Was zu den komplexen Merkmalen einer „sozialistischen Stadt“ im östlichen Europa zählt, hat Herausgeber Thomas Bohn in seinem Vorwort zusammengefasst. Sie lassen sich auf die folgenden Punkte komprimieren: generelle Urbanisierung bei gleichzeitiger Ruralisierung der Stadt, Auswirkungen von Kriegszerstörungen auf urbane Bauformen, antibürgerliche Ideologie, Industrialisierung und Binnenmigration, Repräsentationsraum und Privatisierung, Multikulturalität und -religiosität. Diese oft in sich widersprüchlichen Charakteristika von Stadt im Sowjetsystem stehen einer nicht eindeutig definierbaren „europäischen Stadt“ gegenüber, lassen es aber zu, den Systemunterschied auch in seiner Auswirkung auf die städtische Lebenswelt genauer zu untersuchen. Die Spannweite der Wahrnehmung dieser Differenz kann auf der einen Seite bis zu der These reichen, dass im Sowjetsystem (auch aufgrund der zur westeuropäischen Geschichte der Stadt differenten historischen Entwicklung vor 1917) „Stadt“ eigentlich nicht existierte. Auf der anderen Seite gibt es die Meinung, dass sowohl im Westen wie im Osten das entscheidende Paradigma der urbanen Entwicklung die Modernisierung darstellte, die im Ergebnis kaum signifikante äußere Unterschiede produziert habe, zumal ein Großteil der als „sowjetisch“ bezeichneten Städte trotz des Versuchs eigenständiger Entwicklung Teil einer von europäischer Geschichte geprägten Landschaft blieb.
Gegen letztere Argumentation richtet der Giessener Sozialhistoriker Friedrich Lenger seine differenzierten Überlegungen zu den Leerstellen der Urbanisierungsforschung nach dem Abflauen des Industrialisierungsparadigmas, wobei er Defizite insbesondere in der Betrachtung der signifikanten Unterschiede zwischen Nord- und Südeuropa konstatiert sowie auf die Tatsache aufmerksam macht, dass „wir über die demografische, die wirtschaftliche und die soziale Entwicklung des europäischen Städtewesens nach dem Ersten Weltkrieg nur wenig [wissen].“ (S. 26) Er mahnt eine stärkere Fokussierung auf gesamteuropäische Forschungen zur Agglomerationstendenz sowie eine kritische Hinterfragung des Öffentlichkeitsparadigmas als mögliche thematische Schneisen an.
Die Leipziger Kunsthistorikerin Michaela Marek erweitert den theoretischen Rahmen hin auf die Bedeutung des Raumes für die Entwicklung der Städte in Osteuropa. Unter der Voraussetzung einer „sozialistischen“ Stadtphilosophie stelle gerade die Frage nach dem Umgang mit den alten historischen Teilen der Städte einen interessanten Kontrast zur Erforschung von Neubauvierteln dar. Die vom Weltkrieg unversehrten Teile der Altstädte bildeten nicht nur ideologisch eine städtebauliche Herausforderung, wie Marek am Beispiel Prags darlegt. Auch andere Beiträge des Bandes greifen den Umgang mit noch vorhandenen Formen der „Altstadt“ auf. Er steht im Zentrum der vergleichenden Studie von Agnieszka Zabłocka-Kos über die schlesischen Städte Legnica (Liegnitz) und Glogów (Glogau). Der Vergleich bietet sich an, da in Legnica eine erhaltene städtische Struktur komplett beseitigt wurde, um ein neues Stadtzentrum zu realisieren, während in Glogów versucht wurde, eine verlorengegangene historische Architektur neu aufzubauen. Im Fall Legnica spielten akademische Lehrmeinungen eine besondere Rolle, die einerseits sozialistische Stadtplanung als Anpassung an die neuen sozialen Gegebenheiten der zur Industriestadt erhobenen Ortschaft propagierten und zugleich der historistisch geprägten Altstadt Legnicas den Status des erhaltungswürdigen Bestands absprachen. Hervorgehoben wird, dass es insbesondere auch der Einfluss der westlichen Moderne war, der die jüngeren Architekten in Interpretation Le Corbusiers und der Charta von Athen (1934) für den Umbau des Zentrums einnahm. Einen weiteren entscheidenden Aspekt stellte die Anwesenheit hoher Kommandostrukturen der Roten Armee in Legnica dar, die „vorbildliche sozialistische“ Architektur dem verfallenden mittelalterlichen Stadtkern vorzogen. Ganz anders in Glogów: Die wegen ihres Festungscharakters während des Zweiten Weltkrieges und durch den anschließenden Verfall zerstörte Stadt hatte zwar in den 1960er-Jahren Reste der Altstadt abgerissen, aber bald darauf den Entschluss gefasst, ähnlich wie andere polnische Städte die Innenstadt im Stile der historischen Bebauung wieder zu errichten. Dabei spielten sowohl die Ablehnung der modernen Architektur eine Rolle als auch seit den 1980er-Jahren der politische Einfluss der Gewerkschaftsbewegung „Solidarność“, die aus zivilgesellschaftlicher Perspektive die „sozialistische Stadt“ vehement kritisierte. Gegen Ende der kommunistischen Herrschaft und danach wurden die ersten historisierenden, „postmodern“ wirkenden Plattenbauten auf dem Straßenplan des Mittelalters errichtet.
Der Aufsatz von Herausgeber Thomas Bohn 1 verfolgt am Beispiel weißrussischer Städte einen strikt sozialökonomischen Ansatz: Steigende Industrieproduktion, Migration, die Folgen demographischer Katastrophen (stalinistischer Terror, Weltkrieg, die Vernichtung der jüdischen Stadtbevölkerung, Zwangskollektivierung) und das Atomkraftwerkunglück von Černobyl geben den Hintergrund ab, vor dem er mit Zahlendiagrammen und Tabellen die Industrialisierung des vorher vor allem kleinbäuerlichen Landes nach dem Zweiten Weltkrieg illustriert. Dennoch bleibt gegenüber der in den einführenden Kapiteln skizzierten Vielfalt der theoretischen Fragestellungen das Bild einseitig auf Industrialisierungsprozesse seit den 1960er-Jahren fokussiert. Sozialistische Städte waren demnach Anhängsel großer Industriebetriebe, die Städte Belorusslands blieben aber, wie die Abbildungen dokumentieren, von ruralen Formen bestimmt, „Verstädterung ging auf Kosten von Urbanität“ (S. 71).
Den sozialökonomischen Ansatz erweiternd, geht der Beitrag der Erfurter Osteuropahistorikerin Dagmara Jajeśniak-Quast im Vergleich dreier Städte zurück auf die enge Verbindung von „sozialistischer Stadt“ und Industrieansiedlung. Eisenhüttenstadt (DDR), Kraków-Nowa Huta (Polen) und Ostrava-Kunčice (Tschechoslowakei) entstanden in den für das Paradigma von der „sozialistischen Stadt“ außerhalb der Sowjetunion entscheidenden 1950er-Jahren als Wohnsiedlungen für die Beschäftigten in den jeweiligen Hüttenkombinaten. Bei deren Bau griffen die Architekten auf unterschiedliche nationale Vorbilder zurück. Es gab aber auch eine kaum zu übersehende Beeinflussung „sozialistischer“ Stadtplanung und Architektur durch die sich im Westen durchsetzende Moderne - wie vice versa „viele US-amerikanische und westeuropäische Architekten der 1930er Jahre Anhänger der sozialistischen Städteplanung [waren]“ (S.100).
Intensiv mit der Titelfrage des Bandes setzt sich Felix Ackermann auseinander, wenn er mit der bis zum Zweiten Weltkrieg zu Polen, dann zur Belorussischen Sowjetrepublik gehörenden Stadt Grodno und ihrer Bevölkerungsentwicklung noch einmal ein weißrussisches Beispiel unter die Lupe nimmt. Für Ackermann stellt sich die Frage, wie die vergleichsweise unproblematische Sowjetisierung vonstatten gehen konnte und er kommt zu der Antwort, dass es trotz des Verbots, Dörfer oder Kolchosen zu verlassen, vor allem die auch von Bohn thematisierte Binnenmigration war, die die Bauern aus eigenem Antrieb zu Stadtbewohnern machte. Die Anpassungsleistungen der Neuankömmlinge sieht Ackermann als von dem Wunsch beflügelt, in der Stadt mit ihren modernen Standards zu leben und das Dorf hinter sich zu lassen – mithin ist der Begriff der „Ruralisierung der Stadt“ nicht eindeutig zu fassen. Im Ergebnis hält er fest, dass man „die Sowjetisierung Westweißrusslands in den Kontext einer nachholenden Modernisierung einordnen [kann]. Die dabei auftretenden Erscheinungen sind sehr spezifisch, aber das Raster der Veränderung ist dem anderer, weiter im Westen gelegener Städte ähnlich. […] die 'sozialistische Stadt' [ist] nur eine Sonderform der 'europäischen Stadt', nicht ihr Gegenbild.“ (S. 359)
Mit der Denkmalslandschaft sozialistischer Städte beschäftigt sich Jan Musekamp am Beispiel des polischen Stettin; Carsten Brüggemann untersucht am Beispiel des estnischen Narva, das durch die Kriegshandlungen fast völlig vom Erdboden verschwundenen war, bauliche Mängel und die Vernachlässigung von Infrastruktur und Freizeitangeboten in der neuen industrialisierten Stadt. Monika Stromberger diskutiert am Beispiel des jugoslawischen Ljubljana die Entwicklung des „sozialistischen Umbaus“ nach dem Zweiten Weltkrieg im Kontext des Bewusstseins, auch „europäische“ bzw. „mitteleuropäische“ Stadt zu sein und damit zwischen „Osten“ und „Westen“ zu stehen.
Eine originelle Aneignung des Themas „sozialistische“ und/versus „europäische“ Stadt bietet der Aufsatz der Bamberger Soziologin Heike Delitz zur Dresdener Prager Straße und der dort realisierten „extraterrestrischen“ Architektur zweier Kinogebäude. Die Autorin betrachtet die „europäische“ Stadt als „bürgerliche“, die „sozialistische“ als „nicht bürgerliche“, wobei das Imaginäre dieser Gesellschaften mit „Trennung öffentlicher und privater Räume, städtebaulicher Dichte und architektonische[r] Präsenz der Generationen“ bzw. „Minimierung des privaten Raums zugunsten der kollektiven Lebensweise, eine städtebauliche Ausdehnung und den architektonischen Bruch mit der Geschichte“ (S. 249f.) skizziert wird. Für die Gestaltung der Prager Straße sieht Delitz die Harmonisierungsversuche von Mensch und Kosmos in der sowjetischen Avantgardekunst als maßgeblich an. Plastisch wird dieser utopische Wille in der Anlehnung an Le Corbusier. Höhepunkt solcher Planungen war 1972 die Errichtung des auffälligen Rundkinos, das als kosmonautisches Objekt so etwas wie das geheime Kraftzentrum „sozialistischer“ Gesellschaftsutopie dargestellt habe. Entsprechend fiel es mitsamt der „sozialistischen“ Stadt nach 1989 der aus dem Westen importierten städtebaulichen Kritik anheim. Deren zwiespältige Restitution liest Delitz dem Bau des exzentrisch schwebenden, nach einem auf die Erde gestürzten Weltraumfahrzeug aussehenden „Ufa-Kristall-Palastes“ des österreichischen Architektenbüros „Coop Himmelb(l)au“ von 1998 ab. Eine Lektüre, die in dem Bau nun aber dekonstruktivistisch die Kontingzerfahrung und das Prekäre der bürgerlichen Stadt erkennt. Delitz' dialektischer und aktualisierender Text gibt einen frischen Blick auf das Thema frei.
In das „Herz“ der „sozialistischen Stadt“, die Plattenbausiedlung, begibt sich die Münchner Stadtsoziologin Alma von der Hagen-Demszky mit ihrem Beitrag über „Reichenfeld“. Entgegen häufiger Konnotation der „Platte“ mit Verfall, sozialen Schwierigkeiten oder Leerstand gilt dieser Teil Budapests als eine gehobene Wohngegend. Gezeigt wird, dass die frühe sozialistische Baupolitik zwar auch in Ungarn an der Umgestaltung sozialer Verhaltensweisen orientiert war, „Reichenfeld“ jedoch als Ergebnis einer sich bereits in den 1980er-Jahren verändernden ungarischen Wohnbaupolitik anzusehen ist, die neue Siedlungen nach drei Kategorien entwarf: 1. soziale Mietwohnungen (mit häufiger Unterbringung von Roma-Familien), 2. Wohnungsbaugenossenschaften mit der Möglichkeit, Teil-Eigentümer der Wohnung zu werden und 3. zum Kauf freigegebene Wohnungen. „Reichenfeld“ gehörte zu letzterer Kategorie und bewahrte sich sein hohes Prestige als „grüne“ Siedlung. In der subjektiven Sicht der Bewohner, die die empirische Basis der Studie darstellt, war der Bezug der Wohnung in der Plattenbausiedlung ein entscheidendes Merkmal der Modernisierung, das auch in der jeweiligen Biographie einen hohen Stellenwert einnimmt. In den neuen deutschen Bundesländern stehen Plattenbausiedlungen heute für das Schrumpfen der Städte. Diesem allgemeinem Phänomen gehen Annett Steinführer und Annegret Haase mit Gewinn für die grundlegende Fragestellung des Bandes nach. Für die Zeit nach der Wende von 1989 konstatieren sie für die ostmitteleuropäischen Ländern einen jähen Geburtenrückgang, dessen Interpretation als Einschwenken auf „europäische“ Tendenzen seit den 1960er-Jahren in der Demographie stark umstritten ist und noch näherer Untersuchungen bedarf.
Bei aller kaum zu vermeidenden Disparität der Aufsatzssammlung bieten vor allem die direkt auf das Titelthema bezogenen Beiträge wichtige Analysen und Überlegungen zur Frage, ob die Städte der Sowjetunion und des Sowjetsystems in (Mittel)Osteuropa gleichsam aus der europäischen Geschichte heraus fielen, um sich neu zu erfinden.2 Eine generelle Antwort fällt nach der Lektüre schwer, da die Kriterien für eine „sozialistische“ Stadt uneinheitlich verwendet werden. Ob weitere Beispiele – etwa aus Rumänien, dem Baltikum und der Ukraine – die Vielfalt der Varianten noch deutlicher zeigen und die Herausarbeitung eines einheitlicheren Kerns von den Visionen und Realitäten „sozialistischer“ Städte befördern können, bleibt abzuwarten.
Anmerkungen:
1 Thomas M. Bohn, Minsk. Musterstadt des Sozialismus. Stadtplanung und Urbanisierung in der Sowjetunion nach 1945. Köln 2008, vgl. auch die Rezension von Tanja Penter für H-Soz-u-Kult, 09.04.2010, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2010-2-026> (08.06.2010).
2 Historisch weiter zurück blickend: Andreas R. Hofmann / Anna Veronika Wendland (Hrsg.), Stadt und Öffentlichkeit in Osteuropa. Beiträge zur Entstehung moderner Urbanität zwischen Berlin, Charkiv, Tallin und Triest, Stuttgart 2002.