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Titel
Grenzfälle. Von Flucht und Hilfe. Fünf Geschichten aus Europa


Autor(en)
Boesch, Ina
Erschienen
Zürich 2008: Limmat Verlag
Anzahl Seiten
280 S.
Preis
€ 23,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Heumos, Moosburg

Es herrscht kein Mangel an Literatur über Flucht und Vertreibung, über Nomadismus, Desertion und Exodus. Weniger zahlreich sind Untersuchungen über die Bedingungen der Möglichkeit solcher Vorgänge. Zu diesen gehört Fluchthilfe, die von Personen geleistet wird, die sich nicht auf Organisationen stützen und nicht aus materiellem Interesse handeln, sich vielmehr für ihre humanitären und zugleich illegalen Akte des zivilen Ungehorsams und die Nichtbereitschaft, den „Kontrakt der gegenseitigen Gleichgültigkeit“ zu unterschreiben, in aller Regel Sanktionen einhandeln. Hierüber hat Ina Boesch ein engagiertes, klar konzipiertes und hoch informatives Buch geschrieben, das den Bogen vom Zweiten Weltkrieg bis zur Gegenwart spannt.

Schwerpunkt des Buches sind fünf Interviews mit Fluchthelferinnen/ -helfern, die ergänzt werden durch Abrisse der Lebensgeschichten und Reportagen über ihre Tätigkeit, ihr soziales Milieu und das Terrain ihrer Taten. Die Fallgeschichten setzen ein mit einem tschechoslowakischen Juden, der im Frühjahr 1939 Hitler-Flüchtlinge unter Tage durch das Kohlenrevier von Moravská Ostrava über die tschechoslowakisch-polnische Grenze brachte. Im zweiten Beispiel geht es um eine Schweizerin, die 1943-1944 aus dem besetzten Frankreich jüdische Kinder über die Grenze im Jura in die Schweiz führte, wo der Bundesrat 1942 für „Flüchtlinge nur aus Rassegründen“ eine totale Grenzsperre verfügt hatte, die erst im Sommer 1944 aufgehoben wurde. Zwei aus der DDR stammende ehemalige Studenten der Freien Universität Berlin sind die Hauptakteure der dritten Fallstudie: Zusammen mit anderen Kommilitonen schleusten sie nach dem Bau der Mauer bis zum Frühjahr 1962 knapp 1 000 Menschen durch die Berliner Kanalisation oder mittels gefälschter Pässe über die Grenze nach Westberlin. Viertens wird von einer Schweizerin berichtet, die in den 1980er- und 1990er-Jahren in ständigem Konflikt mit der restriktiven schweizerischen Asylgesetzgebung und mit waghalsigen Aktionen gegen die Rückschaffung abgewiesener Asylsuchender vielen Tamilen, Kurden, Libanesen, Bosniern, Kosovo-Albanern und Flüchtlingen aus anderen Ländern eine Bleibe in der Schweiz verschaffte. Das Spektrum beschließt eine spanische Lehrerin, die sich seit 1990 an der Südgrenze der „Festung Europa“, in Tarifa an der Straße von Gibraltar, der übers Meer kommenden Nordafrikaner annimmt und die illegalen Einwanderer wegen der im Küstengebiet drohenden sofortigen Abschiebung außerhalb der Küstenregion bei Freunden, Gleichgesinnten und in Klöstern versteckt.

Aus diesen fünf Geschichten – zugleich Beispiele für eine außergewöhnliche Erzählkunst – werden unter vier Gesichtspunkten verallgemeinernde Schlüsse gezogen: Welche gemeinsamen Persönlichkeitsmerkmale teilen die Fluchthelfer, welche Motive treiben sie an, in welcher Rolle sehen sie sich gegenüber den Flüchtlingen, wie bewältigen sie das Dilemma zwischen ihrer illegalen Tätigkeit und dem sozialmoralischen Imperativ solidarischen Handelns?

Das Ergebnis dieser Verallgemeinerungen, in denen sich das Weltbild der Fluchthelfer niederschlägt, lautet: Eine universalistische Moral, auch wenn sie die eingeschränkte Form einer Privatethik annimmt, gestattet es nicht mehr, klare Gruppenidentitäten auf naturwüchsige Innen-Außen-Differenzierungen bzw. die Unterscheidung zwischen Staatsangehörigen und Staatsfremden zu gründen. Da die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte jedermann das Recht gibt, „seinen Aufenthaltsort frei zu wählen“, der Staat dieses Menschenrecht aber zumeist einengt, müsse seine Einhaltung „von unten“ durchgesetzt werden.

Die soziale Sensibilität von Boesch ist zu groß, um über Fluchthilfe anders zu schreiben als aus eben dieser Sicht. Ihre Bedenken, wie ernst der staatliche Anspruch auf Wahrung der Menschenrechte gemeint ist, mögen teils mit schweizerischen Erfahrungen (das dunkle Kapitel der antijüdischen Immigrationspolitik während des Zweiten Weltkrieges) zusammenhängen, lassen sich aber nicht allein daraus herleiten. Das zeigt ihr Hinweis auf den Umgang der Bundesrepublik mit DDR-Fluchthelfern, die nach 1961 zunächst als „Widerstandskämpfer“ gefeiert wurden, ehe man sie unversehens zu „Kriminellen“ abstempelte. Auch das Beispiel Spanien, das sich als Hüter der Menschenrechte stilisiert und zugleich an der Südgrenze Europas ein Grenzregime etabliert, das die Fluchthelferin in der fünften Fallstudie des Buches als „faschistoid“ bezeichnen kann, macht deutlich, wie umstandslos Menschenrechte den jeweiligen politischen Utilitäten untergeordnet werden.

Die Behandlung der Frage nach dem Staat als (vorgeblichem) Wahrer der Menschenrechte ist verknüpft mit einem zusammenfassenden Aufriss des Phänomens „Grenze“, der die partiellen Aspekte der Fallstudien zu einem übergreifenden Strukturmerkmal „Grenze“ zusammenzieht. Boesch ist zuversichtlich, dass sich die Spannung zwischen Idee und Wirklichkeit von Menschenrechten auflösen wird. Die fünf Fallstudien dienen als Beleg dafür, dass Grenzen – welcher Aufwand auch immer getrieben wird, um sie zu zementieren und Staaten gegeneinander abzuschotten – durchlässig bleiben werden. Ein solcher Optimismus setzt an den realen Verhältnissen an: Die mit der Globalisierung „zunehmende Migration“ wird die Grenzregime aushebeln. Schlüssig ist sich die Schweizer Kulturwissenschaftlerin in diesem Punkt nicht; sie gibt viele Hinweise, die eine skeptischere Sicht der Dinge nahelegen.

Boesch verschließt die Augen nicht davor, dass sich die „Gesellschaft des Spektakels“ der existentiellen Ängste, die Migrationsprozesse vorantreiben, längst auf ihre Weise bemächtigt hat und das Problem zwecks Zerstreuung im Spielerisch-Virtuellen verdampft: „Nachtwanderung“ heißt das touristische Event, bei dem man für 200 Pesos an der amerikanisch-mexikanischen Grenze als falscher Grenzpolizist mit Pistole und Scheinwerfer Touristen jagen kann, die ihrerseits Jagd auf einen falschen Schmuggler machen. Welchen Beitrag die Produktivkraft Kommunikation leistet, illustriert das Beispiel des spanischen Fernsehens, das Fremdenangst direkt und indirekt verfestigt: Es kriminalisiert die illegale Einwanderung aus dem Maghreb an der Südgrenze Europas, indem auf der anderen Seite die schwarzafrikanischen Einwanderer in der „négritude“-Perspektive der Kolonialherren als „putzige“, das heißt domestizierbare Wesen präsentiert werden. Die dergestalt medial formierte Bevölkerung fühle sich „glücklich“, sagt die spanische Fluchthelferin. Zur Debatte steht allerdings nicht nur der Apparat von Bildern und Ideen, der die öffentliche Rede und Meinung hervorbringt und regelt. Der Mauerbau an den Grenzen hat weltweit Konjunktur, wie im Buch zu lesen ist, wobei die Mauern höher und die Kontrollsysteme dichter werden.

Auf der einen Seite folgt Boesch also mit ihrer zuversichtlichen Perspektive einer idealistischen Teleologie, die im Kern besagt, der Gang durchs Fegefeuer sei unvermeidlich, um einen Schimmer der Hoffnung auf die strahlende Zukunft universeller Menschenrechte zu bieten. Auf der anderen Seite ist sie sich dessen bewusst, dass die Logik der Globalisierung herrscht, indem sie den alten Degen der Trennung zwischen ökonomischem und politischem Subjekt führt, so in der lapidaren Formulierung der Fluchthelferin in Tarifa: Kapital, Elektrizität und Schuhe können die offenen Grenzen passieren, aber nicht die Menschen. Die einschlägigen Untersuchungen sind sich darin einig, dass die bürger- und menschenrechtliche Anpassung des Status der Migranten an die tatsächlichen ökonomischen Veränderungen der letzten Jahrzehnte eines der Konfliktfelder bildet, auf denen sich entscheiden wird, ob die Globalisierung ihre ethisch-politische „promesse du bonheur“ erfüllt. Die Demonstrationen der „sans papiers“ in Frankreich 1996 haben gezeigt, welches Konfliktpotential diese Frage in sich birgt. Vorerst sind keine eindeutigen Regelungstendenzen im Blick auf die Globalisierung als Verfassungsprojekt zu erkennen, und insofern ist die zwiespältige Sicht, die das hier besprochene Buch bietet, der Sache selbst angemessen.

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