Der 1961 in Bozen geborene Hans Karl Peterlini hat sich in zahlreichen journalistischen Publikationen mit Südtiroler Problemen beschäftigt. Im Zuge seiner landesgeschichtlichen Forschungen stieß er immer wieder auf jene Männer, die in den 1950er- und 1960er-Jahren dem „Befreiungsausschuss Südtirol“ (BAS) angehörten. Ihr politisches Ziel hieß „Selbstbestimmung“ – was im Klartext bedeutete: Loslösung Südtirols von Italien und Wiedervereinigung des gesamten Landes Tirol. Um dieses Ziel zu erreichen, scheuten sie auch vor Gewaltanwendung nicht zurück. Die terroristischen Aktivitäten des BAS fanden ihren Höhepunkt in der so genannten „Feuernacht“ vom 11. auf den 12. Juni 1961, in deren Verlauf etwa 40 Strommasten in die Luft gesprengt wurden.
Im Jahr 2005 hat Peterlini dieser traumatischen Epoche das Sachbuch „Die Südtiroler Bombenjahre“ (Edition Raetia Bozen) gewidmet. Sein neues Buch knüpft an diese journalistisch-zeithistorische Recherche an, stellt sie aber in einen anderen theoretischen Rahmen. Im Zentrum steht jetzt jene „Verteidigungskultur“, von der im Untertitel des Buches die Rede ist und die Peterlini als geradezu mythische Konstante des Tiroler Selbstverständnisses auffasst: „Getreu dem biblischen Vorbild ist im Tiroler Mythos auch das Tiroler Volk von Gott erwählt, es muss sein Land aber nicht mehr erkämpfen, sondern hat es bereits schon von Gott zugeteilt bekommen (‚Heimat aus Gottes Hand‘). Der Auftrag ist die Verteidigung mit göttlicher Hilfe…“ (S. 47)
Diesem Auftrag gehorchten auch die Aktivisten des BAS – weshalb sie sich selbst ja auch nicht als Terroristen verstanden, sondern als „Freiheitskämpfer“. Diese Mentalität, die auch vor Rechtsbrüchen und Gewaltakten nicht zurückschreckte, unterzieht Peterlini einer psychologischen Interpretation, oder wie es im Titel seines Buches journalistisch pointiert heißt: Er legt die Kämpfer auf die Couch der Psychoanalyse. Dabei verleugnet er durchaus nicht, dass er auch seine eigene Vergangenheit im Blick hat. Die Motive und Sehnsüchte der Tiroler Gewalttäter sind ihm nicht fremd, sondern gehören wesentlich zum Erbe jener Kultur, der er sich (bei aller Kritik) zugehörig fühlt.
Wie Peterlini in der Einleitung zu seinem Buch berichtet, ist diese psychologische Sichtweise das Ergebnis einer persönlichen Veränderung. Im Jahr 2004 hat er seinen Journalistenberuf aufgegeben und danach an der Universität Innsbruck ein Diplomstudium in Erziehungswissenschaft absolviert. Als Abschlussarbeit legte er eben jene Studie vor, die nun in überarbeiteter Form als Buch erschienen ist. Es handelt sich also um ein Werk mit ausdrücklich wissenschaftlichem Anspruch (wobei sich die journalistische Erfahrung des Autors in einem lesbaren Stil zeigt, der sich positiv von den Schreibweisen so mancher streng fachwissenschaftlichen Publikation unterscheidet). Peterlini berücksichtigt Erkenntnisse der Ethnopsychoanalyse von Georges Devereux und der Gedächtnisforschung von Maurice Halbwachs und Jan Assmann, bezieht die diskursanalytischen Arbeiten Michel Foucaults und weitere aktuelle Theorien in seine Arbeit ein. Die wichtigste Inspiration geht aber offenkundig von der Psychoanalyse aus. Die Untersuchung kreist nämlich vor allem um zwei geradezu klassische freudianische Komplexe: den Wiederholungszwang und die Verdrängung.
Zu den Qualitäten psychoanalytisch fundierter Forschung gehört in der Regel die Aufmerksamkeit für all jene Nebensächlichkeiten, die gerne übersehen werden, aber bei genauem Hinschauen wichtige Auskünfte offenbaren. In diesem Sinn misstraut Peterlini etwa den Angaben der Attentäter über die Wahl des Zeitpunkts für die „Feuernacht“ am 11. Juni: „So wie sich die befragten Beteiligten erinnern, ging es bei der Wahl des Kalendertages lediglich darum, dass dieser – wegen der benötigten Dunkelheit – möglichst nah am Neumond und dazu noch an einem Wochenende liegen sollte, damit sich die Einreise der Nordtiroler besser als Touristenausflug tarnen ließe. So sei es reiner Zufall gewesen, dass ausgerechnet die Herz-Jesu-Nacht gewählt worden war.“ (S. 41)
An diesen „Zufall“ mag Peterlini nicht glauben, und das aus überzeugenden (sozial)psychologischen Gründen: Der Brauch des „Herz-Jesu-Feuers“ ist Bestandteil jenes Bündnisses zwischen Tirol und Gott, das im 18. Jahrhundert angesichts der Bedrohung des Landes durch die napoleonischen Truppen geschlossen wurde. Im Juni 1796 legten die Tiroler Landstände den Schwur ab, dem Herzen Jesu auf immer die Treue zu halten: Die Feuer, die in der Nacht vom 11. auf den 12. Juni traditionell auf den Berggipfeln entzündet werden, sind der rituelle Ausdruck dieses Gelübdes. Und weil das so ist, schließt der psychoanalytisch versierte Autor, dass es sich bei der Entscheidung für genau diese Nacht als Zeitpunkt für die Attentate nicht um einen Zufall gehandelt haben kann, sondern um eine „Wahl aus unbewussten Motiven“. Die Attentäter erfüllten althergebrachte mythische Aufträge, ob sie das nun wussten oder nicht.
Es gibt noch andere Belege für die Annahme, die BAS-Aktionen seien eine einzige (mehr oder weniger bewusste) Wiederholung des Tiroler Mythos gewesen. Die Tatsache, dass keiner der Bombenleger den Versuch machte, der (durchaus brutalen) Verfolgung durch die italienischen Behörden zu entkommen, begründet Peterlini mit der Wirksamkeit des zwar historischen, aber doch zugleich mythisch überhöhten Vorbildes Andreas Hofer: In derselben heroischen Haltung, in der sich Hofer in Mantua den Franzosen stellte, wollten sich seine Nachfolger vor den Italienern bewähren.
In seiner zweiten großen These behauptet Peterlini allerdings, dass in der Besinnung auf die heroischen Ahnen eine Verdrängung der unmittelbaren Vergangenheit stattgefunden habe: Anhand autobiographischer Aussagen der damaligen Kämpfer arbeitet Peterlini heraus, dass ihnen allen eine zwiespältige Haltung gegen ihre Väter gemeinsam war. Diese Väter waren einerseits stark, indem sie – im Einklang mit Tiroler Erbgepflogenheiten – auf den Bauernhöfen die Macht hatten, dem ältesten Sohn das ungeteilte Erbe zuzusprechen und die jüngeren Kinder zur Knechtschaft zu verdammen. Andererseits aber hatte sich die Vätergeneration in einer historischen Zwangslage schwach und hilflos gezeigt: Von Mussolini und Hitler mit der „Option“ konfrontiert entweder ihr Land zu verlassen oder ihr Tirolertum aufzugeben, votierten die einen für das Land, die anderen für das Volkstum. Aber jede der beiden Entscheidungen war fremdbestimmt und ging deshalb mit Gefühlen der Erniedrigung einher. Die Söhne litten unter dieser Schwäche der Väter, weshalb sie zur Stärke um jeden Preis entschlossen waren. Im Unterschied zu heranwachsenden Männern in anderen Weltteilen lehnten sich die jungen Südtiroler in den späten 1950er-Jahren allerdings nicht gegen ihre Väter auf – obwohl es dafür Gründe gegeben hätte. Sie machten Italien, das „Stiefvaterland“ (Peterlini), für alle Probleme und Schwierigkeiten verantwortlich. Und gegen diesen äußeren Feind konnten sie guten Gewissens aufbegehren. Peterlini geht davon aus, dass mit dieser Auslagerung aller Probleme ein enormes Maß an Triebunterdrückung und Konfliktvermeidung einhergegangen sein muss. Und wie alle Psychoanalytiker findet auch er in einem solchen Konflikt verdrängte sexuelle Probleme: Die Strommasten, auf die es die Bombenleger vor allem abgesehen hatten, fasst Peterlini in der Nachfolge Freuds als „Phallussymbole“ auf.
Allerdings schweben Passepartout-Deutungen wie „Phallussymbol“ immer in der Gefahr, das Spezifische einer besonderen Situation zu verfehlen. Peterlini analysiert zum Beispiel ausführlich eine Karikatur aus der Schweizer „Weltwoche“, auf der unter dem Titel „Südtirol ist eine interne Frage“ die römische Wölfin dargestellt ist, in deren Magen gut erkennbar ein gefressener Südtiroler Schütze liegt. Diese Wölfin ist von anderen Bestien der damaligen Zeitgeschichte umgeben: Der gallische Hahn hat Algerien verschluckt, der russische Bär den gesamten Ostblock, der chinesische Drache Tibet und der weiße südafrikanische Stier die Schwarzen. Peterlini deutet diese Zeichnung nicht als karikaturistische Kritik am politischen Machthunger (was immerhin auch möglich wäre), sondern als Mutterleibs- und Geburtstrauma-Phantasie. Um diese These zu erhärten, schreibt er über die römische Wölfin: „Sie trägt einen Schützen-Hut mit Federn, ein als phallisch deutbares Symbol, das neben der Angst vor Einverleibung in den Mutterleib auch auf Kastrationsangst schließen lässt (der Tiroler wurde nicht nur gefressen, die Wölfin trägt auch einen Phallus in Form eines Tiroler-Hutes auf dem Kopf, was sich so deuten lässt: Sie trägt den Phallus der von ihr entmannten Tiroler zur Schau).“ (S. 134f.).
Diese Deutung geht an dem vorbei, was auf dem Bild sichtbar vorhanden ist. Die Wölfin trägt hier nämlich keinen Tiroler-Hut, sondern ganz unverkennbar den traditionellen Schlapphut der italienischen „Bersaglieri“-Soldaten. Dessen Feder mag zwar auch „phallisch“ gedeutet werden, aber in Bezug auf die Kastration der Tiroler ist hier die psychoanalytische Phantasie mit dem Autor durchgegangen. Und es lassen sich im Buch noch mehr Stellen finden, bei denen das ebenso der Fall ist.
Solche fragwürdigen Details beeinträchtigen den Wert des Ganzen jedoch nicht. Bedenkenswert ist diese sozialpsychologische Interpretation eines problematischen historischen Geschehens auf jeden Fall – auch wenn sich im Einzelnen gewiss manches dagegen einwenden lässt.