Cover
Titel
Die unentschiedene Macht. Verfassungsgeschichte der Europäischen Union, 1948–2007


Autor(en)
Schorkopf, Frank
Erschienen
Göttingen 2023: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
381 S., 19 SW-Abb.
Preis
€ 65,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Franke, Universität Siegen

„Verfassung“ – ein Reizwort der europäischen Integrationsgeschichte – steht im Mittelpunkt des hier zu besprechenden Werks „Die unentschiedene Macht“, mit dem der Göttinger Rechtswissenschaftler Frank Schorkopf eine Verfassungsgeschichte einer politischen Union vorlegt, die eigentlich keine Verfassung besitzen darf. Schorkopf zeichnet auf knapp 300 Seiten die Diskussion um Verfasstheit der Europäischen Union von den ersten Verhandlungen über die europäische Einigung im Jahr 1948 bis zum endgültigen Scheitern des Verfassungsentwurfs des Europäischen Konvents im Jahr 2007 nach. Es geht dabei immer auch um die Auslotung der Akzeptanzgrenzen einer neuen Form europäischer Staatlichkeit im Spannungsfeld von rechtlichen Normen und politischer Praxis. So sehr der Verfassungsentwurf im Mai/Juni 2005 durch die Voten in Frankreich und den Niederlanden einkassiert wurde, deren Bürger der EU die staatsrechtliche Qualität eines Verfassungsgebildes verwehrten, so sehr mühten sich die Staats- und Regierungschefs – vor allem die deutsche Ratspräsidentschaft unter Kanzlerin Angela Merkel im ersten Halbjahr 2007 – darum, den Verfassungsentwurf in seiner Substanz zu erhalten. Es ging wie bei den beiden zuvor gescheiterten Verfassungsentwürfen der Europäischen Politischen Gemeinschaft und des Europäischen Parlaments in den 1950er- und frühen 1980er-Jahren darum, den „plebiszitär durchgefallenen Vertrag“ durch einen Abschied von konstitutioneller Symbolik, Sprache und Struktur zu erhalten. Dass auf diesem Weg auch der Vertrag von Lissabon im Dezember 2007 verabschiedet werden konnte, erklärt Schorkopf mit einem etablierten Erfolgsrezept des europäischen Integrationsprojekts, welches schon in den 1950er-Jahren die Unterzeichnung der Römischen Verträge überhaupt erst ermöglicht hatte: Indem die Verträge der Gemeinschaft offen formuliert wurden und immer wieder mehrdeutige Interpretation der Vertragsartikel und Rechtskategorien zuließen, konnten Befürworter wie Gegner einer europäischen Verfassung aus ihnen jeweils ihre eigene Position ablesen. Oder anders ausgedrückt: Was für eine Rechtsqualität die EU und ihre Vorgänger tatsächlich besaßen, blieb bewusst „unentschieden“.

Warum dann eine Verfassungsgeschichte eines politischen Gebildes, dass keine Verfassung hat und auch keine haben darf? Frank Schorkopf führt eine ganze Reihe von Gründen an, warum er sich explizit an einem Reizwort der europäischen Integrationsgeschichte abarbeitet und der EU damit implizit genau jene umstrittene Qualität zuspricht. Er geht sogar noch einen Schritt weiter und erhebt sogar den Anspruch, „die erste wissenschaftlich fundierte Gesamtdarstellung einer Verfassungsgeschichte des organisierten Europas für die zweite Hälfte des 20 Jahrhunderts“ (S. 19) vorzulegen. Nicht nur – so das Argument des Verfassers – hat sich die Gemeinschaft früh daran gemacht, eigene autonome politische Entscheidungen zu treffen und den Primat des Gemeinschaftsrechts vor dem nationalen Recht etabliert. Sie hat eben auch die Verfassungsstruktur ihrer Mitgliedsstaaten transformiert und diesen so allmählich ihre konstitutionelle Autorität weitgehend genommen. Indem die Konstrukteure der Gemeinschaft, die drei Denkströmungen (Konstitutionalisten, Gouvernementalisten und Pragmatiker) zugeordnet werden, implizit einen Bauplan für die Gemeinschaft verwendeten, der sich an Elementen nationaler „Verfassungsstaatlichkeit“ wie dem Mehrheitsprinzip oder der Wahl des Parlaments orientierten, veränderten sie genau diese Elemente in den Mitgliedsstaaten und deren Verfassungen. So sehr die EU dabei zu einer Gemeinschaft „sui generis“ wurde, so sehr wurden ihre Mitglieder souveräne Nationalstaaten „sui generis“, die sich – wie keine anderen Staaten der Erde – unter eine supranationale Legislative wie Exekutive einordneten. Insofern geht das Werk auch von der These aus, dass „nach sechs Jahrzehnten europäischer Einigung […] durch das Neben- und Miteinander von drei Denkströmungen im organisierten Europa eine politische Ordnung entstanden [ist], in der die Frage konstitutioneller Autorität unentschieden ist. Sie verharrt nicht in der berühmten bündischen Souveränität oder beruht dauerhaft auf ‚geteilter Souveränität‘.“ (S. 16)

Das Werk „Die unentschiedene Großmacht“ untergliedert sich in drei Teile und sechzehn Kapitel. Die Struktur ist eine gelungene Mischung aus Chronologie und Systematik entlang thematischer Schwerpunkte. Die chronologische Gliederung folgt weitgehend einem Narrativ, dass aus der politischen Geschichte der Gemeinschaft durchaus bekannt ist. Der erste Teil – das Ringen um Supranationalität (1948–1969) – umfasst die Aufbauphase der ersten Gemeinschaften sowie deren Krisenjahre in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre. Der zweite Teil – die Suche nach Identität (1969–1984) – fasst eine ambivalente Phase zusammen: Einerseits hatten die Mitgliedstaaten der EG mit den Folgen des wirtschaftsstrukturellen Wandels zu kämpfen und konzentrierten sich auf sich selber. Andererseits erweiterten der Europäische Gerichtshof, die Stärkung des Parlaments (Direktwahl) und die zweite „relance europeènne“ die Rechtsqualität der Gemeinschaft und ihren Gestaltungsanspruch enorm. Der dritte Teil – der Sprung in die Union (1985–2007) – thematisiert die dynamischste Phase des Integrationsprozesses, in welcher die Europäische Gemeinschaft eine Erweiterung und Vertiefung ihrer Zusammenarbeit vornahm, in deren Folge erneut die Frage nach einer Gemeinschaftsverfassung aufgeworfen wurde, die dann der europäische „Verfassungskonvent“ zwischen Februar 2002 und Juli 2003 ausarbeitete. Jede der drei Phasen ist entsprechend ihren verfassungshistorischen Schwerpunkten untergliedert.

Frank Schorkopf legt mit seinem Werk „Die unentschiedene Macht“ eine dicht geschriebene Verfassungsgeschichte der Europäischen Union vor, die sich nicht auf die Rechtsgeschichte im engeren Sinne beschränkt, sondern Perspektiven der Politikgeschichte, der internationalen Geschichte oder auch der Bürokratiegeschichte in eine weitgefasste Konzeption von Verfassungsgeschichte einfließen lässt. Diese Neuperspektivierung macht das Werk einerseits für eine breite Leserschaft zugänglich, andererseits sind einige der Argumente, Gedankengänge und dargestellten Inhalte – vor allem in den beiden ersten Teilen – für den Kenner der europäischen Integrationsgeschichte nicht wirklich neu. Nicht wenige der thematisierten Entwicklungen, Entscheidungen und Interpretationen des europäischen Einigungsprozesses sind hinlänglich bekannt und vielfach bearbeitet worden. Ob lediglich Bekanntes in einem anderen Licht präsentiert wird oder die verfassungsgeschichtliche Perspektivierung tatsächliche Blindstellen ausleuchtet, hängt aber letztlich wohl von der Perspektive und dem Erkenntnisinteresse des Lesers (wie auch des Rezensenten) ab. Überdies gilt es zu betonen, dass diese Kritik explizit nicht für den dritten Teil und die Verfassungsentwicklung von der Einheitlichen Europäischen Akte bis hin zum Lissabon Vertrag gilt. Hier betritt das Werk tatsächliches Neuland und behandelt einen Zeitabschnitt der (Verfassungs-)Geschichte der EU, dem die historische Forschung zur europäischen Integration (auch wegen archivarischer Sperrfristen) bisher zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat.

Alles in allem ist das von Frank Schorkopf verfasste Werk „Die unentschiedene Macht“ ein äußerst lesenswertes Buch zur Verfassungsgeschichte der Europäischen Union, das Historiker wie Rechtswissenschaftler gleichermaßen zu inspirieren vermag.