N. Dinçkal u.a. (Hrsg.): Selbstmobilisierung der Wissenschaft

Cover
Titel
Selbstmobilisierung der Wissenschaft. Technische Hochschulen im „Dritten Reich“


Herausgeber
Dinçkal, Noran; Dipper, Christoph; Mares, Detlev
Erschienen
Anzahl Seiten
300 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Florian Schmaltz, J.W.-Goethe-Universität Frankfurt

Der vorliegende Sammelband geht auf eine vom Institut für Geschichte der TH Darmstadt 2008 organisierte Ringvorlesung zurück. Das Risiko, inhaltlich und qualitativ disparate Beiträge ohne ersichtliche gemeinsame und übergreifende Fragestellungen zwischen zwei Buchdeckel zu binden, haben die Herausgeber umschifft und einen sehr empfehlenswerten Sammelband zusammengestellt. In ihm behandeln alle Beiträge zentrale Fragen der jüngsten Historiographie zur Wissenschaftspolitik und Forschungsorganisation im Nationalsozialismus. Abgesehen von direkten Bezugnahmen der Aufsätze aufeinander entstehen dadurch bei der Lektüre gedankliche Verknüpfungen zwischen den elf Einzelbeiträgen, die zudem durch ein Personen- und Ortsregister erschlossen sind.

Trotz zahlreicher Einzelstudien kann noch nicht von einem konsolidierten Forschungsstand zur Geschichte der Technischen Hochschulen im Nationalsozialismus gesprochen werden. Bei den Untersuchungen, die auf die von Reinhard Rürup 1979 herausgegebene Pionierstudie zur TH Berlin 1 folgten, handelt es sich mit einer Ausnahme zur TH Aachen 2 ausschließlich um Sammelbände. Wie Noyan Dinçkal und Detlev Mares in ihrer Einleitung erläutern, verfolgt der von ihnen gemeinsam mit Christof Dipper herausgegebene Sammelband drei leitende Fragestellungen: 1. Die Kooperationsbeziehungen der Hochschulen mit außeruniversitären Forschungseinrichtungen und Institutionen des NS-Staats, 2. die Legitimationsmuster und Kontinuitätsproblematiken über die politischen Zäsuren von 1933 und 1945 hinaus und 3. die Frage nach dem Stellenwert der naturwissenschaftlichen Forschung für das NS-Regime und den Folgen seiner Wissenschaftspolitik für die Naturwissenschaften. Diese Fragen sollen die Dynamik der Konstituierung und des Wandels von „Beziehungsgeflechten multipler Akteursnetzwerke“ im Hinblick auf die „Ausbalancierung von Macht- und Austauschverhältnissen“ (S. 13) sichtbar machen.

Der Titel des Sammelbandes spielt auf einen Topos des Technikhistorikers Karl-Heinz Ludwig an. In seiner bahnbrechenden Studie bezog Ludwig diesen ausschließlich auf die wissenschaftsimmanenten Triebkräfte der Militarisierung und die 1942 einsetzenden Versuche, eine effizientere Integration der Natur- und Technikwissenschaften in den Rüstungsprozess zu erreichen.3 Einem Vorschlag Herbert Mehrtens 4 folgend, wird der Begriff der im vorliegenden Band als konzeptioneller Erklärungsansatz auf die gesamte Zeitspanne der NS-Herrschaft angewandt und um drei Dimensionen erweitert: Erstens bezüglich der Rolle von Studierenden als aktiver Stoßtrupp im Prozess der nationalsozialistischen „Gleichschaltung“ nach 1933. Zweitens um die Dimension der Ideologieproduktion von Ingenieuren, Architekten und Naturwissenschaftlern, die als Akteursgruppe Gestaltungs- und Führungsansprüche anmeldeten, um ihre programmatischen Entwürfe eines „reactionary modernism“ (Jeffrey Herf) zu realisieren. Drittens soll die spezifisch nationalsozialistische „Selbstmobilisierung der Wissenschaften“ durch einen internationalen Vergleich mit Hochschulen im besetzen und neutralen Ausland an Tiefenschärfe gewinnen.

Der Band ist übersichtlich in vier Themenfelder gegliedert, deren erster drei Überblicksdarstellungen zur Rüstungsforschung an Technischen Hochschulen versammelt. Einleitend bietet Helmut Maier einen Überblick zum Forschungsstand zur Geschichte der THs im Nationalsozialismus, der in den vergangenen zwanzig Jahren einen grundlegenden Paradigmenwechsel durchlief. Dabei wurde die starre Fixierung auf die institutionsgeschichtliche Binnenperspektive einzelner Hochschulen durch übergreifende Fragestellungen der Wissenschafts-, Bildungs- und Technikgeschichte abgelöst. Die lange dominanten Thesen von der Wissenschaftsfeindlichkeit des Regimes und dem allgemeinen Niedergang der Natur- und Technikwissenschaften im Nationalsozialismus wurde durch zahlreiche Einzelstudien widerlegt. Auch die Technischen Hochschulen gehörten als Produktionsstätten kriegsrelevanten Wissens mit ihrem Beitrag zur Errichtung eines „autarken Wehrstaates“ durchaus „zu den privilegierten Forschungs- und Bildungseinrichtungen des ‚Dritten Reiches‘“ (S. 45). In seinem Beitrag über den militärisch-industriell-wissenschaftlichen Komplex im „Dritten Reich“ vertritt Wolfgang Schieder die These, dass die Wissenschaft dem Nationalsozialismus keineswegs distanziert gegenüberstand, sondern „konstitutiver Teil desselben“ war. Schieder zufolge bedurfte das „auf wirtschaftliche Mobilmachung, militärische Aufrüstung und imperialistische Expansion angelegte Regime des deutschen Faschismus“ neben militärischen und industriellen „Ressourcen auch wissenschaftliche zur Durchsetzung seiner Ziele“ (S. 50). Am Beispiel der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zeigt er auf, wie deren Generalverwaltung an einer effizienten „Implementierung der Wissenschaftsorganisation des NS-Systems“ (S. 52) mitwirkte. Der erste Teil des Bandes schließt mit einem Aufsatz von Wolfgang König über die schätzungsweise 200-250.000 Ingenieure im Nationalsozialismus, deren individuelles Verhalten und institutionelles Agieren im Verein Deutscher Ingenieure untersucht wird, wobei er typologisch zwischen Opfern, Aktivisten, Opportunisten, Mitläufern und Gegnern unterscheidet.

Der zweite Themenkomplex zur „nationalsozialistischen Durchdringung der Technischen Hochschulen“ bietet drei Beiträge über die TH Darmstadt: Christof Dipper untersucht die studentische Selbstmobilisierung am Beispiel der verspäteten Bücherverbrennung, die in Darmstadt nicht am 10. Mai, sondern erst am 21. Juni 1933 stattfand. Trotz komplizierter Quellenlage gelingt es Dipper, Akteure, Motive, propagandistische Aussage und Ablauf der Bücherverbrennung minutiös zu rekonstruieren. Dabei arbeitet er die Frontstellung der nationalsozialistischen Studentenschaft gegen die moderne Literatur, linke Autoren und Wissenschaftler als zentrales Motiv heraus. Ralf Pulla analysiert anschließend den Beitrag der TH Darmstadt im raketentechnischen Netzwerk des „Dritten Reichs“ bei der Entwicklung der V-2-Raketen. Anhand der Forschungsaufträge und personellen Verbindungen schlüsselt er erstmals detailliert auf, in welcher Weise Darmstädter Institute und Wissenschaftler in die 1939 vom Heereswaffenamt geschaffene Arbeitsgemeinschaft „Vorhaben Peenemünde“ eingebunden wurden und zur Optimierung der gegen England und Belgien eingesetzten Terrorwaffe beitrugen. Mit 92 Mitarbeitern nahm die TH Darmstadt unter den für die Heeresversuchsanstalt tätigen Hochschulen die Spitzenstellung ein. Fragwürdig erscheint allein Pullas Resümee, dass das Netzwerk aus Militär, Industrie und Hochschulen „für die Forschungs- und Technologiepolitik des ‚Dritten Reichs‘ insgesamt nicht paradigmatisch“ gewesen sei, weil sich vergleichbare Netzwerke „allenfalls in der Luftfahrtforschung und der Chemie bzw. Werkstoffforschung finden“ (S. 124) ließen. Wie eine Vielzahl neuerer Studien der Forschungsprogramme zur Geschichte der DFG 1920-1970 und der „Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus“ belegt, förderte die NS-Wissenschaftspolitik Netzwerkstrukturen und eine Wissenschaft, Militär und Industrie integrierende „Gemeinschaftsforschung“.5 Damit steht Pullas Annahme auch dem Befund Schieders über die Bedeutung des militärisch-industriell-wissenschaftlichen Komplex im Nationalsozialismus entgegen.

Verena Kümmel nimmt Präsenz und Erwartungen von Studentinnen an der TH Darmstadt anhand der Debatten um das Frauenstudium technisch-naturwissenschaftlicher Disziplinen im Nationalsozialismus in den Blick. Der Anteil der Studentinnen an der TH Darmstadt überstieg vor Kriegsbeginn nie 2,2 Prozent, wuchs jedoch infolge des Kriegsdienstes männlicher Studenten auf annähernd 9,5 Prozent im Jahre 1941. Anhand zeitgenössischer Zeitschriftenartikel zeigt Kümmel die der Kriegsvorbereitung dienenden hochschulpolitischen Aktivitäten der Arbeitsgemeinschaft Nationalsozialistischer Studentinnen auf, zu denen „Schulungslager“ mit „weltanschaulichen“ Vorträgen und sogenanntem „Frauendienst“ (Luftschutz-Lehrgänge, Erste Hilfe und Nachrichtenwesen) gehörten.

Mit den „Hochschulen an der Peripherie“ eröffnet der dritte Themenkomplex eine international vergleichende Perspektive. Mikael Hård kommt in seinem Aufsatz über die 1910 in Trondheim gegründete Norwegische Technische Hochschule (NTH) aufgrund seiner Untersuchung der Forschungsentwicklung und des Verhaltens der Dozenten und Studierenden zu dem Schluss, dass die technischen Großprojekte des Nationalsozialismus nur verhalten unterstützt worden seien, sich der Widerstand im Vergleich zu der von den NS-Behörden geschlossenen Universität Oslo an der NTH schwächer entwickelt habe. Daniel Speich untersucht die „ETH Zürich im Nationalsozialismus“, die als einzige deutschsprachige Hochschule räumlich außerhalb des NS-Herrschaftsbereichs in der neutralen Schweiz lag, zugleich aber „in einer kaum zu überschätzenden Weise mit Deutschland verflochten“ (S. 165) war. Unter diesem Gesichtspunkt analysiert er die Personal- und Migrationspolitik der ETH anhand statistischer Daten und der Reaktionen universitärer Gremien auf die in die Schweiz geflüchteten jüdischen Studenten und Akademiker.

Mit seinem Aufsatz zur „Wissenschaftsplanung und Wissenschaftslenkung an der Reichsuniversität Straßburg (1940-1945)“ wendet sich Frank-Rutger Hausmann einem Prestigeprojekt der nationalsozialistischen Hochschulpolitik zu und zeigt auf, welche konzeptionellen Vorstellungen sich in den Machtkämpfen zwischen verschiedenen Institutionen der polykratischen Herrschaftsstruktur des NS in der einer „Germanisierung“ verpflichteten Aufbauphase (1941-1943) und auf eine Nazifizierung der „Reichsuniversität“ abzielenden Endphase (1944-1945) durchsetzen konnten. Die durchaus modern klingenden Aufbauziele „Interdisziplinarität, Lebensbezug und Westorientierung“ implizierten für die Straßburger NS-Musteruniversität „Rassen-, Kriegs- und Autarkieforschung“ (S. 208).

Das vierte Themenfeld „Kontinuitäten und Brüche“ untersucht Werner Durth am Beispiel der Architekten an der TH Darmstadt in den Jahren 1930-1950. Er zeichnet die organisatorischen Formierungsprozesse des „Kampfbundes für deutsche Kultur“ und der Architektenvereinigung „Block“ nach, in denen sich vor 1933 konservative, deutsch-nationale und NS-Ideologie einander annäherten. Durth zeigt die Folgen der Machtübergabe für die Architekturabteilung der TH Darmstadt in personeller und in fachlich-konzeptioneller Hinsicht am Beispiel der Karrieren von Karl Gruber und Karl Lieser auf. Während Gruber sich 1933 vorübergehend politischen Angriffen ausgesetzt sah, aber im Amt blieb und nach 1942 an der Wiederaufbauplanung im luftkriegszerstörten Mainz und von Darmstadt mitwirkte, beteiligte sich Lieser bereits als Dozent aktiv an der NS-Vertreibungspolitik. Später entwarf Lieser einige – als Zeugen monumentaler NS-Baukunst bis heute das Stadtbild Darmstadts prägende – Gebäude der TH. Nachfolger des 1945 entlassenen Lieser wurde der Architekt Ernst Neufert, ein Schüler von Walter Gropius, der ab 1943 im Arbeitsstab Speers an der nationalsozialistischen Neugestaltungs- und Wiederaufbauplanung deutscher Städte beteiligt war.

Stefan Krebs und Werner Tschacher fragen in ihrem Beitrag nach konstruierten Brüchen und Kontinuitäten an der TH Aachen. Unter Einbeziehung biographischer, institutions- und fachgeschichtlicher Studien werden hierzu die Reden des Professors für Baukonstruktionslehre Otto Gruber, der von Mai 1934 bis 1945 als Rektor der TH Aachen fungierte, kritisch interpretiert und aufgezeigt, auf welche Weise der semantische Umbau „vermeintlich neutrale Fachbegriffe“ (S. 258) instrumentalisierte, Scharnierbegriffe zwischen Wissenschaft und Politik schuf und die Basissemantik des jeweiligen politischen Systems bediente.

Der Band leistet eine wichtige Vorarbeit für das Ende Januar 2010 vom Präsidium der TH Darmstadt ins Leben gerufene Forschungsprojekt, welches die Geschichte der TH Darmstadt im Nationalsozialismus wissenschaftlich umfassend untersuchen soll.6 Wenn dabei die im vorliegenden Sammelband erreichten qualitativen Standards fortführt werden, können die Ergebnisse mit Spannung erwartet werden.

Anmerkungen:
1 Reinhard Rürup (Hrsg.), Wissenschaft und Gesellschaft. Beiträge zur Geschichte der Technischen Hochschule Berlin 1879-1979, Berlin 1979.
2 Ulrich Kalkmann, Die Technische Hochschule Aachen im Dritten Reich (1933 - 1945), Aachen 2003. Vgl. den Literaturüberblick des besprochenen Sammelbandes S. 31ff.
3 Karl Heinz Ludwig, Technik und Ingenieure im Dritten Reich, Düsseldorf 1974, S. 241ff.
4 Herbert Mehrtens, Kollaborationsverhältnisse. Natur und Technikwissenschaften im NS-Staat und ihre Historie, in: Christoph Meinel / Peter Voswinckel (Hrsg.), Medizin, Naturwissenschaft, Technik und Nationalsozialismus. Kontinuitäten und Diskontinuitären, Stuttgart 1994, S. 13-32, bes. S. 28.
5 Helmut Maier (Hrsg.), Gemeinschaftsforschung, Bevollmächtigte und der Wissenstransfer. Die Rolle der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im System kriegsrelevanter Forschung des Nationalsozialismus, Göttingen 2007.
6 Siehe dazu <http://www.tu-darmstadt.de/universitaet/praesidium/th_nszeit/index.de.jsp> (04.10.2010).

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