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Title
Stigma und Schweigen. NS-Zwangsarbeit aus sowjetischer Perspektive. Ein Beitrag zur Oral History


Author(s)
Rebstock, Grete
Series
Fokus. Neue Studien zur Geschichte Polens und Osteuropas
Published
Paderborn 2023: Brill / Schöningh
Extent
409 S.
Price
€ 99,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Gero Fedtke, Stiftung Gedenkstätten Sachsen-Anhalt, Gedenkstätte für die Opfer des KZ Langenstein-Zwieberge

Die Zwangsarbeit im von den Nationalsozialisten besetzten Europa war ein in Deutschland lange kaum wahrgenommenes Massenverbrechen. Erst die wesentlich durch Sammelklagen bewirkte Anerkennung der Verantwortung des deutschen Staates, die zu den Auszahlungen an ehemalige Zwangsarbeiter:innen durch die Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) ab dem Jahr 2000 führte, ermöglichte auch die Finanzierung größerer Forschungsprojekte. Dazu gehörte das Projekt „Dokumentation lebensgeschichtlicher Interviews mit ehemaligen Sklaven- und Zwangsarbeitern“, in dessen Rahmen 2005–2006 die Erinnerungen fast 600 ehemaliger Zwangsarbeiter:innen in 25 Sprachen gesammelt wurden. Sie sind, digitalisiert, transkribiert und übersetzt, über eine online-Plattform für Forschung und Bildung zugänglich.1

Grete Rebstock hat für ihre Dissertation die 56 Interviews untersucht, die auf dem Gebiet der Russischen Föderation geführt wurden und online zugänglich sind.2 Ihr Anliegen ist es, „die Interviews als biografische Sinnkonstruktionen im Kontext der (post-)sowjetischen Erinnerungskultur zu interpretieren“ (S. 15). Im Zentrum der Studie steht somit nicht die Zwangsarbeit selbst, sondern ihre Einordnung in die lebensgeschichtliche Erzählung, die die Interviewten mitteilten. In diesen wiederum will Rebstock die Prägungen sowjetischer und postsowjetischer Geschichte und Erinnerungskultur sichtbar machen. Denn die 56 Menschen wuchsen in der stalinistischen Sowjetunion auf und mussten nach dem Krieg in einer Gesellschaft und einem Staat leben, in dem sie unter dem Generalverdacht der Kollaboration standen und kaum offen über ihre Erlebnisse in der Kriegszeit sprechen konnten. Welchen Einfluss diese Bedingungen auf die lebensgeschichtlichen Erzählungen hatten, steht im Zentrum der Studie, prägnant im Titel ausgedrückt: „Stigma und Schweigen“.

Gegliedert ist die Arbeit in fünf Teile. Dem einleitenden Kapitel zu Fragestellung und Struktur des Buches folgt ein Abriss zu dem Interview-Archiv. Teil drei liefert als „Historische Einordnung“ Rahmeninformationen zur Geschichte der NS-Zwangsarbeit, der Repatriierung sowjetischer Zwangsarbeiter:innen sowie der sowjetischen Erinnerungspolitik der Nachkriegszeit. Der mit rund 300 Seiten mit Abstand umfangreichste vierte Teil ist der Analyse gewidmet. Dort stellt Rebstock zunächst ihre vier zentralen Analysekomponenten vor, die in fünf Unterkapiteln abgearbeitet werden. Ein zentrales Element ihrer Vorgehensweise ist die dichte Beschreibung. Sie lässt die Interviewten ausführlich zu Wort kommen. Hierin liegt bereits ein großes Verdienst der Studie. Aus den vielen Stunden Interviewmaterial und tausenden Seiten Transkripte, von Rebstock ausgewählt und thematisch sortiert, kann die Leser:in zentrale Aussagen der ehemaligen Zwangsarbeiter:innen unmittelbar nachvollziehen. Auch ihre Analysekategorien hat Rebstock „aus dem Material selbst“ herausgebildet (S. 75) und dabei an Theoriediskussionen verschiedener Fachrichtungen wie Ethnologie und Sozialwissenschaften angebunden. Hier hätte an etlichen Stellen der Arbeit eine Straffung und Präzisierung gut getan, wenn Rebstock Forschungsdiskussionen ausführlich referiert, den schließlich gewählten oder daraus entwickelten Ansatz aber nicht klar benennt.

Am besten gelingt Rebstock die Einlösung des eigenen Anspruchs im Abschnitt 4.5 „Gendersysteme und weibliche Handlungsspielräume“. Wie sie zurecht bemerkt, hat die Forschung zwar die zahlenmäßigen Dimensionen der Zwangsarbeit von Frauen aufgezeigt, daraus aber insbesondere für die zivilen Zwangsarbeiter:innen aus der Sowjetunion – in der überwiegenden Mehrzahl Frauen – kaum spezifische Forschungsfragen abgeleitet. Auch unter den Interviewten sind Frauen (37) klar die Mehrheit. Rebstock kann überzeugend herausarbeiten, wie Gendersysteme sowohl das Sprechen über Erinnerungen wie die Erinnerungen selbst und schließlich auch die Interviews prägen. So arbeitet sie beispielsweise die unterschiedlichen Dimensionen der Stigmatisierung heraus, die durch Zuschreibungen von Weiblichkeit und Männlichkeit bedingt waren (S. 80–86, S. 227–280). Weniger überzeugend sind jedoch die Kapitel zu diskursiven Prägungen (4.3 und 4.4), Emotion und Körper (4.6.) sowie Ressourcen und Resilienz (4.7). Rebstock führt jeweils eine Vielzahl von Analysebegriffen deskriptiv Literatur referierend ein und bringt viele Beispielzitate, deren Zuordnung zu den Analysekategorien oft undeutlich bleibt, und bei denen sie unter neuen Blickwinkeln wiederholt auf bereits bekannte Interviewzitate zurückgreift. Im jeweiligen Zwischenfazit bezieht sich Rebstock oft nur auf einen Teil der für das Kapitel eingeführten Analysekategorien und führt stattdessen neue Bezüge samt neuer Beispiele auf. Zu oft fehlt auch eine deutliche Unterscheidung von Kriegsgefangenen, zivilen Zwangsarbeiter:innen und KZ-Häftlingen.

Rebstocks Umgang mit den Interviews als Quellen und ihrer Entstehung ist uneindeutig. „Quellenkritik“ expliziert sie in einem eigenen Kapitel nur in Bezug auf die Interviewerinnen und die Durchführung der Interviews (4.2). An und für sich ist diese Analyse wichtig und richtig. Doch bleibt diese „Kritik“ im Deskriptiven stecken, etwa wenn Rebstock zahlreiche Beispiele für suggestives Fragen bis hin zur Reproduktion der Stigmatisierung aufzählt und benennt, die Leser:in aber im Unklaren lässt, was daraus folgt. Unklar bleibt vor allem, wie Rebstock die Interviews selbst als Quellen behandeln möchte. Im Umgang mit den von den Interviewten berichteten Episoden nimmt Rebstock diese mal als Faktum (ohne erkennbare Quellenkritik), mal als Narrativ. Nach welchen Kriterien dies jeweils erfolgt, konnte der Rezensent nicht erkennen. Sinnvoller wäre es gewesen, die Interviews als Zeugnisse im Sinne Sigrid Weigels zu behandeln, die Rebstock zwar rezipiert, aber ausgerechnet als Beleg für die Notwendigkeit ihrer „Quellenkritik“ heranzieht. Es hätte sehr gut in Rebstocks Ansatz der Untersuchung diskursiver Praktiken gepasst, die Interviews in Weigels Sinne als „Erinnerungsreden“ zu behandeln, die „jenseits des Gegensatzes von Fiktion und Faktizität situiert“ sind.3

Rebstock verweist völlig zu Recht auf die prägende Rolle der Stalinzeit für die Interviewten von Kindesbeinen an. Gerade in Bezug auf den Generalverdacht der Kollaboration und die Anforderung, sich einem Feind nicht zu ergeben, greift sie jedoch zu kurz. Diese Ursprünge der Stigmatisierung liegen nicht erst als Reaktion auf den deutschen Überfall im berühmten Befehl Nr. 270, sondern reichen bis in die Bürgerkriegszeit zurück und waren tief im sowjetischen Feinddenken verankert.4 Die Interviewten wuchsen mit diesem Denken auf und waren nicht erst während oder nach dem Krieg damit konfrontiert. Diese wesentliche Prägung fehlt in der Analyse. Eine ähnliche Lücke tut sich auch in Rebstocks Auseinandersetzung mit den neun Interviews derer auf, die nach dem Krieg im Gulag inhaftiert waren. Warum gerade neun von 56 Interviews „so aussagekräftig für die Erforschung von zentralen Fragen“ seien (S. 16), während „nur sechs“ Interviews überlebender Kriegsgefangener es lediglich gestatten, gerade die im Hinblick auf das Stigma zentrale Geschichte der Kriegsgefangenen „nur am Rande“ zu bearbeiten, konnte der Rezensent nicht nachvollziehen. Gleich für beides hätte sich exemplarisch ein präziserer Blick auf die Geschichte Lev Nettos gelohnt, der Kriegsgefangenschaft und GULag überlebte, dessen Aussagen Rebstock ausführlich zitiert und dessen Buch „Kljatva“ im Literaturverzeichnis aufgeführt wird. Wie so viele Zurückgekehrte geriet Netto nicht unmittelbar nach der Rückkehr aufgrund seiner Arbeit für die Deutschen unter Generalverdacht. Er wurde erst 1948 im Zuge der erneuten Repressionswelle und im Kontext des beginnenden Kalten Krieges unter dem Vorwurf der Spionage für die USA verhaftet, deren Truppen zahlreiche sowjetische Zwangsarbeiter:innen befreit hatten. Dies ist mitnichten ein vernachlässigbares Detail. Stattdessen erscheinen Auszüge aus Nettos Interview an verschiedenen Stellen als Beispiele unter vielen, was zusammen mit der unnötigen Anonymisierung zu „Lev N.“ eine besondere Persönlichkeit und ihre Geschichte einer angemessenen Würdigung beraubt.

Insgesamt gelingt es Grete Rebstock leider nicht, ihre vielen spannenden Fragen zu beantworten und ihre vielversprechenden interdisziplinär informierten methodischen Ansätze überzeugend zu operationalisieren. Zu oft bleibt die Auseinandersetzung mit der Theorie wie mit den Interviews im Deskriptiven stecken. Rebstock hat viele Fragen, kann aus diesen aber keine klaren Fragestellungen ableiten, weshalb auch ihr Fazit zu einer Aneinanderreihung von Zusammenfassungen, ausgewählten Beispielen und neuen Thesen gerät. Am Ende bleibt ein Flickenteppich – ein Bild entsteht nicht.

Anmerkungen:
1 Zwangsarbeit 1939–1945. Erinnerungen und Geschichte, https://www.zwangsarbeit-archiv.de (28.03.2024).
2 In wortwörtlich identischen Sätzen wird von zwei Rezensenten behauptet, Rebstock habe diese Interviews selbst geführt, obwohl sie sämtliche Interviewerinnen und die Interviewsituationen ausführlich vorstellt (S. 99–135): Ludger Heid, Lieber ins KZ als in den Gulag, in: Süddeutsche Zeitung, 22.09.2023, https://www.sueddeutsche.de/politik/sowjetische-zwangsarbeiter-stalin-hitler-putin-stigma-und-schweigen-grete-rebstock-rezension-1.6189884 (28.03.2024); Theodor Joseph, Grete Rebstock: Stigma und Schweigen – Ehemalige sowjetische NS-Zwangsarbeiter blicken zurück, in: Jüdische Rundschau 11 (111), 15.11.2023, https://juedischerundschau.de/article.2023-11.grete-rebstock-stigma-und-schweigen.html (28.03.2024).
3 Sigrid Weigel, Zeugnis und Zeugenschaft, Klage und Anklage. Die Geste des Bezeugens in der Differenz von identity politics, juristischem und historiographischem Diskurs, in: Zeugnis und Zeugenschaft. Jahrbuch des Einstein Forums 1999, Berlin 2000, S. 111–135, hier S. 116.
4 Christian Ganzer, Stalina dlinnaja ten'. Plen kak ključevaja problema istorigrafii oborony Brestskoj kreposti, in: Christian Ganzer / Ėduardovna Elenskaja / Elena Iosifovna Paškovič (Hrsg.), Brest, leto 1941 g. Dokumenty, materialy, fotografii, Smolensk 2016, S. 22–41.

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