: Karl Lueger (1844-1910). Christlichsoziale Politik als Beruf. Eine Biographie. Wien 2009 : Böhlau Verlag, ISBN 978-3-205-78366-4 595 S. € 39,00

: Karl Lueger. Die zwei Gesichter der Macht. Wien 2010 : Amalthea Signum, ISBN 978-3-85002-700-7 280 S. € 22,95-

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Harald Gröller, Graz

Am 10. März 2010 jährte sich der Todestag des Vorsitzenden der Christlichsozialen Partei und langjährigen Wiener Bürgermeisters Dr. Karl Lueger zum 100. Mal. Pünktlich zu diesem Anlass erschienen zwei sehr verschiedene Lueger-Biographien von John W. Boyer und Anna Ehrlich, wobei jene von Boyer ursprünglich schon im Herbst des Vorjahres erscheinen hätte sollen.1

Boyer, der an der Universität Chicago Geschichte lehrt, publizierte schon vor etlichen Jahren zwei vielbeachtete Werke zu dieser Thematik2, die auch die Basis der vorliegenden Biographie bilden. Hinzu kommt aber auch neues Material – vor allem zur Person Ignaz Seipels –, welches der Autor in Zusammenarbeit mit einer ganzen Gruppe von Doktoranden und namhaften österreichischen Experten für dieses Werk herangezogen hat.

In seinem in acht Kapitel unterteiltem Buch, in dem die „Lebensgeschichten und politischen Karrieren von Karl Lueger und Ignaz Seipel […] die Klammern dar[stellen]“ (S. 9), also in etwa die Zeit von den 1880er- bis zu den 1930er-Jahren behandelt wird, werden zunächst der österreichische Liberalismus und der Aufstieg der Mittelstandspolitik erörtert, indem die Entwicklungen des Wiener Kleingewerbes seit 1848, der dort verbreitete politische Antisemitismus, die diesbezügliche Rolle des Klerus sowie – quasi als Exkurs – die Person Karl von Vogelsangs dargestellt wird. Es folgt der Abschnitt über Karl Lueger und die Radikalisierung der Wiener Demokratiebewegung, in welchem Luegers politischer Werdegang und der seiner frühen Weggefährten, seine Annäherung an den Antisemitismus, die Koalition der Vereinigten Christen, sowie die Parteistruktur der Anfangszeit behandelt werden. Daran anschließend wird das Ende der Liberalen und die Eroberung Wiens durch die „Antisemiten“ thematisiert, im Zuge dessen das Augenmerk auf den Radikalismus der Wiener Beamten, den Liberalismus Wiens in der ersten Hälfte der 1890er-Jahre, den Christlichen Sozialismus und den Appell der Koalition an Rom, die Gemeinderatswahlen des Aprils bzw. Septembers 1895 und Luegers letztendliche Bestätigung als Wiener Bürgermeister gerichtet werden. Das Folgekapitel widmet sich der Machtkonsolidierung der Christlichsozialen in Wien in der Zeit von 1897 bis 1905, ehe das Allgemeine Wahlrecht und die Gründung der Reichspartei einer genaueren Betrachtung unterzogen wird, im Zuge derer die Rolle der Christlichsozialen Partei im Jahr 1905, die politische Modernität, der ständische Protektionismus und die Wahlen des Jahres 1907 sowie eben die Gründung der Reichspartei erörtert werden. Nach der Darstellung von Luegers Tod und jener der anschließenden Machstreitigkeiten um seine Nachfolge, einer Art „Interregnum“, widmet sich Boyer den Wahlen des Jahres 1911 und den daraus resultierenden Konsequenzen für die Christlichsoziale Partei. Danach wird der Weltkrieg und die Revolution unter anderem hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die Massenpolitik behandelt und anschließend zunehmend die Person Ignaz Seipels in den Fokus der Darstellung gerückt, dem im abschließenden Kapitel, neben der Neuordnung der Christlichsozialen Partei, das Hauptaugenmerk geschenkt wird, besonders im Zusammenhang mit dem Christlichen Sozialismus bzw. dem klerikalen Einfluss in der österreichischen Politik der Zwischenkriegszeit.

Boyer hat mit diesem, mit einem reichen Anmerkungsapparat ausgestatteten Werk die Person Luegers in hervorragender Weise in den Kontext der österreichischen Politik seiner Zeit eingebettet. Zudem hat er dem Druck nach „biographischer Totalität“3 bei der Darstellung der Biographie des „Protagonisten“ nur bedingt nachgegeben, wobei man konstatieren muss, dass die knappe Beschreibung des Milieus, in dem Lueger seine Kindheit und Jugend erlebt hat, für die Erörterung seines weiteren Werdegangs durchaus sinnvoll scheint. Boyer zeichnet eindrucksvoll nach, wie sich Luegers politisches Profil in Abhängigkeit von den ihn jeweils umgebenden Umständen modifizierte, ehe er als Vorsitzender der Christlichsozialen Partei diese führte und formte, und er kommt dabei unter anderem zu dem Schluss, dass „die Entstehung der christlichsozialen Bewegung den parallelen Aufstieg der Sozialdemokratischen Partei als unvermeidliche Folge nach sich ziehen musste“ (S. 71).

Überhaupt fällt auf, dass Boyer versucht, auch die für sein Thema relevanten Entwicklungen und Strömungen in anderen politischen Parteien, wie eben beispielsweise der Sozialdemokratischen Partei, mit einzubeziehen: Dies belegen unter anderem seine Ausführungen zu dem auch bei den Sozialdemokraten latent vorhandenen Antisemitismus, zur sozialdemokratischen Wahlagitation und zur (ihr zumindest nahestehenden) Unterlehrerbewegung rund um Karl Seitz. Durch die Einflechtung konkreter Einzelbeispiele bei der Darstellung verschiedener Entwicklungen erhöht Boyer deren Anschaulichkeit zusätzlich. Hinzu kommt, dass er nach Möglichkeit versucht, einzelne Tendenzen anhand konkreter statistischer Daten nachzuzeichnen, was ihm bemerkenswert gut gelingt und wodurch er sich der Rankeschen Kritik des Harmonisierungsdrucks partiell entziehen kann. Es verwundert allerdings etwas, dass Boyer, angesichts der Fokussierung auf Lueger und Seipel, die Rede Seipels über Lueger anlässlich dessen 10. Todestages bzw. Seipels Artikel zu Lueger im Kontext der Lueger-Denkmal-Enthüllung 1926, außer Acht gelassen hat.4

Was angesichts der uneingeschränkt hohen inhaltlichen und argumentativen Qualität des Werkes allerdings umso negativer auffällt, sind die Schwächen der deutschen Übersetzung und die mangelhafte Redigierung durch den Verlag: So erscheinen im Text einzelne Formulierungen nicht adäquat5, manche sind ein Kind der Zeit, was allerdings nicht durch die Setzung von Anführungszeichen kenntlich gemacht wurde.6 Hinzu kommen gewisse Ungenauigkeiten7, Komma- und Syntaxfehler und ähnliches mehr. Dies alles fällt jedoch nicht in die Verantwortung des Autors, dessen Leistung dadurch nicht an Qualität verliert.

Die zweite aktuelle Lueger-Biographie wurde von der promovierten Juristin und Historikerin Anna Ehrlich verfasst, die in Wien auch als Stadtführerin tätig ist. Ihre Lueger-Biographie umfasst neun Kapitel von äußerst unterschiedlicher Länge, wobei sich der Einleitungsabschnitt mit der Genealogie der Familie Lueger bzw. der Kindheit, Jugend sowie der Schul- und Studentenzeit und Luegers Tätigkeit als Rechtsanwalt beschäftigt. Unter der Überschrift „Danton von der Landstraße“ wird dann sein Weg in die Politik, seine Konflikte mit den Liberalen und sein Karrieretiefpunkt 1882 skizziert, ehe in weiterer Folge in einem exkursähnlichen Abschnitt der soziale und politische Hintergrund der „Kulisse Wiens“ gesondert dargestellt wird. Danach erfolgt der Wiedereinstieg in das Jahr 1882 von dem aus Luegers politischer Aufstieg im Rahmen der verschiedenen Vereinigungen sowie sein Antisemitismus und Antifeminismus erörtert werden. Anschließend wird Luegers Kampf um das Amt des Wiener Bürgermeisters und die letztendliche Erlangung desselben geschildert, ehe danach einzelne Umsetzungen verschiedener Projekte während seiner Amtszeit überblicksartig skizziert werden. Nach einem kurzen Einschub zu Luegers Einfluss auf die staatliche Politik wird das Augenmerk auf den Privatmann Lueger gerichtet, wobei seine Lebensgewohnheiten, die Vorstellung einzelner Weggefährten, seine Beziehung zu Frauen und seine Einstellung zur Kunst zur Sprache kommen. Den Abschluss bildet Luegers öffentliches Sterben, die Inszenierung der Trauerfeierlichkeiten sowie der danach in noch verstärktem Ausmaß einsetzende Personenkult. Im Anschluss an ein Nachwort der Autorin folgt noch ein Anhang, der Luegers Sätze zur Erlangung des Doktorgrades, Lueger-bezogene satirische Passagen aus der Wochenschrift „Der Floh“, Felix Saltens Artikel in der „Neuen Freien Presse“ anlässlich der Einweihung des Lueger-Denkmals 1926 sowie eine chronologische Übersicht enthält.

Dieses Buch, welches im Großen und Ganzen das gängige Lueger-Bild wiedergibt, ist im Wesentlichen eine Montage aus Anekdoten und „Fakten“8, wodurch es – selbst oder gerade unter der Berücksichtigung seines populärwissenschaftlichen Stils – in seiner Charakteristik (und die von der Autorin veranstalteten Lesungen aus dem Buch unterstreichen dies9) mehr in die Nähe eines historisch-biographischen Romans, denn in die einer wissenschaftlichen Biographie zu rücken ist. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die Tatsache, dass nach Möglichkeit versucht wird, durch die Einflechtung von Zitaten, die zumeist durch Kursivsetzung kenntlich, nicht aber durch exakte Quellenangaben belegt werden (das Buch weist insgesamt lediglich 36 Fußnoten auf), Emotionen und Gedanken von Lueger zu vermitteln. Dass die Werke, aus denen diese Zitate stammen – vor allem das Erinnerungsbuch von Luegers Langzeitfreundin Marianne Beskiba – stark intentionalisiert sind, wird dabei von der Autorin außer Acht gelassen.

Insgesamt – und darauf wird schon im Vorwort durch die Ankündigung, „eine tiefgreifendere Untersuchung […] seiner [Luegers] Kindheits- und Jugendjahre“ (S. 10) vorzunehmen, verwiesen – nimmt die Behandlung von Luegers Privatleben breiten Raum ein, was dann allerdings deutlich auf Kosten der Darstellung von historischen Strukturen und Prozessen geht, wodurch man sich bisweilen an die Worte Claude Lévi-Strauss’ erinnert fühlt, wonach deren Erklärung mehr von dem bestimmt werde, was in den Darstellungen weglassen, als von dem, was hinein genommen werde. Dies trifft in besonderem Maße auf die Skizzierung der Leistungen unter der Bürgermeisterschaft Luegers zu; so wird in dem Kapitel „Die konstruktiven Jahre“ von der Errichtung der städtischen Gas- und Elektrizitätswerke, über die Schaffung des Wald- und Wiesengürtels bis hin zum Bau der Zweiten Hochquellenleitung und vielem anderen mehr eine Vielzahl von Aspekten der kommunalen Verwaltung jener Zeit angeführt, wobei die jeweilige Darstellung zumeist ein bis zwei Seiten umfasst, was unweigerlich die Gefahr der Simplifizierung in sich birgt. Die Verknappung in der Darstellung dieser Großprojekte irritiert umso mehr, da die Autorin an anderer Stelle Details von im Kontext der Thematik allenfalls untergeordneter Bedeutsamkeit verhältnismäßig ausführlich erörtert.10 Hinzu kommen leider einige Unachtsamkeiten11, die die Qualität der Arbeit etwas mindern.

Nach Durchsicht dieser zwei neuen Lueger-Biographien lässt sich also konstatieren, dass sich diese von der Qualität und Intention her, und damit wohl auch hinsichtlich des Zielpublikums, fundamental voneinander unterscheiden. John W. Boyer und seine Mitarbeiter haben eine ausgereifte und fundierte wissenschaftliche Strukturgeschichte erarbeitet, die den politischen und gesellschaftlichen Kontext anschaulich berücksichtigt und in die sie die Person Luegers adäquat eingebettet haben, wodurch sie sowohl dem interessierten Laien als auch dem Fachleser eine aufschlussreiche Lektüre bietet. Anna Ehrlich hat ein Lueger-Büchlein verfasst, welches – schön illustriert, leicht verständlich geschrieben und (anders als vorangegangene vergleichbare Lueger-Bücher) dem gegenwärtigen Erkenntnisstand angepasst – dem Bewohner oder Besucher Wiens, der an einer über das Maß eines Reiseführers hinausgehenden Darstellung des Lebens und Wirkens Karl Luegers interessiert ist, ebenso zu empfehlen ist, wie Liebhabern von historischen Romanen.

Anmerkungen:
1 Vgl. Böhlau Verlag: John W. Boyer, Karl Lueger (1844-1910). Christlichsoziale Politik als Beruf. [Werbeblatt], <http://www.boehlau.at/download/161791/978-3-205-78366-4_werbeblatt.pdf> (28.02.2010).
2 John W. Boyer, Culture and Political Crisis in Vienna. Christian Socialism in Power, 1897-1918, Chicago 1995; Ders., Political Radicalism in Late Imperial Austria. The Orgins of the Christian Social Movement, 1848-1897, Chicago 1981.
3 Jutta Seidel, Individual- und Kollektivbiographien: zwei Wege historischer Erkenntnis, in: Manfred Lechner / Peter Wilding (Hrsg.), Andere Biographien und ihre Quellen. Biographische Zugänge zur Geschichte der Arbeiterbewegung. Ein Tagungsbericht. Wien 1992, S. 9-15, hier S. 10.
4 Vgl. Ignaz Seipel, Lueger und sein Lebenswerke im Lichte unserer Zeit, in: Reichspost, 13. 3. 1920, S. 4f.; vgl. Ignaz Seipel, Unser Lueger, in: Reichspost, 19. 9. 1926, S. 2.
5 So beispielsweise, wenn von einem Zusammenschluss „durchgeknallter Rassisten“ (S. 43) die Rede ist.
6 So ist etwa zu lesen, dass sich Wien in einem „Würgegriff“ der Sozialdemokraten befunden habe (S. 411) bzw. die Stadt 1919 von „der roten Flut […] überschwemmt wurde“ (S. 414).
7 Neben zwei falschen Jahreszahlen (101, 112), der undifferenzierten Verwendung von „Sozialistische Partei“ und „Sozialdemokratische Partei“ bzw. „Sozialisten“ und „Sozialdemokraten“, der wechselnden Groß- und Kleinschreibung im Falle der Christlichsozialen Partei, irritiert auch die scheinbar willkürliche Anführung von Adelstiteln. Hinsichtlich der (Nicht-)Verwendung der österreichischen Sprachvarietät wirkt unter anderem das unter Anführungszeichen setzen des Wortes „maturierte“ (S. 74) oder die Verwendung des Wortes „Jura“ (S. 215) an Stelle von „Jus“.
8 Vgl. z.B.: Hayden White, Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses. Übersetzt von Brigitte Brinkmann-Siepmann und Thomas Siepmann, Stuttgart 1991.
9 Vgl. Anna Ehrlich, Termine für Lesungen von Anna Ehrlich, <http://www.anna-ehrlich.com/lesungen-termine.html> (7.3.2010).
10 So widmet sich die Autorin beispielsweise relativ eingehend der Geschichte des Theresianums (S. 21) sowie der Bedeutung einer österreichischen Trafik (S. 29f.).
11 So wird an einer Stelle ein Absatz kurz darauf wortwörtlich wiederholt (S. 160f.), im Abschnitt „Weggefährten“ scheint ein einzelner Satz zu Ignaz Mandl, der an dieser Stelle nicht weiter vorkommt, „stehen geblieben“ zu sein (S. 197), einmal wird Luegers Vater Leopold mit seinem Onkel Josef verwechselt (S. 13) und auch zwei Jahreszahlen sind falsch (S. 51, 82).

Kommentare

Replik von Otmar Binder auf Harald Gröllers Rezension zu John W. Boyer: Karl Lueger (1844-1910)

Von Binder, Otmar07.07.2010

Cuiusvis hominis est errare. Dass Cicero den Irrtum als ein Merkmal der conditio humana definiert – wer hätte diesen Trost nötiger als Übersetzerinnen und Übersetzer, die, konfrontiert mit einer Flut von Imponderabilien, der immensen Verantwortung gegenüber ihren Autoren und Autorinnen und deren Leserschaft gerecht werden müssen. In meiner Übersetzung von John Boyers großartigem Lueger-Buch habe ich, trotz heißem Bemühen, auch öfter vom Recht Fehler zu machen Gebrauch gemacht, als mir im Nachhinein lieb ist. Ich lasse zum Beispiel Lueger eine Rede im Jahr 1987 halten: deplorabel. Trotzdem ist es nötig, die Ausführungen des Rezensenten Harald Gröller etwas zurechtzurücken.

Zwei Grunderfordernisse werden von dieser Rezension nicht eingelöst.

Die erste gilt speziell für Rezensionen von Übersetzungen. Ohne Bezugnahme auf den originalen Text sind nur Mutmaßungen möglich. Wie heißt es an der betreffenden Stelle im Original? Diese Frage kommt dem Rezensenten noch nicht einmal in den Sinn. Bei einer detaillierten Analyse muss sie aber gestellt werden.

Zur Illustration dieses Punktes: Der Rezensent befindet, dass einzelne Formulierungen nicht adäquat erscheinen. Sein Beispiel: ein Zusammenschluss „durchgeknallter Rassisten“ an einer Stelle, wo von den Umtrieben von Georg von Schönerer die Rede ist. O-Ton: „a conventicle of distemperate racists“; das Schlüsselwort ist distemperate. Distemper = 1. Ill humour, bad temper … 2. Disturbed condition … b. Intoxication … d. An often fatal virus disease of dogs (= Staupe). Soviel zum Bedeutungsspektrum. Das an sich seltene Wort ist vom Autor mit Bedacht gewählt im Hinblick auf die Entwicklungen, die auf S. 105f. geschildert werden („in einer der absurdesten Episoden des österreichischen politischen Lebens …“). In welcher Hinsicht ist also die Übersetzung nicht adäquat?

Der Rezensent befindet weiters, “… manche [Formulierungen seien] ein Kind der Zeit, was allerdings nicht durch die Setzung von Anführungszeichen deutlich gemacht wird”. Wie will er wissen, dass es sich um „Kinder der Zeit“ handelt, die Anführungszeichen verdienen? „Würgegriff“ im Original „stranglehold“; die „rote Flut“ im Original „… in the face of the Red tide that swept Vienna”, jedes Mal ohne den mindesten Hinweis auf eine Änderung des Registers.

Der Rezensent konstatiert schließlich „Ungenauigkeiten“, wie die „undifferenzierte Verwendung von ‚Sozialistische Partei’ und ‚Sozialdemokratische Partei’“. Ich habe mich auch hier tatsächlich weitestgehend an das Original gehalten.

In dem runden Dutzend Besprechungen des Buchs von John Boyer findet sich keine einzige negative Bemerkung zur Übersetzung.

Eine ernstzunehmende Rezension, in der Sprache und Stil thematisiert werden, erfüllt jedoch noch mindestens eine weitere Grundbedingung: Sie hat sprachlich und stilistisch über jeden Tadel erhaben zu sein, um Vertrauen in die Urteilsfähigkeit des Rezensenten zu erzeugen. Dies ist hier nicht der Fall. Selbst in einer nachsichtigen Einschätzung addieren sich die Verstöße des Rezensenten gegen den deutschen Sprachgebrauch auf ein rundes Dutzend auf einer einzigen Seite.

Spricht Cicero in der ersten Hälfte des Zitats die Rechte des Irrenden an, so kommen anschließend dessen Pflichten zur Sprache. Wer sich von seinen Fehlern nicht distanziert, entpuppt sich als blöde: Cuiusvis hominis est errare, nullius nisi insipientis in errore perseverare.


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