Titel
Warum weint der König?. Eine Kritik des mediävistischen Panritualismus


Autor(en)
Dinzelbacher, Peter
Anzahl Seiten
138 S.
Preis
€ 25,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Robert Gramsch, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Historisches Institut

Das hier anzuzeigende Werk ist einem in der mediävistischen Literatur keineswegs mehr allzu zahlreich vertretenen Genre zuzurechnen, den Streitschriften: Der Münsteraner Mediävist Gerd Althoff wird in ihm zur Zielscheibe der Polemik seitens seines nicht minder bekannten Kollegen, des Wiener Religions- und Mentalitätshistorikers Peter Dinzelbacher. Hat dies das Zeug zu einem Grundsatzstreit, wie ihn einst Althoff selbst in seiner Kritik an Johannes Fried zu entfachen versuchte?

Immerhin steht hier eine nicht unwichtige Forschungsrichtung der neueren deutschen Mediävistik auf dem Prüfstand – die Ritualforschung, deren durch großzügige SFB-Förderung noch gesteigerte Dynamik offenbar alarmierend auf andere Forscher wirkt. „Panritualismus“ sieht Dinzelbacher hier heraufziehen, und dies ist erkennbar (ab)wertend gemeint. „Wenn Verhaltensweisen, die so gut als spontane Äußerungen dokumentiert sind, in der historischen Interpretation zu willentlich vorgeführten Kommunikationssymbolen reduziert werden, wird dies gravierenden Einfluß auf unser Mittelalterbild überhaupt haben“, warnt er (S. 70f.).

Worum geht es?

Dinzelbacher nimmt sich in dem ersten der beiden Traktate des Buches eines Phänomens an, welches des Öfteren durch Althoff behandelt worden ist: des in der Öffentlichkeit weinenden Königs. In unserer heutigen politischen und überhaupt öffentlichen Kommunikationskultur erscheint dieses Verhalten weitgehend als ein Unding 1 und auch im Mittelalter forderte öffentliches Weinen häufig den Vorwurf von „Schwächlichkeit“ heraus (S. 57ff.). Sind entsprechende, in der Historiographie geschilderte Szenen mithin als Zeichen für die plötzliche Übermannung des Herrschers durch seine Gefühle oder aber als dem Mittelalter eigentümliche, machiavellistisch kalkulierte, symbolische Kommunikationsakte zu verstehen? Kurz zusammengefasst lässt sich feststellen, dass Dinzelbacher zu ersterer, Althoff zu letzterer Ansicht tendiert.

Nach Gerd Althoff gehörte das Vergießen von Tränen zu jenen in der Regel vorher genauestens abgesprochenen und inszenierten „Aufführungen“, aus denen politische Kommunikation im Mittelalter (weitgehend) bestand. Weinen ist hier rituelles Handeln und kann deshalb keineswegs im Sinne der Eliasschen Theorie vom Zivilisationsprozess als Zeichen für die geringere Affektkontrolle des mittelalterlichen Menschen aufgefasst werden. Auch im Weinen blieb der König „Realpolitiker“.

Was Dinzelbacher an dieser Position abstößt, ist die Schlussfolgerung, es hätte nach Althoff „Dynastien heulender Könige“ geben müssen, „die ihren Prinzen beibrachten, dass dies ein nützlicher Trick bei politischen Verhandlungen war“ (S. 66). Das ist in der Tat eine absurde Vorstellung. Die Frage ist nur, ob Dinzelbachers Polemik zutreffend ist, dass Althoff einen derart krassen, alle historischen Vorgänge auf pure Zweckrationalität reduzierenden „Panritualismus“ vertritt.

Es steht einem Rezensenten nicht an, in einem solchen Streit zwischen zwei Altmeistern der Zunft den Schiedsrichter spielen zu wollen. Einige Beobachtungen zu Dinzelbachers Argumentationstechnik seien hier aber dennoch mitgeteilt.

Betrachten wir die Beispiele aus Althoffs Oeuvre, aus denen Dinzelbacher seine polemische conclusio destilliert, zeigt sich, dass Althoff seinen allgemein bekannten Ansatz, ungeschriebene „Spielregeln“ mittelalterlicher Politik aufzuzeigen, keineswegs überzieht. Besonders deutlich wird dies bei seiner Darstellung der Königskrönung Konrads II. 2: Dass dem König hier nacheinander ein Bauer, eine Waise und eine Witwe entgegentreten, denen der König zu ihrem Recht verhilft, MUSS vorher abgesprochen worden sein. Also ist es sehr gut möglich, dass auch die darauf folgende Versöhnung mit dem „edlen Herrn Otto“, die der König auf die Predigt Erzbischofs Aribos hin unter Tränen gewährte, schon vorher im Grundsatz geklärt worden war. Dies waren „Inszenierungen, deren Einzelakte zuvor genau festgelegt waren“, um Konrads Herrschertugenden zu erweisen. Eine „Überrumpelung“ des Herrschers bei einer solchen Gelegenheit wäre hingegen sehr untunlich gewesen.3

Dinzelbacher hingegen konstruiert Absurditäten an Beispielen, die Althoff selbst nie gewählt hat: „Wollte man den von Althoff aufgestellten Spielregeln folgen […]“ (S. 27); „Wenn man das nach den Althoff’schen Regeln analysiert […]“ (S. 32). Damit aber überdehnt er die Reichweite der „politischen Spielregeln“ in einer Weise, wie Althoff dies, soweit ich sehe, nicht getan hat, auch wenn dieser in manchen Formulierungen missverständlichen Allaussagen gefährlich nahe kommt (so das „immer“, welches Dinzelbacher in einem Zitat auf S. 22 eigens kursiv gesetzt hat).

Althoff behauptet nirgends, dass „ein demonstrativer Tränenausbruch zuvor insgeheim vereinbart worden sei“, wie Dinzelbacher unterstellt (S. 22). Tränen haben sich freilich im Zuge der „Inszenierung“ tatsächlich eingestellt. An dieser Stelle nun ließe sich Althoffs Ansatz mit den Überlegungen Dinzelbachers zur öffentlich werdenden Emotionalität des mittelalterlichen Menschen sinnvoll ergänzen: Warum sollten einem König nicht auch im Zuge eines ganz „zweckrationalen“ politischen Aktes die Tränen kommen? In einer Kultur, die einem solchen Verhalten (mit einigen Einschränkungen) prinzipiell positiv gegenüberstand – wofür Dinzelbacher gute Argumente liefert –, konnten sich Gemütswallungen angesichts verletzter Ehre, Enttäuschung, Mitleid und dergleichen durchaus auch in öffentlich geweinten Tränen äußern. Vor Gericht passiert auch heute noch oft genug dasselbe.

Weiterführend und zwischen den Extremen vermittelnd hat dies vor einigen Jahren Klaus Schreiner formuliert: „Gesinnung, Ausdrucksverhalten und politische Zweckrationalität gehen […] eine [in den Quellen] ununterscheidbare Verbindung ein. Zwischen authentischen und manipulierten Gefühlen zu unterscheiden erübrigt sich allerdings, wenn man von der Annahme ausgeht, dass menschliches Leben nichts anderes als inszeniertes Theater ist, das jeder sich selbst, anderen und – sofern er sich als bußfertiger Sünder fühlt – auch Gott vorspielt.“4 Dies mag zuletzt ein wenig weit gehen, aber wer wollte bestreiten, dass auch ganz echte Gefühle in ihrer öffentlichen Zurschaustellung mit Theatralik einiges zu tun haben können?

Dinzelbachers Diskussionsbeitrag, der sich auch wenig freundlicher wissenschaftssoziologischer Metaargumente bedient (S. 67), erweist sich somit als eine das Problem überzeichnende Streitschrift, die sich freilich anregend liest, nützliche Warnschilder aufstellt und für fremdartige mittelalterliche Mentalitäten sensibilisiert.

Der zweite Traktat des Buches über „Heilrituale im Mittelalter“ wird von Dinzelbacher in denselben Zusammenhang eingeordnet, ohne ein gleichermaßen klar identifiziertes „Feindbild“ aufzuweisen. Sein Ergebnis, „die Bedeutung von rituellem Verhalten in der […] Heilkunde des Mittelalters nur in jenem beschränkten Maß zu gewichten, der von den Aussagen der Quellen gedeckt wird“ (S. 133), dürfte denn auch weniger Anlass zur Diskussion geben als seine Attacke gegen Fachkollegen, die ihm offenbar (S. 70) als etwas zu verstörend-dominant im Fach erscheinen.

Anmerkungen:
1 Vgl. etwa Ulrich Kropiunigg, ‚Indianer weinen nicht‘. Über die Unterdrückung der Tränen in unserer Kultur, München 2003.
2 Gerd Althoff, Demonstration und Inszenierung. Spielregeln der Kommunikation in mittelalterlicher Öffentlichkeit, in: Frühmittelalterliche Studien 27 (1993), S. 27-50, hier: S. 31ff.
3 Ebda., S. 33 und S. 43.
4 Klaus Schreiner, ‚Brot der Tränen‘. Emotionale Ausdrucksformen monastischer Spiritualität, in: Klaus Ridder / Otto Langer (Hrsg.), Körperinszenierungen in mittelalterlicher Literatur, Berlin 2002, S. 193-248, hier: S. 240.