Die traumatisierende Schockwelle, die nach dem Fall Konstantinopels am 29. Mai 1453 den lateinischen Westen ergriff, hatte weitreichende Auswirkungen auf das Bild, das man sich vom Eroberer, dem türkischen Sultan Mehmet II., machte. Eine in drastischer Gräuelrhetorik ausgemalte, auch dem Herrscher persönlich zugeschriebene Grausamkeit gipfelte in der Episode von der byzantinischen Kaisertochter, die der Sultan in der Siegesnacht vergewaltigt und nach verweigertem Übertritt zum Islam eigenhändig auf einer Madonnenstatue in der Hagia Sophia enthauptet haben soll.1 Die nun wieder aufflammende Kreuzzugspropaganda wurde nicht nur von charismatischen Predigern wie Giovanni da Capestrano OFM getragen, sondern vor allem von humanistischen Rhetorikvirtuosen, deren Zusammenstellung der gängigen Barbarentopoi auch nicht den Vorwurf ungebildeter Stumpfsinnigkeit ausließ: „Literas odit, humanitatis studia persequitur“, heißt es über Mehmet II. in der berühmten Frankfurter Reichstagsrede des Humanisten Enea Silvio Piccolomini.2
Beinahe gleichzeitig, und paradoxerweise von der gleichen intellektuellen Führungselite getragen, entstand ein in ähnlicher Weise überzeichnetes, ins überschwänglich Positive gewendetes Bild des türkischen Sultans als Förderer von Kunst und Wissenschaft, glühendem Bewunderer Alexanders des Großen und Caesars, Liebhaber und Bewahrer der antiken Literatur. Die ältere Forschung hat hierin im Wesentlichen eine Bewerbungsrhetorik arbeitssuchender Humanisten erkannt und die Gelehrsamkeit und das Anschlussinteresse des türkischen Sultans an die abendländische, insbesondere italienische Renaissancekultur stark relativiert.3
Demgegenüber unternimmt der aus einem internationalen Kolloquium zu Ehren des ehemaligen Leiters des Berliner Bode-Museums Arne Effenberger vom April 2007 hervorgegangene Band über „Sultan Mehmet II. Eroberer Konstantinopels – Patron der Künste“ den Versuch, die durch kontinuierliche militärische Expansion geprägte und im christlichen Abendland als traumatisierende Bedrohung erfahrene Regierungsphase Mehmets II. als eine Zeit kultureller Offenheit zum lateinischen Westen und den Sultan selbst als „humanistisch gebildete[n] Renaissancefürst[en]“ (S. 12, Einleitung der Hrsg.) zu charakterisieren und balanciert dabei auf einem schmalen Grat zwischen interdisziplinär-internationaler Forschung und einer sich dem Zeitgeist andienenden politischen Korrektheit.
Gleich zwei Beiträge befassen sich mit der griechischen Geschichtsschreibung und liefern ein wertvolles quellenkundliches Panorama der Epoche. Diether Roderich Reinsch (S. 15–40) stellt die vier bedeutendsten zeitgenössischen byzantinischen Chronisten vor und erörtert die jeweiligen Sichtweisen auf den türkischen Sultan. Die nach 1453 im Umfeld des Patriarchats von Konstantinopel fortexistierende christliche Geschichtsschreibung untersucht Peter Schreiner (S. 31–40). Das hierin aus zum Teil bislang unbekannten Quellen rekonstruierte positive Bild Mehmets II. dürfte wohl das gewichtigste Argument gegen die in der älteren Forschung vertretenen Positionen darstellen.
Die für die Zeit unmittelbar nach der Eroberung Konstantinopels charakteristischen Bau- und Raumordnungsinitiativen stehen im Mittelpunkt zweier weiterer Beiträge. Ömür Bakirer (S. 41–57) stellt schwer zugängliche Stiftungsurkunden in Regestform zusammen und verdeutlicht hieran die systematische urbanistische Umorganisation der eroberten Stadt, die vor allem von Zwangsumsiedlungen und großangelegten Bauprojekten geprägt war. Dass die Architekten der Epoche durchaus auch auf byzantinische Vorbilder zurückgriffen, zeigt Hubertus Günther (S. 93–118) vor allem anhand der als dynastische Grablege konzipierten Mehmet-Moschee (Mehmet Fatih Camii). Im Gegensatz zur abendländischen Renaissancearchitektur sieht der Autor in dieser „osmanischen Renaissance“ eine wesentlich offenere Antikentransformation nach vorgefundenen traditionellen Mustern.
Die westliche Sicht auf die türkische Eroberung wird vor allem durch Bildanalysen repräsentiert. Von hohem Symbolwert für die Präsenz westlicher Künstler und Gelehrter am osmanischen Hof ist die Reise des venezianischen Malers Gentile Bellini nach Konstantinopel (1479–81). Jürg Meyer zur Capellen (S. 139–160) untersucht anhand der in dieser Zeit entstandenen Bildnisse Bellinis die Verschmelzung von orientalischen Motiven und perspektivischer Darstellung und identifiziert die zahlreichen erhaltenen ganzfigurigen Zeichnungen als Kostümstudien. Ulrich Rehm (S. 161–176) sieht allein am kreuzzugseuphorisierten burgundischen Hof einen leisen und letztlich wirkungslosen politischen Appell gegen die Türkenherrschaft im Bildprogramm von Handschriftenminiaturen realisiert, während sich die übrigen abendländischen Fürsten recht schnell mit der Eroberung abgefunden hätten. Einer bislang wenig beachteten westlichen Stimme verschafft Hubertus Günther Gehör (S. 93–138). Der zeitweise in türkischen Diensten stehende Geschützgießer Jörg von Nürnberg betrachtet Mehmet II. als unehrlich, unzuverlässig und cholerisch, hebt aber die üppige Besoldung hervor.
Die in der Forschung umstrittenen intellektuellen Neigungen Mehmets II. untersucht Michael Rogers (S. 77–92) anhand einer Zusammenstellung von Handschriften, die am osmanischen Hof kopiert wurden. Die unsystematische Büchersammlung naturwissenschaftlicher Texte weist hierbei eine starke Konzentration auf geografische, medizinische und militärtechnische Literatur auf. Zwei militärgeschichtliche Beiträge markieren auch den Schluss des Bandes. Michael Greenhalgh (S. 177–210) macht plausibel, dass das weitgehende Fehlen antiker Monumente im Umfeld Konstantinopels vor allem auf eine besondere Form der Spoliierung zurückzuführen ist: Marmorne Altertümer wurden massenhaft zu Wurfgeschossen und Geschützkugeln verarbeitet und gegen die Mauern Konstantinopels geschleudert. Auf den ersten Blick kurios wirken die physikalischen Berechnungen der Dimensionen der berühmten Riesenkanone des Geschützgießers Urban, anhand derer Neslihan Asutay-Effenberger (S. 211–225) die in der zeitgenössischen Geschichtsschreibung enthaltenen Maßangaben überprüft.4
Insgesamt zeichnet der Band ein differenzierteres und wesentlich positiveres Bild von der Regierungszeit Mehmets II. als die bisherige westliche Forschung, wobei allerdings weitgehend auf eine konfrontative Auseinandersetzung mit älteren Positionen und eine Einordnung der Ergebnisse in den Forschungsstand verzichtet wird. Dies wäre wohl Aufgabe einer Zusammenfassung gewesen, die dem schön gestalteten und reich illustrierten Band ebenso wie ein Register leider fehlt.
Anmerkungen:
1 Zu dieser bei Mathieu d’Escouchy kolportierten Geschichte vgl. Erich Meuthen, Der Fall von Konstantinopel und der lateinische Westen, in: Historische Zeitschrift 237 (1983), S. 1–35, hier S. 6.
2 Siehe dazu Meuthen, Fall von Konstantinopel, S. 7; Johannes Helmrath, Pius II. und die Türken, in: Bodo Guthmüller / Wilhelm Kühlmann (Hrsg.), Europa und die Türken in der Renaissance, Tübingen 2000, S. 79–137, hier S. 105. Eine kritische Neuedition der Rede ‚Constantinopolitana clades‘ steht unmittelbar vor dem Abschluss: Johannes Helmrath (Ed.), Deutsche Reichstagsakten. Ältere Reihe, Bd. 19/2, Nr. 67.
3 Siehe dazu das noch immer unverzichtbare Werk von Franz Babinger, Mehmet der Eroberer und seine Zeit. Weltenstürmer einer Zeitenwende, 2. Aufl. München 1958 (1. Aufl. 1953); zu benutzen in der um Anmerkungen erweiterten und aktualisierten englischen Übersetzung: Mehmed the Conqueror and his Time, ed. by William Hickman, 2. Aufl. Princeton 1992 (1. Aufl. 1978), hier S. 409–432. Deutlicher ausformuliert ist die These bei Franz Babinger, Maometto il Conquistatore e gli umanisti in Italia, in: Venezia e l’Oriente fra il tardo medioevo e Rinascimento, a cura di Agostino Pertusi, Firenze 1966, S. 433–449, hier S. 435: „La sola cosa che Maometto II avesse in comune coi principi italiani del suo tempo, era la sua crudeltà e lo sfruttamento dei suoi cooperatori, ma ciò non basta per dichiararlo uomo rinascementale.” Siehe auch und bei Christos G. Patrinelis, Mehmed II the conqueror and his presumed knowledge of Greek and Latin, in: Viator 2 (1971), S. 349–354.
4 Ähnliche Berechnungen bereits bei: Agostino Pertusi, La caduta di Costantinopoli, Bd. 1: Le testimonianze dei contemporanei, Milano 1976, S. XXII. Die Nachvollziehbarkeit der auf zwei Seiten ausgeführte Berechnung wird durch das Abweichen von physikalischen Konventionen erschwert. Statt von der Dichte spricht die Autorin vom „spezifischen Gewicht“, dessen Einheit mit g statt g/cm³ angegeben wird, wodurch die Einheitenrechnung fehlerhaft wird.