der gesundheitspolitischen Bemühungen der DDR fällt so nüchtern aus wie ihr Urteil. Der Titel „Politische Medizin“ verbindet die breit gefächerten Themen ihres Buches dabei treffend, denn die gesellschaftlichen Ziele und das realpolitische Vorgehen waren im Gesundheitswesen der DDR von großer politischer Bedeutung und die Spannungen, die darin steckten, ziehen sich durch alle Kapitel.

Detailreich und mit großer Sorgfalt seziert Braun das DDR-Gesundheitswesen und legt bei der umfangreichen Beschau auch und insbesondere die Teile frei, deren Malaise schließlich zu den immer größer werdenden Widersprüchen im sozialistischen Alltag beitrug, die zwischen Anspruch und Wirklichkeit klaffte. Große Spannungen bestanden aber nicht zuletzt auch, wie Braun anhand zahlreicher Fallbeispiele insbesondere im Umgang mit ausgewiesenen medizinischen Kapazitäten verdeutlicht, zwischen Selbstbild und politischem Idealismus der SED und ihren begrenzten personellen wie wirtschaftlichen Mitteln, den hohen Ansprüchen an eine sozialistische Medizin zu genügen. Gerade im Bereich des Arbeitsschutzes zeigt sich der Konnex zwischen Gesundheit und Ökonomie, indem sich die Unversehrtheit der Arbeiter den Produktionszielen für die im Wettbewerb mit dem Westen stehende DDR-Planwirtschaft unterordnen musste.

Insgesamt gilt das öffentliche Gesundheitswesen dennoch als einer der wenigen Bereiche, in denen die DDR der Bundesrepublik in einer Art und Weise die Stirn bot, die nicht nur der SED-Führung Gewissheiten ihrer systemischen Überlegenheit lieferte, sondern die auch in der gegenwärtigen historischen Retrospektive einige achtbare Erfolge vorzuweisen hat. Insbesondere auf dem Gebiet der Infektionskrankheitenbekämpfung, die im sozialistischen Staat früh durch großangelegte Impfkampagnen vorangetrieben wurde, erwarb sich die DDR internationale Anerkennung. Auch das System der Polikliniken hatte als Gegenentwurf zum Modell der niedergelassenen Ärzte Strahlkraft. Doch hinter der intakten Fassade stützte morsches Gebälk das sozialistische Gesundheitswesen.

Der ungünstige Befund ist nicht grundsätzlich neu und fügt sich in das allgemeine Bild der DDR-Mangelwirtschaft, die beim dauerhaften Fehlen medizinischen Personals und in der lückenhaften Versorgung mit modernen Medikamenten spürbar war. Brauns Studie beleuchtet, ihrem Titel treu bleibend, vor allem die politische Sphäre und blickt auf den Umgang der SED-Parteieliten mit den realsozialistischen Unzulänglichkeiten. Dabei legt sie die eklatante Kluft zwischen der offiziellen Parteipropaganda und medizinischen Parallelversorgung für privilegierte Kader offen. Brauns Frage, ob es der DDR tatsächlich gelungen sei, durch die Einheitsversicherung, das Ende der berufsständischen Autonomie der Ärzteschaft, die Ausklammerung privater Profilinteressen und die zentrale Steuerung eine bessere und sozial gerechtere medizinische Grundversorgung zu gewährleisten, ist vor diesem Hintergrund eher als rhetorisch zu verstehen (S. 233f.), erklärt sie doch im selben Atemzug, dass in der „Klassen-Medizin“ der DDR das Gleichheitsversprechen regelmäßig durch politische Loyalitätskriterien ausgehebelt wurde.

Der Grundstein für diese Zersplitterung des DDR-Gesundheitswesens sei bereits 1953 durch den Beschluss der DDR-Führung gelegt worden, ein Regierungskrankenhaus für „führende Funktionäre“ zu schaffen. Aus Sicht des SED-Staats wichtige Berufsgruppen kamen in den Folgejahren ebenfalls in den Genuss einer Sonderversorgung durch exklusive Gesundheitseinrichtungen. Parallel dazu organisierte das Ministerium für Gesundheitswesen einen staatlichen Schmuggel öffentlich verfemter und offiziell vom Import ausgeschlossener Westmedikamente, um privilegierten Patienten eine bestmögliche Behandlung zu ermöglichen.

Auch in der Personalpolitik diagnostiziert Braun Spannungen zwischen Anspruch und Wirklichkeit, in denen sich im Zweifel politischer Pragmatismus oder Opportunismus durchsetzten. Besonders plastisch zeigt Braun diese Ambivalenz anhand des Umgangs mit „nützlichen Nationalsozialisten“, die auf ihren medizinischen Spezialgebieten äußerst ausgewiesen waren. Das Ministerium für Gesundheitswesen sei wegen anhaltender politischer Spannungen dauerhaft dysfunktional und von einem vergifteten Klima geprägt gewesen. Die Hausspitze sah sich bei Entscheidungsprozessen regelmäßig von mächtigen SED-Paladinen ausgebootet. So portraitiert Braun Luitpold Steidle, der die Spitze des Ministeriums als Erster übernahm (1950–1958), als „Minister ohne Macht“ (S. 62). Das Klima des Misstrauens habe zu zermürbenden „Konflikten um Herrschaftswissen und Handlungsstrategien“ geführt (S. 147).

Braun legt einen starken Fokus auf die individuellen Akteure im DDR-Gesundheitswesen. Der biografische Ansatz offenbart jedoch auch seine Nachteile. Zum einen kommt an mancher Stelle der Verdacht auf, dass biografische Einzelheiten von Akteuren eher der Vollständigkeit wegen Eingang gefunden haben, als dass sie zum allgemeinen Erkenntnisgewinn beitragen. Vor diesem Hintergrund wird zum anderen nicht immer klar, auf welchen gemeinsamen Fluchtpunkt die einzelnen Episoden ausgerichtet sind, besonders etwa bei in Kapitel II.1.5., das die durchaus zentralen Protagonisten Jenny Matern und Jenny Cohen behandelt, und Kapitel III.4. Bei der Lektüre der Kurzbiografien kommt zuweilen der Wunsch nach einem straffenden roten Faden auf.

In der zweiten Hälfte des Buchs referiert Braun vor allem die wichtigsten gesundheitspolitischen Handlungsfelder des Ministeriums und geht dabei auf seine Erfolge und Misserfolge ein. In der öffentlichen Erinnerung noch besonders präsent dürften die Impf-Programme in der DDR sein. Die DDR nahm den „Kampf gegen die Seuchen“ unter dem neuen Paradigma der Prophylaxe auf. Der DDR gelang bei der Tuberkulose bis 1957 auch ohne Impfpflicht eine Durchimpfungsquote von 80 Prozent, bei Neugeborenen sogar 99 Prozent. 1961 folgte schließlich doch eine Pflicht zur Impfung, um die Krankheit restlos zu beseitigen. Auch die Kampagnen gegen Kinderlähmung und Masern verbucht Braun als Erfolge der „staatlich-autoritären“ Impfpolitik der DDR (S. 277). Trotz der Pflicht zur Impfung gegen bestimmte Krankheiten seien die Sanktionen geringfügig gewesen. Die Pflicht wurde nicht mit Zwang durchgesetzt, womit sich die DDR der 1960er-Jahre in diesem Aspekt liberaler zeigte als die Bundesrepublik (S. 300).

Weniger bekannt sein dürfte die Epidemie der „Hongkong-Grippe“ in den Jahren 1968 bis 1970, die zu einem informatorischen und praktischen Chaos (S. 276) in der DDR geführt habe. Braun exemplifiziert daran das politische Spannungsverhältnis zwischen internen Sorgen um die Gefahren der Epidemie einerseits und der öffentlichen Beschwichtigungen gegenüber der DDR-Bevölkerung andererseits. Denn während die DDR-Presse alarmierend über die Opfer im (kapitalistischen) Ausland berichtete und den eigenen Staat und sein Gesundheitssystem als gut gewappnet sah, wurde im Frühjahr 1970 deutlich, dass das Ministerium für Gesundheitswesen die Immunitätslage in der eigenen Bevölkerung deutlich überschätzt hatte und die Verharmlosungsstrategie der SED sich durch ausweislich hohe Krankenstände und Engpässe im Gesundheitssystem rächte.

Die hohe propagandistische Bedeutung von Infektionskrankheiten wird auch an den (bewusst in Umlauf gebrachten) Verschwörungstheorien deutlich, die seit den 1950er-Jahren in der DDR kursierten. Dabei seien Ungeziefer-Legenden dominierend gewesen, nach denen westliche Staaten – allen voran die USA – biologische Waffen wie Bakterien oder „Pestflöhe“ einsetzten und etwa einen „Bakterienkrieg“ in Korea führten (S. 305).

Braun geht im letzten Viertel des Buches unter anderem näher auf den staatlichen Medikamentenschmuggel, die DDR-Arbeitsmedizin sowie die Strahlen- und Militärmedizin ein. Insbesondere bei der Arbeitsmedizin im „Arbeiterstaat“ zeigt sich deutlich, wie weit Anspruch und Wirklichkeit auseinanderlagen. Das erklärte Ziel war es, die Arbeiterschaft von den durch die industrielle Produktionsweise verursachten Leiden zu befreien. Die Malaise war der Kapitalismus selbst und ihr Heilmittel folglich der Sozialismus. Dieser Topos wurde jedoch durch den Primat der Produktionssteigerung unterlaufen. Außerdem lebte der Argwohn des Staates und der Betriebe gegenüber vermeintlichen Simulanten und krankfeiernden Bummlern fort. Der wachsende Modernisierungsrückstand der DDR und die damit verbundene wirtschaftliche Stagnation verhinderten, dass sich die Arbeitsbedingungen spürbar verbessern konnten (S. 385).

Der Schluss von Brauns in ihrer Breite und Dichte beeindruckenden Arbeit knüpft nahtlos an ihre Einleitung an und liefert Antworten auf die Warum- und Weshalb-Fragen. Die Erfolge sind dabei schnell erzählt und beschränken sich im Wesentlichen auf die Bemühungen der DDR gegen Infektionskrankheiten. Laut Braun griffen dabei das autoritäre, generalstabsmäßige Top-Down-Handeln und der hohe internationale Handlungsdruck durch Seuchen wie der Kinderlähmung und der Tuberkulose. In den meisten anderen Bereichen attestiert Braun der DDR zwar aufrichtige Bemühungen, insbesondere bei der Arbeitergesundheit, hält dabei aber die strukturellen Limitationen, nach den eigenen politischen Ansprüchen zu handeln, deutlich vor Augen. Der staatliche Medikamentenschmuggel im Schatten gleichzeitiger Importverbote westlicher Medizin, die Abschottung der militärischen Strahlenforschung gegenüber der zivilen Gesundheitsadministration sowie der opportunistische Umgang mit der politischen Vergangenheit wichtiger Funktionäre im Gesundheitssystem trüben das Gesamtbild, das Braun zeichnet, zusätzlich.

Jutta Braun hat in ihrer Studie bestehende Ergebnisse und extensive eigene empirische Forschung zu einem Großpanorama verdichtet, das kaum einen Aspekt der DDR-Gesundheitspolitik auslässt. Zugleich wirkt das Bild zuweilen verschwommen, weil der gemeinsame Fluchtpunkt seiner Bestandteile nicht vollständig klar wird. Dies ist der Kompromiss, den eine Arbeit eingeht, die zwischen den politischen Biografien einzelner Funktionäre bis hin zur Arbeitsschutzgesetzgebung kaum Leerstellen zulässt. Es zeigen sich aber auch immer wieder überraschende Querverbindungen zwischen verschiedenen Erzählsträngen. Die biografischen Episoden erweisen sich dadurch auch als bereichernd, weil die individuellen Geschicke und Missgeschicke die übergreifende Darstellung eines Politikfelds anschaulicher machen.

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