Cover
Titel
Von der Ordnung zur Norm. Statuten in Mittelalter und Früher Neuzeit


Herausgeber
Drossbach, Gisela
Erschienen
Paderborn 2010: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
385 S.
Preis
€ 78,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Steffen Schlinker, Institut für Rechtsgeschichte, Universität Würzburg

Im hohen Mittelalter vermittelte die Rezeption des römischen Rechts neue Denkmodelle für das Verhältnis zwischen dem Herrscher und dem Recht, die auf Dauer die Herrschaftspraxis beeinflusst und die Staatsbildung gefördert haben. Das Gesetz als schriftlich niedergelegte Norm eröffnete Gestaltungsmöglichkeiten, die nicht nur Kaiser, Papst, Städte und Fürsten zu nutzen verstanden. Eine Vielzahl geistlicher und weltlicher Gemeinschaften setzte sich in Form der Statuten selbst Normen zur Regelung ihrer eigenen Angelegenheiten. Den Statuten ganz unterschiedlicher geistlicher und weltlicher Institutionen widmet sich der vorliegende Tagungsband und leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Gesetzgebungsgeschichte in der Zeit vom hohen Mittelalter bis hinein in die frühe Neuzeit.

Auf den entscheidenden Zusammenhang zwischen dem seit dem 12. Jahrhundert rezipierten römischen Recht und der Gesetzgebung weisen einleitend die Beiträge von Peter Landau und Kenneth Pennington eindrucksvoll hin. Glänzend gelingt es Peter Landau in seinem konzentrierten Beitrag über die Wiederentdeckung der Gesetzgebung im 12. Jahrhundert den geistigen Aufbruch der frühen Rezeptionszeit durch Beispiele päpstlicher, kaiserlicher und städtischer Gesetzgebung zu illustrieren. Kenneth Pennington lenkt sodann den Blick auf die handelnden Personen und hebt in seinem profunden Beitrag das hohe Niveau und die enorme Bedeutung der Bologneser Juristen für das Rechtsleben hervor. Insbesondere kann er den Einfluss des Prozessrechtstraktats von Bulgarus auf die Kompilation der Statuten Rogers II. von Sizilien und die prozessrechtlichen Abschnitte des Dekrets Gratians in den 1130er-Jahren überzeugend dartun. Die Praxisferne der Glossatoren, die Robert Gibbs in seinem Beitrag über illuminierte Handschriften behauptet, dürfte damit jedenfalls für das prozessuale Schrifttum widerlegt sein.

In einer Reihe von Beiträgen wird das Statut als Organisationsnorm menschlicher Gemeinschaften thematisiert. Ursula Vones-Liebenstein widmet sich auf der Basis tiefgründigen Quellenstudiums der rechtlichen Ausgestaltung einer Augustiner-Chorherren-Gemeinschaft. Die Regeln der Mönchs- und Stiftsherrengemeinschaften haben exemplarischen Charakter für die Gestaltung menschlichen Zusammenlebens durch das Recht. Sie sind vor allem für die spätere Entwicklung des Gesellschaftsrechts von großer Bedeutung, weil sie Vorschriften über die Organbildung, Vertretung, Wahl, Aufgabenverteilung und Verhaltenspflichten enthalten. Diese rechtliche Dimension hätte allerdings intensiver beleuchtet werden können. Dass die Revision der Statuten regelmäßig das Ziel hatte, eine Übereinstimmung mit der veränderten Praxis herbeizuführen, kann William J. Courtenay am Beispiel der Universität von Paris demonstrieren. Jürgen Sarnowsky schildert anschaulich, wie die Aufgabenerweiterung der geistlichen Ritterorden zur Festigung ihrer Struktur beitrug und eine stetige Ausdifferenzierung der zunächst einfachen Ordensregeln nach sich zog.

Die Beiträge von Anna Esposito und Thomas Frank sind der Funktion und dem Inhalt von Bruderschaftsstatuten gewidmet. Frank weist auf die Verbindung zwischen dem gelehrten Recht und den Bruderschaften hin, die als universitates Gegenstand juristischer Reflexion waren. Juristisch präzise arbeitet er die Grundsätze der Statutenlehre der spätmittelalterlichen Jurisprudenz heraus und nimmt überzeugend zum juristischen Gehalt der Texte Stellung. Zu Recht weist Frank auch darauf hin, dass die Gesetzgebung als Teil der iurisdictio verstanden wurde. In diesen Zusammenhang gehört der Beitrag zur Binnenstruktur frühneuzeitlicher jüdischer Gemeinden von Stefan Litt. Katja Gvozdeva geht dagegen in ihrer originellen Untersuchung französischer Karnevalsgesellschaften auf die Frage der Entstehung und Veränderung der Statuten nicht vertieft ein.

Mario Ascheri gelingt es, die Entwicklung der Statuten italienischer Städte eindrucksvoll nachzuzeichnen, die im späten 10. und 11. Jahrhundert mit der Regelung lokaler Angelegenheiten und der städtischen Organisation begann. Zu Beginn des 13. Jahrhunderts können ausdifferenzierte Regelungen, vor allem auch Verfassungsnormen, nachgewiesen werden, die im Zusammenhang mit der Podestà-Verfassung stehen. Im 14. Jahrhundert lässt sich schließlich die Aufteilung der Statuten in verschiedene Codices beobachten. Damit wird zugleich der materielle Gehalt der Statuten in den Blick genommen, der auch den Beitrag von Karl Härter prägt. Er hebt überzeugend hervor, dass ein Gegensatz zwischen (idealiter) genossenschaftlich entstandenen Statuten und obrigkeitlichen Policeyordnungen nicht zu konstruieren sei. Vielmehr hat sich die Policeygesetzgebung aus dem städtischen Statutenrecht, das immer auch Policeysachen beinhaltete, entwickelt. Als städtisches Statut konnte die Policeygesetzgebung im späten Mittelalter die städtische Autonomie festigen, während sie seit dem 16. Jahrhundert von den Territorialherren eingesetzt wurde, um die Stadt einem landesherrlichen Territorium einzugliedern. Härter gelingt damit eine eindrucksvolle Darstellung der Gesetzgebung als Mittel zur Herrschaftsbegründung und Herrschaftssicherung.

Im Beitrag von Tilmann Schmidt ist die autonome Rechtsetzung ebenfalls in den Hintergrund getreten. Ihm gelingt anhand der Statuten des Kirchenstaats ein differenzierter Blick auf die territoriale Gesetzgebung und Gesetzesinterpretation. Kritisch anzumerken ist allerdings, dass Gesetzgebung nicht zwingend einen herrschaftlichen Befehl darstellt, sondern vielmehr häufig auf einem Konsens der Rechtsgenossen beruht. Als spannende Geschichte der allmählichen Ausbildung eines formalisierten Gesetzgebungsverfahrens und damit zugleich als Weg zur Ausbildung einer differenzierten Verfassung beleuchtet Martin Kaufhold die Geschichte der englischen „statutes“. Auch die Statuten des Lyoner Druckereigewerbes betrachtet Lars Schneider überzeugend als Gesetze, die den Buchdruck staatlicher Kontrolle unterwerfen sollen. In den Zusammenhang obrigkeitlicher Anordnungen gehört die Untersuchung zu agrarrechtlichen Vorschriften aus dem Sardinien des 14. Jahrhunderts von Nina Pes.

Anders als die Ordensregeln beinhalten andere kirchliche Statuten kaum Verfassungsbestimmungen, sondern Regelungen des Gemeindelebens. Die preußischen Diözesanstatuten, die Arno Mentzel-Reuters am Beispiel der Statuten der Diözese Samland untersucht, waren dagegen vornehmlich als Pflichtenprogramm zur Disziplinierung der Kleriker und des Kirchenvolks gedacht. Mentzel-Reuters kann auf die enge Verbindung zwischen der Synode und dem Bischof einerseits und dem Deutschen Orden als Landesherrn andererseits hinweisen und sieht darin Vorbedingungen für das rasche Gelingen der Reformation im Jahre 1533. Ein Lehrbuch für das Christenvolk in der Art einer „Laienkatechese“ stellen auch die Mainzer Synodalstatuten dar, denen sich Heike Johanna Mierau auf hohem Niveau widmet. Obwohl die neue Erfindung des Buchdrucks grundsätzlich als ein probates Mittel der Verbreitung von Texten erkannt wurde, erfolgte der Druck von Statuten überraschenderweise spät. Es überzeugt, dass Mierau die (zunächst noch) fehlende Schriftlichkeit nicht als Mangel begreift, sondern als bewusste Entscheidung, weil die mündliche Belehrung in einer weitgehend oralen Kultur einen erheblich höheren Grad an Effektivität erreichen konnte als ein Schriftstück. Der sehr lesenswerte Beitrag von Katharina Behrens erklärt die englischen Armenhausstatuten des späten Mittelalters als Handbuch, die den Verwaltern und Bewohnern der Armenhäuser als Dienstanweisungen dienen sollten und die zugleich über die Organisation des Hauses Auskunft geben. Überzeugend ist ihre Vermutung, dass die Statuten auf einem oder mehreren Formularen beruhen. Überraschend ist das nicht, weil Juristen heute wie im späten Mittelalter mit Vorlagen aus Formularbüchern arbeiten.

Am Beispiel der päpstlichen Kanzlei lenkt Andreas Meyer den Blick auf behördeninterne Regeln, in denen das Prozedere sowie Rechte und Pflichten wichtiger Mitarbeiter der päpstlichen Kanzlei festgelegt wurden. Meyer kann jedoch auch nachweisen, wie sich die Kanzleiregeln von einem rein internen, auf Formalia begrenzten Dienstrecht zum allgemeinen Kirchenrecht wandelten, als die Päpste begannen, materiellrechtliche Regeln in die Kanzleiregeln aufzunehmen. Keine tatsächlich existierende Situation beschreibt wohl die Ämterordnung für den Königshof von Mallorca, mit der Gottfried Kerscher darlegen kann, wie sich die Zeitgenossen (oder nur der König) eine wünschenswerte Verfassung vorstellten.

Auch grundsätzliche Fragen kommen nicht zu kurz. In ihrer eleganten Studie zu einer dörflichen Holzordnung stellt Christiane Birr die berechtigte Frage, wann ein Statut als Recht zu qualifizieren ist. Den vielleicht entscheidenden Schritt auf dem Weg zur Normentstehung sieht Birr in der Sanktion, die auf einen Bruch der Ordnung hin erfolgt. Sie betont zu Recht, dass eine orale Rechtskultur nur auf Erinnerung und Konsens der Rechtsgenossen basiert, worin zugleich deren Schwäche liegt. Die Schwelle zur Rechtsnorm sieht Birr jedenfalls als überschritten an, wenn eine Dorfordnung von Juristen in einem Gerichtsverfahren als Entscheidungsgrundlage herangezogen wird, mag auch deren Inhalt selbst streitig sein. Während Claudia Märtl den Reiz der Vielfalt der Statuten begrüßt und eine begriffliche Klärung in den Blick nimmt, zweifelt Felicitas Schmieder grundsätzlich an der Notwendigkeit eines Begriffs. Diese Bedenken können jedoch in der anschließenden Stellungnahme von Hans-Georg Hermann durch sorgfältig ausgewählte Quellenbeispiele, in denen Statutum und Willkür synonym verwendet werden, widerlegt werden.

Zusammenfassend zeichnet Gisela Drossbach die großen Entwicklungslinien nach, nicht ohne dabei auch streitige Fragen zu formulieren. Ihr gelingt es, in zehn Kapiteln eine ebenso tiefsinnige wie elegante Synthese der Beiträge zu erarbeiten. Beleuchtet werden dabei der Begriff der Statuten, deren Entstehung und inhaltliche Entwicklung, deren Geltungsbereich und Rezeption sowie deren Verhältnis zu sonstigen Rechtsquellen.

Das gesteckte Ziel, die Vielfalt der Statuten in der europäischen Rechtsentwicklung und ihre Bedeutung aufzuzeigen, erfüllt der vorliegende Sammelband angesichts der hohen Qualität seiner Beiträge vollauf. Eine einheitliche Definition des Statuts zu erarbeiten, wurde dagegen in diesem Rahmen sinnvollerweise nicht angestrebt. Dennoch finden sich auch für diese Frage eine Fülle von klugen Gedanken und Vorschlägen, die zum Weiterdenken anregen (Märtl, S. 10; Frank, S. 323; Sarnowsky, S. 256; Meyer, S. 95; Drossbach, S. 384). Es lässt sich festhalten, dass Statuten nicht nur unterschiedliche Funktionen haben, auch ihr Inhalt und ihre Entstehung sind vielgestaltig. So stellt der Sammelband einen wertvollen Beitrag zur Geschichte der Verrechtlichung des Lebens und der Organisation menschlichen Zusammenlebens durch Gesetzgebung seit dem hohen Mittelalter und damit zugleich einen wichtigen Beitrag zur Rezeptionsgeschichte dar.