Titel
Alltag und Lebenswelt von heimatlosen Armen. Eine Mikrostudie über die Insassinnen und Insassen des westfälischen Landarmenhauses Benninghausen (1844-1891)


Autor(en)
Lerche, Eva-Maria
Reihe
Beiträge zur Volkskultur in Nordwestdeutschland 113
Erschienen
Münster 2009: Waxmann Verlag
Anzahl Seiten
460 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christina Vanja, Fachbereich „Archiv, Gedenkstätten, Historische Sammlungen“ des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen

Im Vergleich zu Mittelalter und Früher Neuzeit ist die Armutsgeschichte des 19. Jahrhunderts bislang wenig erforscht. Dass jedoch gerade in dieser Zeit wesentliche Grundlagen für den modernen Sozialstaat geschaffen wurden, zeigt nun überzeugend Eva-Maria Lerche in ihrer DFG-geförderten Münsteraner Dissertation für Westfalen. Im Zentrum der Studie steht die Landarmenanstalt Benninghausen bei Lippstadt, die von 1844 bis 1891 bestand. Lerche geht jedoch über diesen Fokus deutlich hinaus, indem sie den Wandel im Umgang mit Armut und den Armen zwischen Allgemeinem Landrecht (1794) und Deutschem Kaiserreich übergreifend aus den Aktenbeständen der Provinzialverwaltung (Archiv des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe) herausarbeitet. Darin spiegeln sich insbesondere die anhaltenden politischen Konflikte zwischen den Gemeinden bzw. der provinzialen Selbstverwaltung und dem preußischen Staat. Die Kommunen waren traditionell für diejenigen Armen zuständig, welche durch Geburt im Ort Heimatrecht besaßen. Deren Zahl blieb zumindest in ländlichen Regionen übersichtlich, die einzelnen Hilfsbedürftigen waren zumeist gut bekannt. Urbanisierung und Industrialisierung zogen jedoch insbesondere seit der Jahrhundertmitte eine wachsende und im Sinne wirtschaftlicher Prosperität auch gewünschte Mobilität der Bevölkerung nach sich, zu der die herkömmliche Armenordnung nicht mehr passte. Ziel des modernen Staates musste es daher sein, wie Lerche plausibel herausarbeitet, das Heimatrecht am Geburtsort durch ein Armenrecht am Wohnort abzulösen. Die nach und nach einsetzenden Veränderungen erfolgten durch Verhandlungen. Eines der Angebote, welche der Staat nach dem Gesetz über die Niederlassungsfreiheit von 1842 den Gemeinden machte, war die Errichtung eines provinzialen Landarmenhauses.

Das Landarmenhaus sollte für Westfalen zentral im ehemaligen Zisterzienserkloster Benninghausen eingerichtet werden. Hier wurden ab 1844, wie später auch in anderen preußischen Provinzen, diejenigen unverschuldet in Armut geratenen Menschen versorgt, durch deren Unterhaltung die Gemeinden überfordert waren. Der Typ des Landarmenhauses ist demnach aus der Zeit heraus zu verstehen. Er sollte sich allgemein allerdings als nicht sehr erfolgreich erweisen. Dies scheint damit zusammenzuhängen, dass sich das neue Anstaltswesen des 19. Jahrhunderts gerade durch Spezialisierung und Professionalisierung auszeichnete, die Landarmenanstalt aber ohne eigentliches Programm einer sehr divergenten Klientel aus Kranken, Behinderten und älteren Arbeitslosen gerecht werden musste. Der Vergleich mit den älteren Hospitälern liegt nahe; zum einen fehlt jedoch beim Landarmenhaus der christlich-karitative Zusammenhang; zum anderen wurden offensichtlich alle preußischen Landarmenhäuser, so auch in Benninghausen, mit Korrektionsanstalten verbunden. Diese Arbeitshäuser, die teilweise erst nach 1960 aufgelöst werden sollten, dienten der Resozialisierung von Straftätern. Auch wenn es sich vielfach um aus heutiger Sicht harmlose Delikte wie Landstreicherei handelte, standen diese Institutionen dennoch im Konnex mit dem Strafsystem und waren durch einen harten Zwangsarbeitstag bestimmt. Diese negative Konnotation musste sich auch auf das Ansehen des zugeordneten Landarmenhauses auswirken.

Welche Menschen in das Landarmenhaus kamen, wie sie versorgt wurden und wie sie dem Hause auch wieder den Rücken zukehren konnten, schildert Lerche eingehend. Die Volkskundlerin versteht diese Untersuchung als Mikrostudie; aus Sicht der Rezensentin ist eine derartige Qualifizierung für die Untersuchung der zentralen Landarmenanstalt in Westfalen jedoch eigentlich nicht notwendig. Es verwundert eher, dass sozialgeschichtliche Darstellungen über das 19. Jahrhundert bislang ohne Kenntnis der Landarmenanstalten auszukommen schienen. Detailliert zeichnet Lerche Wege der Bedürftigen nach. Körperliche Krankheiten, Sinnesbehinderungen, psychische Leiden, Alkoholismus, uneheliche Schwangerschaften, Invalidität und Altersschwäche verbunden mit Migration begründeten für Landarme ohne Unterstützungswohnsitz zumeist den Aufenthalt im Armenhaus. Diese Gruppe der Landarmen, die durch einige Ortsarme ergänzt wurde, zeichnete sich entsprechend durch höheres Alter, Kränklichkeit und damit durch weitgehende Arbeitsunfähigkeit aus. Das im Vergleich zum Arbeitshaus sowieso milde Anstaltsreglement konnte auf diesem Hintergrund nur eine geringe disziplinarische Wirkung besitzen. Medizin und Seelsorge im Nebenamt angeboten waren neben Nahrung, Kleidung und Unterbringung Teil einer Allgemeinversorgung. Die Aufsicht über die rund 70 Insassen führten ganz wenige Angestellte.

Wie in allen Anstalten dieser Zeit wurden im Landarmenhaus Außenkontakte der Insassen überwacht und negative Briefe aussortiert. Trotzdem gelang es vielen, wie Lerche zeigen kann, Kontakte zu Verwandten und Bekannten zum Teil auf illegalen Wegen zu pflegen. Einer dieser Briefe illustriert den Buchumschlag: Er kam, da unfrankiert, vom Adressaten zurück und wurde der Anstaltsakte zugefügt. Für nicht wenige alte und kranke Hilfsbedürftige wurde Benninghausen zum Sterbeort. Einige Armhausbewohner hielten es nicht aus und verließen die Anstalt ohne Entlassungsschein. Sie gingen damit ihres Versorgungsanspruches verlustig. Die insgesamt teure institutionelle Unterbringung von Armen lag allerdings auch nicht im Interesse der Armenverwaltung. Deshalb ist es verständlich, dass Alternativen geprüft wurden, zum Beispiel eine private Unterbringung bei Verwandten oder Pflegefamilien. Diese Ansätze einer dezentralen Sozialhilfe sollten schließlich in Westfalen wie andernorts den Weg in das 20. Jahrhundert weisen.

Mit ihrer gut geschriebenen Studie hat Eva-Maria Lerche auf bisher weitgehend unbearbeitete Aspekte der Armengeschichte verwiesen. Sie hat plausible Erklärungen für die Einrichtung von Landarmenhäusern ebenso wie für deren Wiederauflösung aus den Diskussionen des 19. Jahrhunderts um Sozialhilfe und Mobilität heraus zusammengestellt. Schließlich ist sie detailliert auf die Lebensschicksale der Armen eingegangen; diese erscheinen bei ihr zu Recht nicht nur als Opfer der Verwaltung, sondern als Menschen, welche ihre Gestaltungsräume nutzten und die Anstalt ihrerseits in eine eigene Überlebensökonomie einbezogen. Insbesondere kann Lerche die herkömmliche Betonung des disziplinarischen Charakters von Armenanstalten durch Hinweis auf den Versorgungscharakter des Landarmenhauses ein Stück weit relativieren und differenzieren. Für die Zukunft ist auf vergleichende Untersuchungen und deren Einbeziehung in den Diskurs um Armut und Staatlichkeit im 19. und 20. Jahrhundert zu hoffen.